Archiv

Afghanistan
Trickserin gegen die Taliban

Als die Taliban regierten, durften Mädchen nicht in die Schule gehen. Aqelah Hossain Dad und ihre beiden Schwestern gründeten eine Untergrundschule. Auch nach dem Ende der Islamisten-Herrschaft müssen sie gegen das Vorurteil ankämpfen, Bildung für Frauen stehe im Widerspruch zum Islam.

Von Marie Wildermann |
    Die afghanische Frauenrechtlerin Aqelah Hossain Dad
    Aqelah Hossain Dad ging als Kind für Schulbildung in den Untergrund (Deutschlandradio / Marie Wildermann)
    Sie ist eine zierliche Frau, kinnlange schwarze Haare, dunkelblaues T-Shirt. Die 33-jährige Aqelah Hossain Dad aus Herad ist nach Berlin gekommen, um über die Situation der Frauen in Afghanistan zu berichten. Mehr als die Hälfte aller afghanischen Frauen sind Analphabetinnen, sagt sie, also im Schnitt kann nur jede zweite Frau lesen und schreiben. Und nur jede fünfte Frau sei erwerbstätig. Weil das Gefälle zwischen Stadt und Land extrem hoch ist, werde man in den Dörfern so gut wie keine Frau finden, die lesen und schreiben könne oder berufstätig sei.
    Offiziell ist die Herrschaft der Taliban seit 2001 vorbei, aber Einfluss haben sie noch immer, jene rückwärtsgewandten Männer, die Mädchen und Frauen von jeglicher Bildung und vom öffentlichen Leben ausschließen wollen. Aqelah war 11 Jahre alt und in der fünften Klasse, als die Taliban 1996 an die Macht kamen. Ab sofort war es für Mädchen verboten, zur Schule zu gehen. Ihre beiden Brüder konnten weiter zum Unterricht gehen, aber sie und die beiden Schwestern saßen zu Hause herum, lasen jeden Roman, den sie finden konnten. Bis es ihnen reichte.
    "Als die Taliban in Afghanistan an die Macht kamen, haben meine Schwestern und ich - eine ist jünger, eine älter als ich - Schulunterricht für uns Mädchen organisiert. Meine Schwester war im Iran schon 9 Jahre in die Schule gegangen und hatte ein Training für angehende Lehrerinnen absolviert. Anfangs waren es nur die Nachbarmädchen und wir. Begonnen haben wir zu fünft."
    "Es kamen immer mehr Mädchen"
    Aqelah und ihre Familie hatten mehrere Jahre im Iran als Flüchtlinge gelebt, doch Mitte der 90er-Jahre mussten sie zurück nach Afghanistan - genau zu jener Zeit, als die Taliban die Macht übernommen hatten. Der Unterricht, den Aqelah und ihre Schwestern organisiert hatten, fand anfangs zu Hause bei den Eltern statt. Aber dann kamen immer mehr Mädchen aus der Nachbarschaft. Aus dem kleinen privaten Zirkel wurde eine geheime Untergrund-Mädchenschule
    "Es kamen immer mehr Mädchen, irgendwann waren wir 50 und es ging einfach nicht mehr bei meinen Eltern, das Haus war dafür viel zu klein. Also sind wir umgezogen in eine Art Schuppen, haben den hergerichtet und den Mädchen gesagt, sie sollen sagen, dass wir dort den Koran lernen."
    Am Ende waren es 80 Mädchen, die sich jeden Tag zum Unterricht getroffen haben, vier Stunden täglich, fünf Jahre lang haben sie die Taliban ausgetrickst. Bis zu deren Sturz 2001.
    Von Schülerinnen zu Frauenrechtlerinnen
    Die Untergrund-Schule hat Aqelah und die Mädchen geprägt - viele haben später studiert, engagieren sich heute gesellschaftlich und politisch, zum Beispiel im Neswan Frauenzentrum, das Aqelah vor einigen Jahren mitgegründet hat: ein Zentrum für Frauen in Herad, das Alphabetisierungskurse anbietet, Computer- und Englischkurse, berufliche Bildung. Das Neswan Frauenzentrum will Mädchen und Frauen über ihre Rechte aufklären, sie für eine akademische und politische Karriere vorbereiten. Alles ohne staatliche Gelder.
    "Als wir uns entschieden hatten, so ein Zentrum zu gründen, war klar, dass wir dafür Geld brauchen. Meine älteste Schwester ist nach Kabul gefahren, hat verschiedene Stellen aufgesucht, aber niemand hat sie ernst genommen. Dann haben wir jemanden kennengelernt, die mit der DAI arbeitet, der Deutsch-Afghanischen-Initiative, und darüber haben wir die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes kennengelernt, die uns unterstützen."
    Mädchen mit weißem Kopftuch sitzen in Schulbänken. Vor ihnen auf den Tischen liegen Taschen in Unicef-blau.
    Schulen für Mädchen sind in Afghanistan noch immer nicht selbstverständlich (AFP/NOOR MOHAMMAD)
    Die Taliban sind zwar schon lange nicht mehr an der Macht, aber verschwunden ist ihr Einfluss trotzdem nicht, sagt Aqelah Hossain Dad:
    "Die Taliban sind in Dörfern und kleinen Städten unglaublich stark, überall setzen sie ihre Vorstellungen durch."
    Regierungsmitglieder und Taliban sind beide Paschtunen
    In der Islamischen Republik Afghanistan gilt zwar auf dem Papier die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, aber laut Artikel 3 der afghanischen Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Unter den Bedingungen patriarchaler Stammesgesetze, die in vielen Bereichen identisch sind mit den Scharia-Gesetzen, sind besonders Mädchen und Frauen in einer extrem benachteiligten Position. Statt in die Schule zu gehen, statt eine Ausbildung zu machen oder zu studieren, werden die Mädchen üblicherweise schon in der Pubertät verheiratet und haben ab dann für die Familie zu sorgen.
    "Es ist auch ein großes Problem, dass die Regierung nie den Einfluss der Taliban zurückgedrängt hat."
    Es liege wohl daran, meint Aqelah Hossain Dad, dass beide - Regierungsmitglieder und Taliban - der gleichen Ethnie angehören, den Paschtunen. Sie selbst ist eine Hazara, eine Minderheit, die wie alle Minderheiten in Afghanistan ausgegrenzt werden. Sehr häufig seien Mädchen und Frauen in Afghanistan Opfer häuslicher Gewalt, sagt sie. Juristisch dagegen vorzugehen wage kaum eine, obwohl es ein Gesetz zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen gibt - aber auch das existiere nur auf dem Papier.
    Es gibt noch so unendlich viel zu tun, sagt Aqelah Hossain Dad. Aber dass Veränderung möglich ist - das haben sie und ihre Schwestern mit der Untergrundschule für Mädchen schließlich schon einmal bewiesen. Die Frauenrechtlerin will sich zukünftig mehr um die politische Vernetzung kümmern. Sie ist viel unterwegs, vor allem zwischen Afghanistan und Italien, denn in Italien ist sie verheiratet. In Zukunft wird sie auch häufig nach Deutschland kommen. Seit Kurzem arbeitet sie als Referentin für die Frauenrechtsorganisation Terre Des Femmes.