Anfang Dezember. Ein Reisebüro in Kabul, zentral gelegen, nicht weit von der Behörde entfernt, die die Pässe für Afghanistans Bürgerinnen und Bürger ausstellt. Mittagspause. Jawad, der Chef hier, atmet durch.
"Es geht morgens um acht Uhr los. Eine lange Schlange vor dem Büro. Wir nehmen die Anfragen entgegen. Dann sagen wir den Leuten, dass sie in 30 bis 45 Tagen wiederkommen sollen. Die Menschen wollen immer noch raus aus Afghanistan. Allerdings ist es ja jetzt deutlich kälter, und es wird schwieriger, über die Grenzen zu kommen. Deshalb kommen etwas weniger Leute. Ich würde sagen, rund 20 Prozent weniger im Vergleich zum Spätsommer."
Ein Visum für die Türkei kostet immer noch bis zu 6.000 US-Dollar. Familien geben ihr Erspartes, um irgendwie rauszukommen. Daran hat auch eine Plakat-Kampagne der deutschen Botschaft in Kabul nichts geändert. Auf großen Tafeln steht nur: "Gerüchte über Deutschland", mit Verweis auf eine Facebook-Seite, die die Flüchtlinge davon überzeugen soll, dass es keine gute Idee ist, sich auf den beschwerlichen Weg zu machen. Vergeblich, hat Fluchtexperte Fawad festgestellt.
"Jeder hier hat gute Gründe zu fliehen. Die Jungen, die Alten, die Familien. Die Sicherheitslage ist schlechter geworden, es gibt mehr Anschläge, mehr Kämpfe im Land, und die miese Wirtschaftslage treibt die Leute auch woanders hin. Es sind nicht mehr nur junge Männer, die gehen wollen. Wir haben jetzt ganze Familien hier. Darunter sind auch Regierungsmitarbeiter, sogar Generäle, Abteilungsleiter, oder es sind Rechtsanwälte oder Businessmänner. Die meisten wollen über die Türkei raus."
Wie viele Afghanen in diesem Jahr ins Ausland geflüchtet sind, ist nicht ganz klar. Die Internationale Organisation für Migration sprach im Oktober im Interview mit dem ARD-Hörfunkstudio Südasien von einem "Exodus".
1,2 Millionen Binnenflüchtlinge
Doch in Afghanistan gibt es noch ein ganz anderes Problem. Allein in diesem Jahr mussten laut den Vereinten Nationen rund 200.000 Menschen vor den Kämpfen zwischen Regierung und Taliban fliehen. Ghulam Sakhi ist im Sommer auf einem kargen Stück Land in Nordafghanistan gestrandet. Weit und breit wächst hier nichts in dieser Ödnis. Kleine Kinder spielen, völlig zerzaust, im Staub. Aber Sakhi hat keine Wahl. Er ist wie Hunderte andere Menschen Hals über Kopf aus einem Dorf in der Provinz Faryab geflohen, das die Taliban überrannt hatten.
"Wir sind geflohen, als sie gerade beim Abendgebet waren. Wir haben alles zurückgelassen, Anziehsachen, Schuhe, alles. Wir sind auf einem Motorrad geflohen."
Ein Einheimischer hat Ghulam Sakhi und den anderen das Stück Land, auf dem sie hausen, überlassen. Ihr Dorf in Faryab liegt nur ein paar Stunden entfernt – ist aber unerreichbar.
"Mein Bruder kämpft für die Polizei. Manchmal rufe ich ihn an. Er sagt, dass unser Dorf fest in Taliban-Händen ist. Er meint, die Kämpfe seien sogar sehr nahe an die Provinzhauptstadt gerückt."
Seit dem Interview mit Ghulam Sakhi im Sommer hat sich an der Lage in Faryab kaum etwas geändert. Die Zahl der Binnenflüchtlinge liegt in Afghanistan jetzt bei 1,2 Millionen. Die Behörden sind völlig überfordert oder ignorieren die Menschen einfach – darüber klagte auch Ghulam Sakhi. Dabei sind Menschen wie er besonders auf Hilfe angewiesen. Wie die meisten Afghanen ist Ghulam Sakhi so arm, dass er eine Flucht ins Ausland niemals schaffen würde.