Archiv

Afrikas vergessene Krankheiten
Ein fremder Herr in ihrem Kopf

Das Kind fängt an zu nicken, bekommt einen Krampfanfall, ist wie weggetreten: So oder  ähnlich ergeht es Hunderten Kindern im Grenzgebiet zwischen Uganda und dem heutigen Südsudan – sie leiden am Kopfnick-Syndrom. Die Ärzte sind ratlos: Die Weltgesundheitsorganisation war da, ein Aufklärungsteam der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde war da, Forscher aus Uganda und Deutschland waren da – und immer noch ist unklar, was hinter dem mysteriösen Nicken steckt.

Von Franziska Badenschier |
    Ein Foto des Kinderhilfswerks UNICEF zeigt drei Kinder in der südsudanesischen Stadt Mingkaman, während sie erschöpft darauf warten, als Hilfesuchende registriert zu werden.
    Kinder in der Krisenregion Südsudan/Uganda (dpa picture alliance / Kate Holt/ Unicef Handout)
    Eine Wiederholung vom 10.8.2014
    "Ene, mene, miste.
    Es rappelt in der Kiste."
    Abdinasir Abubakar: "Einfach gesagt, handelt es sich um ein Kind, das mit dem Kopf zu nicken anfängt, wenn es Essen sieht, das hinterher Krämpfe hat und auch Wachstumsstörungen haben kann."
    "Ene, mene, mek.
    Und du bist weg."
    Martin Ocan: "Ich glaube, das ist eine Folge der Munition. Oder weil die Erde hier so voller Leichen ist. Und verdächtig finde ich auch das andere Essen, das wir in dem Camp bekommen haben."
    "Weg bist du noch lange nicht.
    Sag mir erst, wie alt du bist."
    Andrea Winkler: "Wir haben bis jetzt keine wirklich zufrieden stellende Erklärung, die uns alles erklärt: Warum nur Kinder? Warum nur ab dem fünften Lebensjahr? Warum nur in Norduganda, Südsudan und schon lange in Tansania?"
    "Das ist Agnes. Sie ist 19 Jahre alt. Als ihre Krankheit losging, hat sie den Appetit verloren, sie hat angefangen zu nicken und nun fällt sie auch ständig hin."
    Im Norden Ugandas. Weit und breit nur Gestrüpp, dazwischen ein paar Hütten. Unter einem kleinen Baum sitzen fünf Jugendliche auf einer zerlöcherten Decke. Ihr Vater Martin Ocan stellt ein Kind nach dem anderem vor.
    "Das ist Joyce. Sie ist 18 Jahre alt. Bei ihr hat es angefangen wie bei den Schwestern: hat nichts mehr gegessen und fällt hin. Manchmal muss ich sie mit einem Seil festbinden."
    Insgesamt 24 Kinder hat Martin Ocan, geboren von drei Ehefrauen. Drei Kinder sind längst verheiratet und fort. Die anderen leben hier bei ihm, in ein paar Hütten. Die fünf Kinder, die gerade vor ihm sitzen, haben eine mysteriöse Krankheit: das Kopfnick-Syndrom.
    "Das ist Sarah. Sie ist 17 Jahre alt. Sie war das erste Kind, das das Kopfnick-Syndrom bekommen hat. Ihr geht es immer schlechter. Alles, was sie noch tun kann, ist essen und schlafen."
    Elf, zwölf Jahre ist es her, dass Sarah anfing zu nicken. Damals war hier, im Norden von Uganda, noch Bürgerkrieg: Unter Anführung des christlichen Fundamentalisten Joseph Kony folterte und ermordete die Lord's Resistance Army gut zwei Jahrzehnte lang. Fast alle Einheimischen in der Gegend wurden vertrieben. Auch Martin Ocan lebte mit seiner Familie von 2003 bis 2006 in einem Camp. Dann kamen sie zurück. Von seinen Kindern haben nur jene das mysteriöse Kopfnicken, die zu den Zeiten im Camp noch sehr jung waren.
