Nach dem Abzug der internationalen Truppen nach 20 Jahren in Afghanistan haben die radikalislamistischen Taliban fast das gesamte Land wieder unter Kontrolle. Unklar ist die Lage im Pandschir-Tal, in das sich Widerstandskämpfer und die Reste der afghanischen Armee zurückgezogen haben. Angaben der Taliban, wonach sie die vollständige Kontrolle über das Tal errungen hätten, widerspricht der Widerstand. Angeführt wird dieser vom ehemaligen Vizepräsident Amrullah Saleh und Achmad Massud, Sohn des legendären Anführers der Nordallianz und Taliban-Gegners Achmad Schah Massud.
In den übrigen Provinzen und in der Hautpstadt Kabul beginnen die Taliban ihre Macht dagegen zu manifestieren und zu institutionalisieren. So tragen unter anderem in Kabul immer mehr Taliban-Kämper offizielle Uniformen, wie
ARD-Fernsehjournalist Markus Spieker im Dlf berichtete
. Am augenfälligsten wird der Versuch der Islamisten, ihre Herrschaft zu institutionaliseren jedoch in der Ernennung einer Interimsregierung am 7. September 2021. Deren Besetzung und erste Entscheidungen nähren die Zweifel an den moderaten Tönen, die die Taliban nach ihrer Machtübernahme anschlugen.
Drei Wochen nach der Einnahme von Kabul stellten die Taliban Teile ihrer Übergangsregierung vor. Entgegen ersten Ankündigungen ist diese alles andere als inklusiv. Alle 33 benannten Regierungsmitglieder sind Taliban-Mitglieder und überwiegend Paschtunen. Der Afghanistan-Experte der International Crisis Group, Ibraheem Bahiss, schrieb auf Twitter, soweit er dies beurteilen könne, seien bis auf zwei Tadschiken und einen Usbeken alle Postenträger Paschtunen.
Angehörige anderer Volksgruppen und anderer politischer Gruppierungen sowie Frauen wurden nicht berücksichtigt. "Das ist keine Regierung, die das afghanische Volk repräsentiert", sagte
ARD-Südostasien-Korrespondent Gabor Halasz
im Dlf. Die Frage der Inklusivität ist relevant, da viele westliche Regierungen davon abhängig machen, ob sie die künftige Regierung anerkennen und das Land, das massiv von ausländischen Hilfsgeldern abhängig ist, unterstützen werden. "Mit so einem Taliban-Kabinett wird die Welt Afghanistan nicht mal mit einem Dollar helfen", schrieb ein afghanischer Journalist auf Twitter.
Als amtierenden Vorsitzenden des Ministerrats, was dem Amt eines Regierungschefs gleichkommt, wurde Mullah Mohammed Hassan Achund benannt. Er ist eines der Gründungsmitglieder der Taliban, war zuletzt im Führungsrat, der Rahbari Schura, und gilt als enger Vertrauter von Taliban-Führers Haibatullah Achundsada. Während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 war Achud bereits Außenminister und stellvertretender Premierminister. Er war ein enger Verbündeter und politischer Berater von Mullah Omar, dem Gründer und ersten Anführer der Taliban. Achund gilt als gemäßigt, steht aber auf der Schwarzen Liste der Vereinten Nationen.
Zu einem von zwei Stellvertretern Achunds wurde Mullah Abdul Ghani Baradar ernannt. Er wurde nach seiner Freilassung aus pakistanischer Haft im Jahr 2018 das öffentliche Gesicht der Islamisten. Als deren Vizechef hatte er maßgeblich die Verhandlungen mit den USA in der katarischen Hauptstadt Doha geleitet. Baradar unterzeichnete schließlich 2020 für die Taliban auch das Abkommen mit den USA, in dem unter anderem das Ende des US-geführten Militäreinsatzes in Afghanistan vereinbart wurde.
Besonders brisant ist die Besetzung des Innenminister-Postens mit Siradschuddin Hakkani. Der dritte Vizechef der Taliban ist Anführer des berüchtigten Hakkani-Netzwerks, das für einige der grausamsten Anschläge in Afghanistan verantwortlich gemacht wird. Die USA suchen den etwa Mitte-40-jährigen Hakkani als Terroisten und haben ein siebenstelliges Kopfgeld auf ihn ausgelobt.
