Die Taliban haben inzwischen auch Kabul erreicht, Präsident Ghani ist geflüchtet. Es gehen Bilder um die Welt, die Taliban-Vertreter im Präsidentenpalast zeigen. Immer wieder war die Verlängerung des insgesamt 20 Jahre andauernden Afghanistan-Einsatzes mit dem Argument begründet worden, das Erreichte dürfe nicht verspielt werden – etwa liberale Fortschritte und Frauenrechte. Ein Argument, das für die US-Regierung und US-Präsident Joe Biden zuletzt nicht mehr zählte. Die Verbündeten folgten den Abzugsplänen mit den nun sichtbaren Folgen.
Aus Sicht des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich ist es in Afghanistan nicht gelungen, eine soziale und friedliche Entwicklung mit zu unterstützen. Zwar sei Afghanistan "zum jetzigen Zeitpunkt kein Hort mehr für internationale Terrornetzwerke" – aber auch das könne sich in Zukunft ändern.
Das Interview im Wortlaut:
Sandra Schulz: "Nichts ist gut in Afghanistan." Hatte Margot Käßmann doch recht?
Rolf Mützenich: Sie hat auf jeden Fall in der Hinsicht recht, dass es in Afghanistan nicht gelungen ist, eine soziale, eine friedliche Entwicklung mit zu unterstützen. Dies hat mit der regionalen Entwicklung zu tun, mit der innenpolitischen Entwicklung. Aber Afghanistan ist zumindest zum jetzigen Zeitpunkt kein Hort mehr für internationale Terrornetzwerke. Dass das in Zukunft wieder passieren könnte, das kann ich nicht ausschließen.
Schulz: In Berlin steht jetzt dieser Evakuierungseinsatz der Bundeswehr im Fokus. Darüber hat die Kanzlerin ja gestern Sie und die anderen Fraktionsvorsitzenden informiert. Warum läuft das jetzt alles auf den allerletzten Drücker und auch unter diesen dramatischen Umständen?
Mützenich: Es ist in der Tat so, dass die Bundeskanzlerin, aber auch die beteiligten Ressorts gestern alle Fraktionsvorsitzenden über die Pläne informiert hat und insbesondere darum gebeten hat – und das ist auch mein Appell an die anderen Fraktionen -, dass wir dann in den nächsten Tagen, wenn der Deutsche Bundestag zusammenkommt, ein rechtssicheres Mandat beschließen. Das ist notwendig, das ist möglich nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz, das auch nachträglich zu tun. Dass jetzt die ersten Evakuierungen stattgefunden haben, ist gut. Und dass von der kleinen Zahl, die auf jeden Fall wachsen muss - bisher glaube ich 1.900 Afghaninnen und Afghanen in Deutschland ist - das ist auch eine Entwicklung, die wir zur Kenntnis nehmen müssen.
Evakuierungen waren längerfristig geplant
Schulz: Herr Mützenich, Sie gehen ja davon aus, dass mehr als 10.000 Menschen aus Afghanistan in Sicherheit gebracht werden müssen. Wird das jetzt überhaupt noch gehen?
Mützenich: Ich glaube – und das ist auch mein Appell noch mal an die Bundesregierung, an die Landesregierungen -, dass wir so viele Menschen aufnehmen. Es geht ja nicht nur um die Ortskräfte, die mit der Bundeswehr zusammengearbeitet haben, sondern auch mit der GIZ, mit privaten Organisationen. Aber – und das sage ich sehr deutlich – ich erwarte auch, dass Frauenrechtsaktivistinnen und Menschenrechtsanwälte auch hier in Deutschland aufgenommen werden und auch Schutz finden.
Schulz: Das lässt sich jetzt fordern, aber wir haben jetzt von vor Ort wirklich diese akuten Hilferufe. Der Verein Patenschaftsnetzwerk, der sich für die Ortskräfte einsetzt, der meldet sich mit dem Alarmruf, die Hoffnung auf Evakuierung, die schwinde mit jeder Sekunde. – Warum hat man diese Menschen im Stich gelassen?
