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Afghanistan-Konferenz
Frauenrechtlerin fordert ehrliche Bestandsaufnahme

Auf der Afghanistan-Konferenz in London soll die neue Regierung ihre Vision für die Zukunft präsentieren, die internationale Staatengemeinschaft im Gegenzug ihre Unterstützung. Doch die Lage ist ernst: Mit dem Abzug der NATO-Kampftruppen fließt viel Geld ab, während die Taliban täglich angreifen.

Von Sandra Petersmann |
    Die afghanische Frauenrechtlerin Wazhma Frogh im Porträt
    Die afghanische Frauenrechtlerin Wazhma Frogh (ARD/Sandra Petersmann)
    Ist das Glas halb voll, halb leer, oder ganz leer? "Das kommt ganz darauf an", sagt Wazhma Frogh. Ihr Aufstieg zu einer der bekanntesten Frauenrechtlerinnen Afghanistans wäre ohne den Einmarsch vor 13 Jahren nicht möglich gewesen. Sie denkt mit glänzenden Augen an die große Wahleuphorie des Sommers zurück - obwohl die Machteliten das Ergebnis fälschten. "Der Kontakt zur Außenwelt, den wir seit 13 Jahren haben, hat uns verändert. Das gilt vor allem für die jungen Menschen. Ja, wir sind alle sehr frustriert. Aber ich bin mir sicher, dass wir niemand mehr akzeptieren werden, der die Macht mit der Waffe an sich reißen will."
    Da ist viel Wunschdenken mit im Spiel. Denn die gleiche Wazhma Frogh gibt zu, dass der neue afghanische Staat unter schweren Geburtsfehlern leidet: "Ich denke, der schwerste Fehler, den der Westen gemacht hat, war, einzelne Personen zu fördern, anstatt Institutionen aufzubauen. Der Westen hat sehr bewusst mit Kriegsfürsten zusammengearbeitet. Mit korrupten Männern, die für einen grausamen Bürgerkrieg verantwortlich sind, der den Taliban erst zu ihrer Macht verhalf. Diese alten, konservativen Eliten sind heute Millionäre, Minister und Vizepräsidenten. Der Westen hat den Kriegsfürsten zu neuer Stärke verholfen."
    "Wir schütten viel Zuckerguss über die Realität"
    Auch in anderer Hinsicht plädiert die junge Aktivistin für eine ehrliche Bestandsaufnahme in London: "Wir schütten ziemlich viel Zuckerguss über die Realität. Für den Westen waren die Frauenrechte doch vor allem ein Schlüssel, um die eigene Bevölkerung vom Afghanistan-Einsatz zu überzeugen. Nach dem Motto: Guckt mal, wie viele Rechte die afghanischen Frauen jetzt haben. Aber die Realität ist anders. Ja, wir können heute zur Schule gehen. Aber wir werden auf dem Weg getötet. Ja, wir dürfen arbeiten gehen. Aber wir werden vergewaltigt."
    Wazhma Frogh will nicht mit einem fehlerhaften Staat alleine gelassen werden, der seine Bürger nicht schützen kann. Der Rückzug läuft. Die afghanischen Sicherheitskräfte erleiden schwere Verluste und stehen vor allem im Süden stark unter Druck. Aber auch in Kabul greifen die Taliban immer öfter an - allein in den vergangenen zwei Wochen rund ein Dutzend Mal an. Dabei ist die Hauptstadt im Vergleich zu anderen Landesteilen eine Festung. Der neue afghanische Präsident Ashraf Ghani steht vor einer Herkulesaufgabe. Er hat kaum Spielraum. Finanziell ist er komplett vom Ausland abhängig. Und es hakt außerdem seit Wochen bei der Regierungsbildung, da Präsident Ghani nach der gefälschten Wahl im Sommer Macht an das Lager seines politischen Rivalen Abdullah abtreten musste.
    Alle Alarmglocken schrillen
    Ghani sagt: "Wir müssen dafür sorgen, dass sich jeder afghanische Bürger als Teil dieses Staates fühlt. Das ist unsere wichtigste Aufgabe. Und das geht nur, wenn wir für wirtschaftliche Entwicklung sorgen. Wenn Menschen Arbeit finden. Wenn die Bürger sich sicher und gerecht behandelt fühlen. Wenn sie Vertrauen zu ihrer Regierung und den Institutionen haben. Unsere menschlichen Verluste nach drei Jahrzehnten Krieg sind unermesslich. Wir sehnen uns nach Normalität."
    Es sind Milliarden ins Land geflossen. Vor allem für Soldaten und Waffen. Auch die zivile Hilfe wurde oft genug in den Dienst des Militärischen gestellt. Der bisher größte und teuerste NATO-Kampfeinsatz läuft Ende Dezember aus - ohne dass er dem Land Frieden gebracht hätte. Für die nächsten zwei Jahre ist eine kleine NATO-Ausbildungsmission vorgesehen, wobei sich die USA weitere Kampfeinsätze ausdrücklich vorbehalten. Vor allem die Entwicklung im Irak und in Syrien lässt alle Alarmglocken schrillen. Was das für die zivile Hilfe in Afghanistan bedeutet, steht - wie bisher auch - auf einem anderen Blatt.