    "Das hier ist Jacob. Er ist 16 Jahre alt. Bei ihm hat es auch so angefangen wie bei den anderen: verweigerte das Essen und fing an zu nicken. Aber er fällt nie hin."
    Bis zu zehn Nickanfälle am Tag
    Die Kinder haben bis zu zehn Nick-Anfälle pro Tag, erzählt der Vater. Sie können kaum sprechen. Sie können kaum helfen, Wasser zu holen oder Essen zu kochen.
    "Und das ist Moses. Er ist 15 Jahre alt. Wie Jacob nickt er nur, ohne hinzufallen."
    In Uganda wie im Sudan erzählte man sich schon in den 1990er Jahren von einzelnen Kindern, die immer wieder wegtraten und nickten. Im Jahr 2003 wurden dem Gesundheitsministerium von Uganda die ersten Kopfnick-Kinder offiziell gemeldet. In wenigen Jahren wurden rund 3000 Fälle bekannt – allesamt aus drei Distrikten im Norden Ugandas. Auch im dort angrenzenden Gebiet – dem heutigen Südsudan – mehrten sich Meldungen über nickende Kinder.
    Martin Ocan: "Ich habe meine Kinder ins Krankenhaus gebracht. Aber sie konnten nichts tun. Sie wussten nichts über das Kopfnick-Syndrom."

    Die Weltgesundheitsorganisation schickte erste Forscher in die Gegend für ein paar Befragungen. Die ersten Erkenntnisse: Bei einer Nick-Episode fällt der Kopf zehn bis 20 Mal in der Minute nach vorne und wird wieder angehoben. Bis zu fünf Minuten lang. Dabei ist das Krankheitsbild bereits lange bekannt, zumindest in einem Teil Tansanias. Das sagt Andrea Winkler, Leiterin der Forschungsgruppe "Globale Neurologie" am Krankenhaus rechts der Isar der Technischen Universität München.
    Der Vater Martin Ocan steht mit seinen fünf Kindern, die am Kopfnick-Syndrom leiden, unter einem Baum. 
    Martin Ocan mit seinen fünf Kindern, die am Kopfnick-Syndrom leiden. (Franziska Badenschier)
    "Im Mahenge-Gebirge ist das schon das erste Mal beschrieben durch eine Psychiaterin. Durch ihre Recherche konnte sie aber zeigen, dass es schon in den 30er-Jahren da war. Das ist immer die gleiche Menge von Patienten, von Kindern mit diesem Kopfnick-Syndrom."
    Diesmal aber war das Bild ein ganz anderes. Die Krankheit verlief deutlich heftiger.
    Andrea Winkler: "In Norduganda und im Südsudan war es epidemieartig, das heißt, das gab es vorher gar nicht. Bis dann plötzlich: 2009, 2010 ist das verstärkt aufgetreten und keiner wusste, warum."
    "Kopfnick-Syndrom ist eine Art Epilepsie"
    Der Kinderneurologe Richard Idro untersuchte 22 ugandische Kopfnick-Kinder genauer. Bilder vom Hirnscanner zeigten Hirnschwund; EEG-Untersuchungen ergaben unnormale Hirnströme. 2012 benannte der Arzt fünf Phasen der Erkrankung:
    Anfangs Schwindel.
    Dann Nicken.
    Eventuell zusätzlich epileptische Anfälle.
    Mit der Zeit Wachstumsstörungen, deformierte Knochen und Probleme mit dem Hören und Sprechen.
    Schließlich schwere körperliche und geistige Behinderung, Tod.