Weitere Schlüsselposten des Kabinetts wurden an führende Vertreter der Miliz vergeben. Mullah Jakub, der Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar, wurde zum Verteidigungsminister ernannt. Er soll etwa Mitte 30 sein und als Taliban-Vizechef die Milizen gesteuert haben. Mit Abdul Hak Wasik wurde ein ehemaliger Guantánamo-Häftling Chef des Geheimdienstes.
Amir Chan Muttaki, ein weiterer Verhandlungsführer in Doha, wurde zum Außenminister ernannt. Er gehörte als Bildungs- und Informationsminister ebenfalls bereits dem ersten Kabinett der Islamisten an. Muttaki gilt als eine der versöhnlichsten Figuren innerhalb der Bewegung und leitete bislang die Aussöhnungskommission der Taliban.
Ein Frauenministerium findet sich bisher nicht auf der veröffentlichten Liste. Dafür wurde ein Ministerium für "Einladung, Führung, Laster und Tugend" eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium "für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters" erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen.
Die Taliban sind eine radikalislamistische militärische Bewegung. Ihre politischen Ziele haben die Taliban bisher nicht sehr detailliert dargelegt. Sie bezeichnen sich selbst als "Gotteskrieger" und wollen in Afghanistan laut eigener Aussage eine "wahre islamische Herrschaft" im Rahmen des Scharia-Rechts aufbauen. Dieses beinhaltet Strafen wie Handabhacken und Steinigungen und bringt auch einen sehr elaborierten Rechtsapparat mit sich. Allerdings steht dieser im Konflikt zu manchen international anerkannten Konventionen, die auch Afghanistan unterschrieben hat - und daran sind auch die Taliban nach der Machtübernahme gebunden.
Die islamistische Gruppe hatte bereits parallele Regierungsstrukturen in Distrikten und Provinzen aufgebaut, allerdings noch rudimentär und zumeist finanziert mit Geldern der Regierung: Diese hatte versucht, dadurch den Betrieb von Schulen und Krankenhäuser aufrechtzuerhalten und in den Taliban-Gebieten noch ein wenig Einfluss zu behalten. Abzuwarten bleibt, wie sich die Verwaltung der Taliban nun konsolidiert. Wahrscheinlich werden die Taliban versuchen, die Menschen der bisherigen Regierung für sich weiterarbeiten zu lassen.
"Die Taliban sind kein monolithischer Block, es gibt mehr oder weniger ideologisierte", erklärte der Journalist und langjährige Afghanistan-Kenner Martin Gerner im
Dlf-Interview
. Wie es im Land weitergeht, werde wesentlich davon abhängen, "ob die politischen Führer der Bewegung die Anzahl junger Feldkommandeure unter Kontrolle zu halten vermögen. Viele junge, ungebildete Kämpfer sind darunter, die jetzt – das ahnt man – euphorisiert sind, Lust verspüren werden, das auszuleben, mit radikalen Moralvorstellungen."
Während ihrer ersten Herrschaft über Afghanistan von 1996 bis 2001 führten die Taliban ein hartes islamistisches Regime mit drakonischen Strafen wie Verstümmelungen und Steinigungen ein, insbesondere die Freiheit von Frauen war stark eingeschränkt. Manche Beobachter hegten die Hoffnung, die Taliban von heute könnten sich von jenen vor 2001 unterscheiden, weil sie politisch erfahrener geworden seien. Sie hätten erkannt, nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung regieren zu können. Tatsächlich gab es entsprechende Zusagen der Islamisten vor und nach der Machtübernahme. Das Anfang September verhängte Protest-Verbot sowie Berichte über die Einschränkung von Frauenrechten und brutales Vorgehen gegen Journalisten, lassen Zweifel an einem moderateren Kurs aufkommen.
Menschenrechte
Die Taliban haben seit vielen Monaten über ihre Sprecher bei den Friedensgesprächen und in Interviews verkündet, niemand müsse sich bei einer Machtübernahme vor ihnen fürchten. Dem widersprechend gibt es Berichte von brutalen Hinrichtungen gefangener Regierungssoldaten, zum Teil auch von Zivilistinnen und Zivilisten in einigen Gebieten. Die Taliban-Führung muss nun beweisen, tatsächlich durchsetzen zu können, dass ihre Leute vor Ort, ihre Feldkommandeure, sich an die Versprechungen halten.
