Tobias Armbrüster: Afghanistan und Syrien, das sind zwei der ganz großen Krisenherde unserer Zeit. Zwei Länder, die von jahrelangen blutigen Kriegen gezeichnet sind, und Länder, für die es scheinbar keine richtige politische Lösung gibt. Und dennoch könnten die kommenden Wochen sowohl in Afghanistan als auch in Syrien entscheidend sein. Denn die USA wollen sich aus beiden Ländern militärisch verabschieden. Den Truppenabzug aus Syrien hat Donald Trump bereits angekündigt, und auch die in Afghanistan stationierten Soldaten will der US-Präsident nach Hause holen. Dazu haben die USA bereits Gespräche mit den Taliban-Rebellen begonnen. Wir wollen das alles besprechen mit dem Nahost-Experten und Publizisten Michael Lüders. Schönen guten Morgen, Herr Lüders!
Michael Lüders: Guten Morgen, Herr Armbrüster!
Armbrüster: So ein Abzug von US-Soldaten aus diesen beiden Krisenherden, ist das eine Chance oder eine Gefahr?
Lüders: Es ist zunächst einmal ein notwendiger Schritt in die richtige Richtung, denn eine Politik der militärischen Intervention ist nirgendwo in der Region erfolgreich gewesen seit den Terroranschlägen des 11. September 2001. Es ist allerdings so, dass das große Chaos, das wir hier beobachten können, vom Mittelmeer bis hin nach Pakistan, eines ist, das nicht so leicht zu ordnen sein wird. Die Amerikaner werden sich perspektivisch zurückziehen aus Afghanistan und Syrien.
Aber es werden dann Machtvakuen entstehen, die natürlich von anderen Akteuren gefüllt werden. Das bestehende Chaos wird sozusagen gefüllt durch andere Akteure, die dann auf anderer Ebene wiederum Unfrieden stiften. Das große Problem ist, dass die großen Kontrahenten in der Region nicht miteinander ernsthaft kommunizieren. Das betrifft insbesondere die USA und Russland, die natürlich die beiden entscheidenden externen Mächte sind, die auf diese Region Einfluss haben, und auch China.
"Das IS-Kalifat ist historisch am Ende"
Armbrüster: Da können wir gleich noch drüber sprechen. Sie haben jetzt gerade gesagt, die militärischen Ziele wurden nicht erreicht. Was ist denn mit dem Schlag gegen den "Islamischen Staat". Eine Terrororganisation, die es ja eigentlich so in dieser Form gar nicht mehr gibt?
Lüders: Ja, der "Islamische Staat" ist militärisch besiegt worden im Irak und in Syrien, insoweit, als es das Kalifat, also jenes Herrschaftsgebiet, das diese Organisation, der "Islamische Staat", gebildet hat über die Grenzen von Syrien und Irak hinweg, nicht mehr gibt. Das Kalifat ist historisch am Ende. Aber die Ursachen dafür, dass der Islamische Staat so stark werden konnte, beginnend im Irak, die bleiben ja nach wie vor bestehen, und das ist vor allem der im Grunde genommen nur noch auf dem Papier bestehende irakische Zentralstaat. Der ist zerfallen nach dem Sturz von Saddam Hussein 2003. Und die ehemalige Machtelite der Sunniten ist in den Untergrund gegangen.
Jetzt haben die Schiiten in Bagdad die Macht, die sich gut verstehen mit den Schiiten in Teheran, im Iran. Das alles ist natürlich nicht im amerikanischen Interesse. Aber der Islamische Staat ist nach wie vor eine Gefährdung, weil es gibt Millionen von Menschen, die keine Perspektive haben im Irak, in Syrien und den anderen kriegszerstörten Ländern in der Region, sodass uns dieses Problem erhalten bleiben wird.
Armbrüster: Was sagen Sie denn voraus? Wenn die USA sich aus Syrien zurückziehen, kommt dann der IS wieder, blüht der dann wieder auf?
