Achille Mbembe hat einen Essay über das Afrika nach dem Kolonialismus verfasst. Der Historiker und Philosoph aus Kamerun beschreibt diese Epoche auf seinem Heimatkontinent als "Aufbruchs- und Erhebungserfahrung". Mbembe bezieht sich einmal mehr auf die Denker der Négritude, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Politik und Poesie ein neues Selbstbewusstsein der schwarzen Menschen Afrikas gefordert hatten. Und er sucht erneut die Verbindung zum Psychiater und antikolonialen Theoretiker Frantz Fanon. Der schrieb Mitte des letzten Jahrhunderts eindrücklich über die psychischen Verformungen durch koloniale Unterdrückung. Umstritten ist Fanon wegen seiner Haltung zu Gewalt.
Afropolitanismus - Eine Existenz zwischen den Welten
Mbembes Augenmerk richtet sich aber vor allem auf das Heute, auf die Zeit um die Jahrtausendwende. Da erkennt er eine starke Bewegung weg aus Afrika: "Wenn dieser Kontinent überhaupt noch ein Ort ist, dann handelt es sich häufig und für viele um einen Ort des Übergangs oder der Durchreise."
Diese moderne Existenzform zwischen den Welten - dem Herkunftskontinent Afrika und dem Lebensmittelpunkt in Europa oder Nordamerika, jenseits von Ethnien und Nationalstaaten - heißt seit einigen Jahren Afropolitanismus. Achille Mbembe, der zum Studium nach Frankreich ging und anschließend in den USA gelebt und gelehrt hat, liefert anregende Gedanken zu dieser Wortschöpfung aus Afrika und der altgriechischen Stadtgemeinde Polis.
"Der Afropolitanismus ist eine Stilistik und eine Politik, eine Ästhetik und eine bestimmte Poetik der Welt. Er ist eine Weise des In-der-Welt-Seins, die sich prinzipiell jeder Form von Opferidentität verweigert."
Flexibel, mehrsprachig, aber nicht ohne Herkunftsbewusstsein
Mbembe verweist auf die Leistung afrikanischer Menschen, die in Weltmetropolen außerhalb ihres Kontinents leben, ohne ihre Herkunft zu vergessen:"Durch diese Beweglichkeit sind ihr Blick und ihr Sensorium unermesslich reich geworden. Im Allgemeinen handelt es sich um Menschen, die mehrere Sprachen sprechen. Manchmal ohne es zu wissen, sind sie dabei, die transnationale Kultur zu entwickeln, die ich 'afropolitan' nenne."
Der letzte Halbsatz befremdet allerdings. Denn den Begriff Afropolitanismus, für den Mbembe an anderer Stelle ausdrücklich seine Urheberschaft reklamiert, hatte bereits 2005 die Schriftstellerin Taiye Selasi in die Diskussion eingeführt. Ihre Wortschöpfung hat eine rege, auch sehr kontroverse Auseinandersetzung um die Standortbeschreibung des modernen afrikanischen Menschen angestoßen. Mit seinem Essay leistet Achille Mbembe einen eloquenten Beitrag zu dieser Debatte - nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Und sonst?
Ausgehend von Erinnerungen an seine Kindheit in einem kamerunischen Dorf, wo ein Verwandter getötet wurde, weil er der Opposition gegen die Kolonialmacht angehörte, zeichnet Mbembe vielfältige Bilder des Ringens um die Entkolonialisierung in Afrika. Die autobiographische Szene ist in ihrer Eindringlichkeit allerdings ein Unikat in diesem Buch.
Wer sind afrikanische Einheimische?
An anderer Stelle setzt der Autor ein deutliches Zeichen in einer politischen Debatte, die im südlichen Afrika geführt wird. Es geht um die Frage, ob die seit Generationen dort lebenden Weißen Einheimische sind:
"Eine der Folgen der 'Autochthonisierung' der Kolonisten und europäischen Einwanderer ist, dass es sich heute beim größten Teil der weißen Bürger Südafrikas um keine ausländische Bevölkerung handelt."
Auch Menschen mit europäischen Vorfahren gehören zu Afrika: Das ist die klare Botschaft des Autors, der heute in Kapstadt lebt und lehrt.
Achille Mbembe formuliert seine Variationen zur Geistesgeschichte der Entkolonialisierung - unter Einschluss der Geisterwelt, der spirituellen Seite also - als großen Strauß möglichen Denkens: "Wie man sieht, hat die postkoloniale Kritik ein intellektuelles Profil, dessen Stärken und Schwächen schon in ihrer Entstehungsweise angelegt sind. Als Folge der Wissenszirkulation zwischen verschiedenen Kontinenten und quer durch verschiedene antiimperialistische Traditionen gleicht sie einem Fluss mit unzähligen Zuläufen."
Das koloniale Erbe
Achille Mbembe schöpft aus einem reichhaltigen Fundus von Orten, Themen, Denkschulen und Diskursen. Er formuliert mitunter inspirierend und stellt produktive Verbindungen her. Aber bisweilen wirken die Kombinationen fahrig - man würde manchmal gerne eine Schlussfolgerung lesen, statt schon wieder ins nächste Gedankenfragment geworfen zu werden.
Auch die Übersetzung erschwert hin und wieder das Lesen, wenn sie abseitige Fremdworte oder katholisch-liturgische Fachausdrücke unerläutert lässt. Und wenn aus dem französischen "viol" Gewalt wird statt Vergewaltigung, dann wünscht man sich doch ein entschiedeneres Lektorat.
Für zwei große Kapitel von "Ausgang aus der langen Nacht" begibt Achille Mbembe sich auf die andere Seite: Er untersucht die einstige Kolonialmacht Frankreich - das Land, das sich seit seiner Revolution selber durchweg gute Noten in puncto Demokratie und Kultur ausgestellt hat.
"Im Grunde möchte der gegen die Reue gerichtete Diskurs mit leichter Hand die gesamte französische Geschichte aufarbeiten. Sein Ziel ist die Rehabilitierung der kolonialen Anstrengungen. Die wahren Opfer der Kolonialisierung, wird behauptet, waren nicht die Eingeborenen, sondern die Kolonisten."
Frankreich habe postkoloniales Denken einfach ignoriert, maßgebliche Werke nicht ins Französische übersetzt, kritisiert Mbembe: Das Land habe sich abgekoppelt vom modernen Denken über den Kolonialismus und die Zeit danach, es verharre als selbsternanntes Opfer in der Vergangenheit, ohne seine Rolle als Kolonialmacht zu reflektieren. Mit solchen Passagen erweist Achille Mbembe sich als fordernder Denker des Postkolonialismus, der es der einstigen Kolonialmacht nicht durchgehen lassen will, dass sie sich vor der dringend notwendigen Debatte über ihre Vergangenheit in Afrika weg duckt.
Achille Mbembe: "Ausgang aus der langen Nacht - Versuch über ein entkolonisiertes Afrika"
Suhrkamp Verlag, 302 Seiten, 28 Euro
Suhrkamp Verlag, 302 Seiten, 28 Euro