Presse- und Meinungsfreiheit
Zudem hatten die Taliban angekündigt, dass Journalisten und Journalistinnen ihrer Arbeit weiterhin nachgehen dürften. "Wir werden die Pressefreiheit respektieren", sagte Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid der Organisation Reporter ohne Grenzen. Afghanische Journalisten zeichnen ein anderes Bild. Am 8. September wurden die beiden afghanischen Journalisten Nemathullah Nakdi und Taki Darjabi von Taliban-Kämpfern brutal zusammengeschlagen, nachdem sie von einer Demonstration in Kabul berichtet hatten.
Die freie Meinungsäußerung für Bürger ist bereits offiziell stark beschnitten. Nach dem Protest-Verbot forderte Taliban-Sprecher Mudschahid die Medien auf, über Demonstrationen "nicht zu berichten".
Außenpolitische Ziele
Die Taliban haben immer wieder betont und dies den Amerikanern auch im Abkommen vom Februar 2020 zugesagt, dass sie Terrorgruppen wie Al-Kaida und anderen keine Möglichkeit bieten wollen, von Afghanistan aus in anderen Ländern zu agieren. Diese Zusage liegt auch in ihrem Eigeninteresse, denn andernfalls würde das Land wieder internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen und hätte möglicherweise sogar amerikanische Anti-Terror-Schläge zu befürchten. Die islamistische Gruppierung hat zudem zugesagt, keine anderen Länder bedrohen zu wollen – dafür gibt es bisher auch keine Anzeichen. Die Taliban konzentrieren sich auf Afghanistan.
Gleichzeitig wollen die Taliban keinen abgeschiedenen Staat, so wie in den 1990er Jahren, als sie zuletzt an der Macht waren. Sie haben ein Interesse an internationalen Beziehungen,
sagte die Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi im Deutschlandfunk
. Man müsse anerkennen, dass die Taliban an der Macht seien und es sei wichtig, dass der Westen mit den Taliban zusammenarbeitet und vor allem Druck ausübe - in Form von Bedingungen, die an finanzielle Hilfsmittel geknüpft werden, so Hasrat-Nazimi. Den Taliban fehle das nötige Know-how um eine Regierung zu bilden. "Sollte der Westen nicht mit den Taliban zusammenarbeiten, dann werden sie sich die Hilfe beispielsweise aus China holen", sagte Hasrat-Nazimi.
"Es gibt durchaus eine echte Dialogbereitschaft der Taliban", sagte der Jesuit und Islamwissenschaftler Felix Körner im Dlf. Er plädiert dafür, konservative Muslime ernster zu nehmen, einen "diplomatischen Dialog" zu pflegen und sich medial, politisch und wissenschaftlich nicht einseitig auf den sogenannten "liberalen Islam" zu fokussieren.
Die Taliban haben zugesagt, dass Frauen Zugang zu Bildung und Gesundheit und auch zum Arbeitsleben geben werde. Laut einem Dekret sollen Frauen "im Einklang mit den Prinzipien des Islam" arbeiten dürfen. Was dies genau bedeutet, bleibt jedoch unklar. Anspruch auf eine Hochschulbildung sollen Frauen ebenfalls haben. Allerdings soll die universitäre Lehre nach Geschlechtern getrennt erfolgen. Zudem müssen Frauen an der Uni eine Abaya, ein islamisches Überkleid, tragen und ihr Gesicht mit einem Nikab verschleiern.
Der Treiben von Sport ist Frauen bereits weitgehend verboten. Der aus Kabul berichtende
ARD-Fernsehjournalist Markus Spieker
beobachtet, dass Frauen aus dem öffentlichen Leben gedrängt werden: Sie werden dazu aufgefordert zu Hause zu bleiben, Dozentinnen wurde nach Hause geschickt. Zudem ist zu hören, dass Frauen kein Lohn mehr für ihre Arbeits ausgezahlt bekommen. Aus den Provinzen liegen unterschiedliche Berichte vor. In einigen sollen Frauen weiterhin zur Arbeit gehen können, auch in den Distriktverwaltungen, in anderen wiederum sei ihnen verboten ohne männliche Bekleidung auf die Straße zu gehen.
Der ehemalige Außenminister Afghanistans, Rangin Spanta,
zeigte sich im Dlf-Interview grundsätzlich pessimistisch:
"Der Bildungssektor, Frauenrechte, Pressefreiheit et cetera, das sind alles große Errungenschaften der letzten 20 Jahre, die wir momentan zum großen Teil wieder verloren haben."