Lüders: Der "Islamische Staat" wird es in Syrien schwer haben, wirklich Fuß zu fassen, weil er in der syrischen Bevölkerung wenig Rückhalt hat. Syrien war bis zum Ausbruch des Krieges 2011 ein sehr stark säkulares Land. Es ist der Krieg, und es sind vor allem die dschihadistischen Kämpfer, die vom Irak aus in Richtung Syrien vorgerückt sind, die diese unselige Ideologie nach Syrien hineingebracht haben. Der Islamische Staat ist für Syrien im Augenblick perspektivisch gesehen nicht die große Bedrohung. Die letzten Ortschaften werden vermutlich in den nächsten Wochen zurückerobert werden. Die große bange Frage, die sich viele stellen, ist, wie geht es denn nun weiter in diesem Land?
Der Versuch, einen Regimewechsel in Damaskus herbeizuführen, Assad zu stürzen, ist eindeutig gescheitert. Das bedeutet, dass die USA, die Europäische Union, die Golfstaaten, ihren Stellvertreterkrieg gegen Russland und den Iran de facto verloren haben. Das ist eine bittere Niederlage aus amerikanischer Sicht, und man versucht noch ein bisschen zu retten, was zu retten ist. Aber das wird nicht mehr gehen. Und es sind ausgerechnet die Golfstaaten, die großen Widersacher, die Waffen und Geld geliefert haben an die Aufständischen, an die Dschihadisten, die jetzt als Erste ihre Botschaften in Damaskus wieder eröffnen.
"Konflikt zwischen Israel und Iran wird auf syrischem Boden ausgetragen"
Armbrüster: Aber dann ist zumindest so viel klar, dass das Feld in Syrien quasi geklärt ist. Und auch, wenn das möglicherweise dem Westen nicht gefällt, da könnte wieder eine Phase der Stabilität anbrechen, wenn auch vielleicht nicht unter einem Regime, das man sich gewünscht hätte?
Lüders: Im Prinzip ja. Aber in der Praxis ist das dann ein bisschen komplexer, weil es finden ja die nächsten Konfliktlinien statt, auch wenn sie bei uns nicht so ganz wahrgenommen werden. Es ist vor allem der Konflikt zwischen Israel und dem Iran, der auf syrischem Boden massiv ausgetragen wird. Der scheidende israelische Generalstabschef Eizenkot gab zu Protokoll in mehreren Interviews, dass die Israelis in den letzten Jahren Tausende – wohlgemerkt Tausende – Angriffe in Syrien geflogen hätten gegen iranische Stellungen und Einheiten. Und lange Zeit haben die Iraner das mit sich machen lassen. Aber vor zwei Wochen haben sie erstmals zurückgeschossen, eine Rakete Richtung Israel abgefeuert, die dann über dem Golan abgefangen wurde. Und die iranische Führung hat ganz klar gesagt, wenn ihr weitermacht, in Israel uns zu beschießen in Syrien, schießen wir zurück.
Und im Augenblick versucht Russland offenbar, hinter den Kulissen einen Deal zu machen mit den Israelis, dass sie Syrien nicht mehr angreifen, nicht iranische Stellungen bombardieren. Und im Gegenzug soll der Iran nicht zu nahe heranrücken an die iranische Grenze. Aber ob das klappt oder nicht, ist völlig offen. Es ist auch nicht klar, wie sich die Türkei verhalten wird, die ja ihrerseits versucht, im Norden die Kurden zu bekämpfen, im Norden Syriens. Es ist also eine komplexe Gemengelage, bei der es keine einfachen Lösungen gibt.
"Es gibt keine andere Alternative, als mit den Taliban zu verhandeln"
Armbrüster: Gut. So weit also zum Fall Syrien. Dann haben Sie ganz am Anfang unseres Gesprächs gesagt, ein großes Problem bei beiden Konflikten, sowohl in Syrien als auch in Afghanistan ist, dass die beteiligten Akteure, vor allen Dingen die beteiligten Mächte nicht richtig miteinander kommunizieren. Jetzt haben wir zumindest im Fall Afghanistan die neue Entwicklung, dass die USA sehr wohl mit den Taliban-Rebellen sprechen. Ist das ein Zeichen für Hoffnung?