Mützenich: Man hat diese Menschen nicht in dem Sinne im Stich gelassen, dass wir nicht eine Evakuierung auch geplant hatten. Aber ich glaube, niemand – und das ist ja in Ihrem Bericht auch deutlich geworden – konnte unterstellen, dass die Machtübernahme und die Kapitulation eines großen Teils der afghanischen Regierung so schnell stattfindet. Entweder sind von Seiten der Taliban diese Kräfte überrannt worden, oder es gibt im Hintergrund letztlich Verabredungen, dass diese Kapitulation so erfolgt ist, wie sie erfolgte. Wir müssen jetzt alles daran setzen, in diesen Stunden und diesen Tagen Menschen aus Kabul, aber auch aus anderen Orten soweit es geht auch nach Deutschland, nach Europa, aber auch in andere Länder zurückzuführen, und das tun wir ja auch mit den Partnern.
"Konfuses Abstimmungsverhalten der Grünen zu Afghanistan"
Schulz: Aber ich hänge mich noch mal daran, dass Sie sagen, das muss jetzt alles passieren. Ende Juni haben die Grünen beantragt, das Ortskräfte-Verfahren zu beschleunigen. Das ist im Bundestag abgelehnt worden, auch mit Stimmen aus Ihrer Fraktion. Warum?
Mützenich: Weil das ein Schauantrag gewesen war. Die Grünen sind in Landesregierungen. Bis vor wenigen Tagen haben die Grünen der Rückführung von Straftätern auch zugestimmt. Sie haben letztlich alles dafür getan in der Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenminister. Und gucken Sie sich das konfuse Abstimmungsverhalten der Grünen zu Afghanistan an. 14 Ja, 14 Enthaltungen, 32 Nein. Ich finde, das ist Konfusität und das spricht überhaupt nicht für eine klare Politik, und deswegen ist dieser Antrag auch zurecht abgelehnt worden.
Schulz: Ich wollte jetzt vor allem über Ihr Abstimmungsverhalten sprechen und nicht über das der Grünen. Fakt ist doch aber, wenn man das bei Zeiten beschleunigt hätte, dass wirklich Menschenleben gerettet worden wären, und zwar die Leben von Menschen, die die Bundeswehr vor Ort über Jahre unterstützt haben.
Schulz: Das stelle ich gar nicht in Zweifel und deswegen haben wir ja auch frühzeitig gesagt, die Abschiebungen zu stoppen und letztlich auch die Visaerteilung hier in Deutschland zu unternehmen. Das ist auf Widerstände getroffen, sowohl aus der Bundesregierung, aber auch den Landesregierungen. Umso mehr bin ich jetzt froh, dass endlich zuerst die Rückführungen passieren und dann hier in Deutschland die notwendigen Verfahren.
"Ich sage Aufarbeitung im Parlament zu"
Schulz: Sie sagen, Sie stellen das gar nicht in Zweifel, dass das eine Entscheidung ist, die Menschenleben gekostet haben kann. Wenn wir noch mal auf die Entscheidungsprozesse schauen, würde ich mit Ihnen gerne noch mal zusammen hören, was Anfang Juni der SPD-Politiker, der von Ihrer Partei gestellte Außenminister Heiko Maas gesagt hat:
O-Ton Heiko Maas: "Ich will man sagen: All diese Fragen haben ja die Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban in Afghanistan das Zepter in der Hand haben. Das ist nicht die Grundlage meiner Annahmen."
Schulz: Jetzt sprechen wir einige Wochen später. Die Taliban haben das Zepter in der Hand. Das ist doch eine Fehleinschätzung gewesen, die, wie Sie uns gerade schon gesagt haben, Menschenleben gekostet hat. Muss Heiko Maas das mit seinem Rücktritt politisch verantworten?