Auch die Frauenrechtlerin Nadia Nashir-Karim erwartet, dass die Gesetze wieder strikter und strenger ausgelegt werden. Dennoch vermute sie, dass die Taliban politisch nicht isoliert werden wollen und sich daher möglicherweise liberaler zeigen werden als in den 1990er-Jahren,
sagte sie im Dlf.
Viel hänge nun von der Diplomatie der internationalen Gemeinschaft ab, die an Friedengesprächen beteiligt seien.
Das lässt sich mit zwei Faktoren erklären. Erstens mit der Schwäche der Regierung und der Regierungstruppen. Die Regierungstruppen sahen sich offenbar nicht mehr Willens, sich mit einer Regierung auseinanderzusetzen, die in großen Teilen korrupt ist, die politisch zwischen verschiedenen Fraktionen gespalten ist, die mit Machtverteilungskämpfen mehr beschäftigt ist als mit den Sorgen einer Bevölkerung, die zu großen Teilen in Armut lebt.
So hatten die Taliban bei der Machtergreifung leichtes Spiel, wie die Deutsch-Afghanin Frau L. im Dlf berichtet, die vor der Terrorgruppe aus Kabul geflohen ist. "Es war sehr einfach: Die Taliban waren in der Stadt, und die Soldaten haben ihre Uniformen ausgezogen und sind nach Hause gegangen. Ihre Waffen haben sie einfach niedergelegt", sagte Frau L.
So hatten die Taliban bei der Machtergreifung leichtes Spiel, wie die Deutsch-Afghanin Frau L. im Dlf berichtet, die vor der Terrorgruppe aus Kabul geflohen ist. "Es war sehr einfach: Die Taliban waren in der Stadt, und die Soldaten haben ihre Uniformen ausgezogen und sind nach Hause gegangen. Ihre Waffen haben sie einfach niedergelegt", sagte Frau L.
Darüber hinaus fehle es Afghanistan an politischem Zusammenhalt, sagte Christian Mölling, bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik Leiter des Programms Sicherheit und Verteidigung, im
Interview mit Deutschlandfunk Kultur
. Einen Vielvölkerstaat zur Nation zu machen, sei ein jahrzehntelanger Prozess. Die Sinnfrage für Soldaten sei, warum sie kämpfen oder sterben sollten "für ein Land kämpfen, dass es eigentlich möglicherweise gar nicht gibt, und gegen einen Gegner, der übermächtig und schnell auf mich zuläuft?"
Zweitens haben die Regierungstruppen ihre Kampfmoral verloren, weil die Amerikaner ihre Truppen abgezogen haben, und zwar entgegen der Zusage, dass es bis dahin wenigstens Fortschritte im Friedensprozess hätte geben sollen. Donald Trump hat den Schlussstrich gezogen, US-Präsident Biden hat das nicht mehr umgedreht, und das hat sich auf die Moral enorm ausgewirkt. Rangin Spanta, ehemaliger Außenminister Afghanistans,
sagte im Dlf:
"Der Abzug geschah über Nacht sehr plötzlich und hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt. Das afghanische Volk sitzt in einer Falle."
Auch die Moral der Regierungsvertreter in den Distrikten und Provinzen, die ja zu großen Teilen Abmachungen mit den Taliban getroffen haben, ist gesunken. Diese waren dort zum großen Teil auf sich selbst gestellt, bekamen keine Verstärkungen, keinen Nachschub mehr. Und die Taliban haben über Monate daran gearbeitet, Kontakte aufzunehmen und ihnen gesagt, es ist besser, ihr gebt auf und behaltet euer Leben.
Der Zusammenbruch der afghanischen Streitkräfte hat aber auch damit zu tun, wie der Westen das Training und die Unterstützung der afghanischen Streitkräfte organisiert hat. Zum einen hat man vor allen Dingen auf Mannschaftsstärken geachtet, über viele Jahre verkündet, man habe über 300.000 Soldaten und Polizisten. Aber die Stärke allein macht es nicht, auch nicht die Ausrüstung, die ja zum Teil sehr modern ist, aus den USA kommt, aber dann auch für afghanische Verhältnisse wieder anfällig und nicht geeignet ist. Gleichzeitig hilft alle Hardware und alle Ausbildung nicht, wenn die Moral nicht stimmt.
Quelle: Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) im Gespräch mit Britta Fecke, Rangin Spanta (ehemaliger Außenminister Afghanistans) im Gespräch mit Stephanie Rohde, Reuters, Marcus Pindur