    Die US-Gesundheitsbehörden CDC haben eine Sondereinheit, deren Teams immer dann ausschwirren, wenn irgendwo in der Welt eine noch unbekannte Krankheit ausbricht oder eine Epidemie, die eventuell auch in die USA eingeschleppt werden könnte. Ende 2009 und Mitte 2010 kam ein solches Team nach Uganda. Über eine Art Badekappe mit Kabeln wurden bei 23 Nick-Kindern die Hirnströme abgeleitet und zufällig bekamen zwei von ihnen während dieser EEG-Untersuchung einen Nick-Anfall. Da erkannten die Forscher: Für einen Moment waren die Hirnströme unnormal und sorgten dafür, dass die Nackenmuskeln kurz nicht richtig angespannt waren – so dass dann der Kopf nach vorne fiel. Damit bestätigte sich, was schon vermutet worden war, sagt Andrea Winkler:
    "Jetzt haben wir aber den Bogen zur Epilepsie: Kopfnick-Syndrom ist eine Art Epilepsie, wo der Kopf einfach nach vorne fällt und die Kinder kurzfristig nicht ganz responsiv sind."
    Das erklärt also, wie die Kinder nicken – aber nicht, warum. Dabei wird seit mehr als einem Jahrzehnt nach der Ursache für dieses mysteriöse Leiden gesucht. Ohne Erfolg.
    "Man muss festhalten: Wir haben wirklich nicht viel für die Erforschung getan – hinsichtlich Geld und Expertise."
    Abdinasir Abubakar ist der Experte fürs Kopfnick-Syndrom bei der Weltgesundheitsorganisation im Südsudan. Im Sommer 2012 hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO in die Hauptstadt Ugandas, nach Kampala, geladen: zum ersten und bislang einzigen internationalen Wissenschaftstreffen. Vorträge, Poster, Fachaufsätze: Daraus wurde eine Liste erstellt mit möglichen und unmöglichen Risikofaktoren. Die Suche nach der oder den Ursachen: Sie funktioniert vor allem nach dem Ausschlussprinzip.
    "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.
    Eine alte Frau kocht Rüben.
    Eine alte Frau kocht Speck.
    Und du bist weg."
    Langwierige Suche nach der Ursache
    Bestimmte Nahrungsmittel.
    Dass bestimmte Nahrungsmittel das Kopfnick-Syndrom auslösen – für diese These spricht: Oft fangen die Kinder genau dann an zu nicken, wenn es den typischen Brei aus Maismehl und Hirse – Ugali – gibt. Betroffene Familien verdächtigen oft auch die Nahrungsmittel, die sie in den Vertriebenenlagern bekommen haben:
    "In den Camps haben wir was bekommen, was wir noch nie gegessen hatten, zum Beispiel Augenbohnen oder ein anderes Öl. Zu Hause essen wir normalerweise Hirse, Mais, Bohnen und Erbsen."
    Gegen Nahrungsmittel als Ursache für das Kopfnick-Syndrom spricht: Einzelfälle hatte es ja schon gegeben, bevor die Menschen in den Camps lebten und die Vereinten Nationen Lebensmittelspenden schickten. Auch Kassava, eine Wurzelknolle, wurde verdächtigt, das Nicken zu verursachen. Getrocknetes Kassava-Mehl kann schimmeln und dann zu einer Vergiftung führen. So geschehen schon auf Sansibar, sagt Miriam Nanyunja von der Weltgesundheitsorganisation in Uganda, die nur per Telefon zu erreichen ist.
    "In Sansibar zeigten Kinder – aber auch Erwachsene – eine akute schlaffe Lähmung, nachdem sie Kassava gegessen hatten. Da wurde eine Blausäure-Vergiftung festgestellt. Anders beim Kopfnick-Syndrom: Nur Kinder haben diese Nick-Episoden, sie verlieren das Bewusstsein, zeigen aber keine Lähmung."
    "Li, la, lo.
    Fang den Floh!
    Fang die Maus!
    Du bist raus!"
    Infektion mit dem Parasiten Onchocerca volvulus.
    Dafür spricht: Die Kopfnick-Kinder leben meistens dort, wo die Flussblindheit vorkommt: eine vernachlässigte Tropenkrankheit, die vom Fadenwurm Onchocerca volvulus ausgelöst wird. Anhand von Haut-Proben haben verschiedene Forschergruppen festgestellt: Fast alle Kopfnick-Kinder sind mit dem Parasiten infiziert – aber nur zwei Drittel der Kinder, die nicht nicken.
