"Zuerst hat sie den Appetit verloren. Sie saß beim Essen und plötzlich saß sie ganz ruhig da und aß nicht mehr. Wir haben mit ihr geschimpft, weil wir dachten, sie will ein böses Mädchen sein."
Aber die Tochter von Martin Ocan war nicht böse: Sarah war krank geworden.
"Immer, wenn ich ihr gesagt habe, sie soll essen, war sie wie taub. Wenn ich dann geschrien habe, war sie erschrocken und ist herumgelaufen. Und dann fing sie an zu nicken und fiel hin."
10 bis 20 Mal Nicken pro Minute
Kopfnick-Syndrom: Das ist es wohl, was die Tochter von Martin Ocan hat. Das Kopfnick-Syndrom ist ein mysteriöses Leiden, das so nur in einer bestimmten Region in Ostafrika bekannt ist: im Süden von Südsudan und auf der anderen Seite der Landesgrenze, im Norden von Uganda. Irgendwo hier im Busch lebt Martin Ocan mit 21 von seinen insgesamt 24 Kindern. Sarah fing im Jahr 2003 an zu nicken; da war sie gerade fünf Jahre alt.
Später zeigten auch vier Geschwister die klassischen Symptome: Die Kinder sind wie weggetreten und nicken; 10 bis 20 Mal in der Minute fällt der Kopf nach vorne und wird wieder angehoben. Bis zu fünf Minuten dauern solche Episoden. Sie beginnen vor allem, wenn es etwas Traditionelles zu essen gibt oder wenn es kalt ist. Viele Kopfnick-Kinder wachsen nicht mehr richtig und bleiben geistig zurück. Manche von ihnen bekommen zusätzlich epileptische Anfälle.
"Ich wurde mit meinem Kind ins Mulago geschickt, in das Universitätskrankenhaus in der Hauptstadt. Da wurde mein Kind untersucht. Aber danach haben die Ärzte gesagt: Wir wissen nicht, was das ist."
Martin war mit seiner Tochter einmal durch das ganze Land gefahren: von Norden nach Süden, von seiner Heimat in die Hauptstadt, vom afrikanischen Busch in die Großstadt. Im Jahr 2003 wurden dem Gesundheitsministerium in Kampala die ersten Kopfnick-Kinder offiziell gemeldet. In kurzer Zeit wurden rund 3.000 Fälle bekannt. Man befürchtete eine Epidemie.
Immerhin war im Norden von Uganda nach wie vor Bürgerkrieg; die meisten Einheimischen waren vertrieben worden und lebten nun in Flüchtlingscamps.
Eine Art Epilepsie
Aus der ganzen Welt kamen Wissenschaftler, um das Kopfnick-Syndrom zu erforschen. Doch nach einem Jahrzehnt weiß man noch nicht viel. Außer, dass es wohl eine Art von Epilepsie ist. Das haben Forscher der US-Gesundheitsbehörde entdeckt, weil zwei Kinder gerade einen Nick-Anfall bekamen, als sie mit einem EEG untersucht wurden. Dabei werden über eine Art Badekappe mit Kabeln die Hirnströme abgeleitet. Die Forscher erkannten: Für einen Moment waren die Hirnströme nicht normal und sorgten dafür, dass die Nackenmuskeln kurz nicht richtig angespannt sind – so dass dann der Kopf nach vorne fällt.
Aber warum die Kinder das Kopfnick-Syndrom bekommen: Darüber wird weiterhin gerätselt. Der Familienvater Martin vermutet:
"Ich glaube, das ist eine Folge der Munition. Oder weil die Erde hier so voller Leichen ist. Und verdächtig finde ich auch das andere Essen, das wir in dem Camp bekommen haben."
Vergiftete Munition. Umweltverschmutzung. Affenfleisch. Seelen der gefallenen Rebellen. Blut der getöteten Nachbarn. Und so manches mehr. All das wurde verdächtigt, das mysteriöse Nicken auszulösen. Nichts davon wurde bislang nachgewiesen.
"Die Frage ist jetzt: Ist es wirklich was Infektiöses?"
Maria Winkler ist Neurologin am Krankenhaus der Technischen Universität München und plant gerade ein neues Projekt, um dem Kopfnick-Syndrom auf die Spur zu kommen.
Einige Studien haben einen Zusammenhang ergeben mit dem Erreger der Flussblindheit, dem Fadenwurm Onchocerca volvulus. Ein Großteil der Nick-Kinder ist von diesem Parasiten befallen. Der wird von Kriebelmücken übertragen. Die erwachsenen Fadenwürmer nisten sich unter der Haut ein, die kleinen Fadenwürmer gerne im Augapfel. Aber im Gehirn selbst wurde der Parasit bislang noch nie nachgewiesen.
"Die Theorie ist jetzt, dass eventuell dieser Fadenwurm einfach als Platzhalter fungiert für ein Agens, das mit ihm mitgeschleppt wird, ein Virus oder Bakterium zum Beispiel."
Das sei die eine Idee, sagt Andrea Winkler.
"Die andere ist, dass diese Menschen sich vor vielen Jahren mit einem Virus infiziert haben, der jetzt erst neurologisch wirksam ist. Das kennt man bei Erkrankungen wie Masern."
Im Sommer 2012 gab es die erste und bislang einzige internationale Tagung speziell zum Kopfnick-Syndrom: Dabei wurden alle möglichen Ursachen zusammengetragen, diskutiert und in einer Liste zusammengefasst. Dieser Liste zufolge können Buschfleisch und Wasserquellen vor Ort als Grund für die Krankheit ausgeschlossen werden, ebenso der Augenwurm Loa Loa und der Parasit für die Schlafkrankheit sowie Arsen, Blei, Kupfer, Quecksilber und Pestizide.
Als unwahrscheinliche Ursachen wurden unter anderem Malaria und Masern eingestuft. Schließlich empfiehlt der 50 Seiten lange Tagungsbericht: Als nächstes sollten Forscher untersuchen, ob das mysteriöse Nicken etwas mit den Genen zu tun hat oder mit dem Trauma des Bürgerkriegs; oder ob es nicht doch eher Pilzbefall bei Lebensmitteln ist oder Mangelernährung am Lebensanfang.
Derweil sitzen die Kinder von Martin Ocan im Norden von Uganda unter einem Baum. Die fünf Jugendlichen mit dem Kopfnick-Syndrom schauen etwas apathisch in die Gegend. Martin zeigt auf Sarah, die Tochter in den Lumpen, die als Erste in der Familie anfing zu nicken.
"Es geht ihr wirklich schlechter. Essen und schlafen – mehr kann sie nicht tun. Schauen Sie nur: Sie sieht nicht glücklich aus."