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Afghanistan
Taliban entblößen die Schwäche des Staates

Afghanistans politische Lage ist brüchig. Die Taliban terrorisieren nach wie vor das Land, die Menschen leben in Angst. Die Regierung bekommt die Lage nicht in den Griff - auch weil sie sich mit einem internen Machtkampf beschäftigt.

Von Sandra Petersmann |
    Einsatzkräfte nach dem Anschlag der Taliban auf das afghanische Parlament in Kabul.
    Ein Bild der Zerstörung nach dem Angriff der Taliban auf das Parlament in Kabul. (picture alliance / dpa / Jawad Jalali)
    Der junge, drahtige Mann mit dem blauen Barett steht im Blitzlichtgewitter und strahlt. Alle Kameras sind auf Esa Khan gerichtet. Der Soldat der afghanischen Armee ist zum nationalen Helden aufgestiegen, weil er das Parlament gegen eine Attacke der Taliban verteidigte: "Als die Bombe am Eingang explodierte, dachte ich mir sofort, dass das ein organisierter Angriff ist. Ich sah die Feinde auf uns zukommen und fing an zu schießen. Ich habe sechs von ihnen getötet, den siebten hat ein anderer erschossen."
    Zur Belohnung schenkt ihm Präsident Ashraf Ghani eine neue Wohnung, von Vizepräsident Abdul Rashid Dostum bekommt der Soldat ein neues Auto. Die Regierung braucht Helden wie Esa Khan, um dem Volk zu demonstrieren, dass sie die Lage unter Kontrolle hat. Viele Bürger zweifeln - wie Rezwan aus Kabul, der in der Nähe des angegriffenen Parlaments lebt. "Wir haben jeden Tag Angst. Hier ein Terroranschlag, da ein Terroranschlag. Wir wollen, dass die Regierung ihrer Pflicht nachkommt und uns schützt."
    Machtkampf in der Regierung
    Rückblick. Es ist Montag, der 22. Juni 2015. Ein Selbstmordattentäter zündet seine Autobombe im Eingangsbereich des stark gesicherten Parlamentsviertels, um einem Killer-Kommando den Weg zu bahnen. Im Parlament will sich zeitgleich der designierte neue Verteidigungsminister Masoom Stankezai den Abgeordneten präsentieren. Stanekzai ist schon der dritte Kandidat, das wichtige Amt ist seit Wochen unbesetzt. Das Parlament selber arbeitet durch einen Erlass des Präsidenten. Eigentlich müsste es Neuwahlen geben. In der Regierung der nationalen Einheit tobt ein Machtkampf zwischen dem Lager von Präsident Ghani und dem Lager von Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah. Diese Einheitsregierung ist keine Liebesheirat, sondern eine politische Zwangsehe, die die USA nach der gefälschten Präsidentschafswahl vor einem Jahr durchgesetzt haben.
    Als die Autobombe vor dem Parlament explodiert und das Taliban-Kommando vorrückt, sterben eine Mutter und ihre kleine Tochter, rund 40 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. Im Sitzungssaal zerbersten Fensterscheiben, dichte Rauchschwaden vernebeln die Sicht. Das afghanische Fernsehen überträgt die panischen Schreie im Parlament live. Ein Propaganda-Erfolg für die Taliban, denen es immer wieder gelingt, die Schwäche des afghanischen Staates zu entblößen. In der zur Festung ausgebauten Hauptstadt Kabul. Und in anderen Landesteilen. Der Südafrikaner Nicholas Haysom ist der UN-Sondergesandte für Afghanistan. Er fasst die Lage so zusammen: "Die afghanischen Sicherheitskräfte sind ohne Zweifel überdehnt, seit sie die Sicherheitsverantwortung übernommen haben. Wir erleben im ganzen Land mehr Gewalt, auch in Gebieten, die vorher als sicher galten. Die Regierungskontrolle in der Nähe der strategisch wichtigen Stadt Kundus ist neu herausgefordert worden."
    Menschen fliehen aus Kundus
    Das ist eine diplomatische Formulierung für schwere Kämpfe. Kundus ist die Hauptstadt der gleichnamigen nordafghanischen Provinz, in der die Bundeswehr bis Oktober 2013 stationiert war. Insgesamt zehn Jahre lang. Jetzt sind in Kundus wieder Menschen auf der Flucht. Die Taliban sind in der Offensive, die Sicherheitskräfte versuchen sie zurückzuschlagen. Auch Kämpfer aus Pakistan, Zentralasien, aus dem Kaukas und aus dem arabischen Raum sind vor Ort. Einige bekennen sich zum selbsternannten Islamischen Staat. Eine neue Entwicklung, die der UN-Sondergesandte Nicolas Haysom ernst nimmt: "Es bleibt die Sorge, dass der Islamische Staat in Afghanistan Fuß fassen will. Diese Entwicklung verlangt nach einer größeren regionalen Zusammenarbeit, um der gemeinsamen Bedrohung zu begegnen."
    Damit ist vor allem Pakistan gemeint. Die afghanische Taliban-Bewegung scheint den selbsternannten Islamischen Staat als Konkurrenten ernst zu nehmen. In Afghanistan gebe es "nur Platz für eine Flagge und für eine Führung", um einen islamischen Staat zu errichten, heißt es in einem Brief, den die in Pakistan untergetauchte Taliban-Spitze von Mullah Omar vor kurzem an IS-Führer Abu Bakr Al Baghdadi adressiert hat. Im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet berichten mehrere Stammesälteste über Kämpfe zwischen rivalisierenden Taliban und Taliban-Abtrünnigen, die zum IS übergelaufen seien. Die Bevölkerung gerät einmal mehr zwischen die Fronten: "Die Kämpfer lassen sich von der Brutalität des Islamischen Staates inspirieren, für die Zivilisten wird es immer schlimmer", sagt die afghanische Menschenrechtlerin Sima Samar.
    Je schwächer die Zentralregierung in Kabul auftritt, desto stärker bestimmen bewaffnete lokale Machthaber die afghanische Politik. Fast vier Jahrzehnte Gewalt haben viele Kriegsfürsten produziert. Fast alle haben Verbündete im Ausland. Afghanistans Krieg ist ein Bürgerkrieg und ein Stellvertreterkrieg ausländischer Kräfte.