Lüders: Es ist, so furchtbar diese Bewegung der Taliban ist, es gibt keine andere Alternative, als mit den Taliban zu verhandeln. Und das geschieht seit einigen Wochen in der katarischen Hauptstadt Doha. Es sind Verhandlungen, die es in ähnlicher Form schon vor einigen Jahren gegeben hat. Damals sind sie allerdings gescheitert. Die USA sind bereit anzuerkennen, dass sie ihren Krieg gegen die Taliban nicht gewinnen können. Die Taliban wurden gestürzt nach den Terroranschlägen des 11. September 2001, weil sie Osama bin Laden beherbergt hatten. Aber heute sind die Taliban wieder so stark, wie sie es waren, als die damals gestürzt wurden. Sie sind die entscheidende politische Kraft. Und es spricht ja für sich, dass die Amerikaner mit den Taliban verhandeln und dabei die Regierung in Kabul außen vor lassen, was diese natürlich sehr erbittert.
Dieses Verhalten der Amerikaner ist einerseits sehr pragmatisch, andererseits stellt es die Verbündeten natürlich vor große Probleme, zum Beispiel auch die Bundesregierung, die ja seit Jahren ebenfalls militärisch präsent ist in Afghanistan mit der Bundeswehr. Aber niemand hat es der Mühe für wert befunden, mit den Verbündeten darüber zu reden. Und nun stellt sich für die Deutschen natürlich die Frage, was tun. Und wahrscheinlich wird dann auch Deutschland abziehen. Und es stellt sich dann unterm Strich gesehen natürlich die Frage, was bringt es eigentlich, als Ergebnis militärischer Intervention, sich dort vor Ort mit der Bundeswehr oder anderen militärischen Verbänden zu engagieren, wenn am Ende doch politisch verhandelt werden muss. Das hätte man ja auch schon früher haben können.
"Ein Kompromiss, der die Taliban an der Macht beteiligt"
Armbrüster: Jetzt ist ja, Herr Lüders, der US-Verteidigungsminister zu einem Überraschungsbesuch nach Kabul geflogen, um wahrscheinlich genau über diese Gespräche auch zu reden mit seinen Gesprächspartnern dort in der afghanischen Regierung. Ist das denn für Sie vorstellbar, dass die USA mit den Taliban sozusagen einen Deal hinbekommen, dass es tatsächlich weiterhin eine Zentralregierung, eine wie auch immer gewählte, in Kabul geben wird und gleichzeitig aber auch die Taliban ihre Macht für sich beanspruchen können?
Lüders: Das ist die entscheidende Frage, ob es die Amerikaner zulassen, dass die Taliban wieder die Macht in Kabul übernehmen. Das ist bislang die rote Linie. Die Amerikaner können damit leben, wenn die Taliban die meisten Provinzen in Afghanistan kontrollieren, aber eben nicht die Hauptstadt. Letztendlich wird es darum gehen müssen, einen Kompromiss zu finden, der die Taliban an der Macht beteiligt in Kabul. Wie das aussieht, ist gegenwärtig völlig offen.
Man sollte auch nicht annehmen, dass jetzt notwendigerweise die USA sich vollständig militärisch zurückziehen. Sie werden sich andere Optionen offen lassen. Es gibt seit längerem Verhandlungen mit verschiedenen sehr mächtigen Söldnerorganisationen, allen voran mit Eric Prince, dem Chef der Organisation Blackwater, die im Irak viel Unheil eingerichtet hat, heute unter dem Namen Academi firmiert. Und er ist in Verhandlungen, Eric Prince, mit der amerikanischen Regierung, um mit privaten Armeen, mit privaten Militärverbänden in Afghanistan, falls erforderlich, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.