Mützenich: Das ist ja keine Fehleinschätzung des Bundesaußenministers alleine, sondern der Dienste jeder Partnerregierung. Selbst in den USA hat niemand mit dieser Situation gerechnet. Dass man das dem Außenminister jetzt in die Schuhe schieben will, das empfinde ich als perfide. Wir werden alles dafür tun, in diesen Stunden Menschen zu evakuieren, und die Aufarbeitung und letztlich auch Fehleinschätzungen, die politischerseits in den letzten Jahren zu Afghanistan gemacht wurden, müssen dann auch erfolgen. Ich sage zu, dass im Parlament auch diese Aufarbeitung stattfindet, und dazu gehört dann natürlich auch, ob ein Momentum verpasst worden ist, wo möglicherweise diese Entwicklung in eine ganz andere Richtung gegangen ist. Es war ein großer Fehler, dass damals George W. Bush nicht nur in Afghanistan so militärisch gehandelt hat, wie er es getan hat, sondern direkt in den Irak gegangen ist. Da kann ich mich noch an die eine oder andere Politikerin in Deutschland erinnern, die dies unterstützt hat. Ich muss das schon sagen, Frau Schulz! Kurt Beck hat 2006 gefordert, mit den Taliban zu verhandeln in einem Schwächemoment der Taliban, und ich finde, das gehört zu einer Aufarbeitung genauso mit dazu.
Bereitschaft zur Kapitulation unterschätzt
Schulz: Okay. – Jetzt sehen wir einen Stärkemoment der Taliban. Ich wollte noch klarstellen, dass ich Heiko Maas nichts in die Schuhe schieben möchte, sondern dass ich Sie gefragt habe nach politischer Verantwortung. – Wir haben ja die Informationen oder nach ARD-Informationen gab es Warnungen aus der Botschaft in Kabul. Könnte es auch sein, dass dieses Risiko, das sich jetzt so rasant realisiert hat, dass das sehr wohl gesehen wurde, dass die Lage aber geschönt wurde?
Mützenich: Ich glaube nicht, dass die Lage geschönt wurde, sondern es ist mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die wir noch in Kabul hatten, und insbesondere ja auch mit den Diensten – das muss man ja auch sagen; die werden ja gerade auch versucht, dass sie evakuiert werden – immer wieder ein Lagebild zu erstellen. Ich glaube, was komplett unterschätzt worden ist, dass offensichtlich die einzelnen Gouverneure, aber auch Militäreinheiten der afghanischen Sicherheitskräfte so schnell bereit gewesen sind zu kapitulieren. Ob es dann da politische Verabredungen gegeben hat, die uns nicht bekannt waren, auch das muss aufgearbeitet werden.
Schulz: Rolf Mützenich, es ist wie immer: Die Zeit rast. Aber eine Frage muss ich Ihnen noch stellen. Jetzt ist vollkommen klar, dass diese Entwicklungen in Afghanistan neue Flüchtlingsbewegungen nach sich ziehen werden. Die grüne Kanzlerkandidatin Baerbock schlägt eine europäische Zusammenarbeit vor, Menschen aufzunehmen. Muss das jetzt vorbereitet werden?
Mützenich: Ja, in der Tat! Ich meine, das ist ja auch nichts Neues, dass wir uns seit Jahren versuchen, in Europa zu verabreden. Wir werden Binnenflüchtlinge sehen, aber insbesondere Flüchtlinge in Richtung Pakistan und dem Iran. Hier ist Hilfe notwendig. Aber warum sollen sich auch nicht die NATO-Länder mal zusammentun, und das ist auch meine Aufforderung an den NATO-Generalssekretär. Das ist ja nicht alleine eine militärische Organisation, sondern eine politische. Und vielleicht ist die Durchsetzungskraft hier viel höher, international stärker zusammenzuarbeiten, damit genügend Flüchtlinge in ganz vielen Ländern auch aufgenommen werden.
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