    Dagegen spricht:
    Abubakar: "Die Flussblindheit kommt im Südsudan vor, aber auch in vielen anderen afrikanischen Ländern. Und da gibt es das Kopfnick-Syndrom nicht."
    Außerdem wurde der Parasit bislang noch nie im Gehirn nachgewiesen – obwohl das Kopfnick-Syndrom ja eine neurologische Komponente hat.
    Andrea Winkler: "Die Theorie ist jetzt, dass eventuell dieser Fadenwurm einfach als Platzhalter fungiert für ein Agens, das mit ihm mitgeschleppt wird, ein Virus oder Bakterium zum Beispiel."
    "Henriette, goldene Kette
    goldener Schuh'
    Raus bist du"
    Affenfleisch, Arsen, Blei, Masern, Posttraumatische Belastungsstörung, Prionen, Quecksilber.
    All das komme als Ursache nicht in Frage für das mysteriöse Kopfnick-Syndrom – so das Ergebnis der WHO-Konferenz in Kampala. Was da noch übrigbleibt? Das fragt sich auch der WHO-Mitarbeiter Abdinasir Abubakar:
    "Mein Gefühl sagt mir: Der Grund für dieses Problem hat zu tun mit Umweltverschmutzung durch verschiedene Chemikalien für die Waffen, denen die Menschen ausgesetzt waren."
    "Warte, warte nur ein Weilchen.
    Bald kommt der böse Mann zu dir.
    Mit dem kleinen Hackebeilchen
    macht er Schabefleisch aus dir."
    Syndrom als Erbe der Kriege?
    Waffen aus den Bürgerkriegen. Oder heimlich eingesetzte Bio- oder Chemiewaffen .

    Abdinasir Abubakar: "Im heutigen Südsudan gab es Kämpfe zwischen der sudanesischen Regierung und der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee. In dieser Gegend fing alles an und die Regierung hat verschiedene Arten von Waffen benutzt, darunter Bomben und Artillerie. Und interessanterweise sind die Menschen, die geflohen sind und bis heute woanders leben, nicht von dieser Krankheit betroffen. Aber Menschen, die vertrieben wurden und zurückkamen, haben dann das Kopfnick-Syndrom bekommen."
    Ein Foto des Kinderhilfswerks UNICEF zeigt drei Kinder in der südsudanesischen Stadt Mingkaman, während sie erschöpft darauf warten, als Hilfesuchende registriert zu werden.
    Experten vor Ort vermuten Zusammenhang mit den Bürgerkriegen in Uganda und Sudan (dpa picture alliance / Kate Holt/ Unicef Handout)
    Abdinasir Abubakar befeuert damit Gerüchte. Kämpfte eine der Bürgerkriegsparteien mit Bio- oder Chemiewaffen? In dem WHO-Tagungsbericht steht: Munition ist unwahrscheinlich als Grund für das Kopfnick-Syndrom. Auf welcher Datenbasis diese Aussage zustande kam? Miriam Nanyunja, erzählt, sie habe einen Bericht von der Regierung bekommen:
    "Das Gesundheitsministerium hat mit der Armee zusammengearbeitet, um mögliche Kriegsmittel zu untersuchen. In dem Bericht steht, dass keine Chemie- oder Biowaffen benutzt wurden."
    Aber diese Aussage sei zu erwarten gewesen, sagt die ugandische WHO-Mitarbeiterin. Immerhin war die Regierung an dem Bürgerkrieg beteiligt. Die WHO könne nur verwenden, was sie an Informationen bekommt.
    Nanyunja: "We can only take what we are told regarding that."
    Selbst auf eine eigene Untersuchung gibt die Medizinerin Miriam Nanyunja nicht viel: Sie habe geholfen, die Untersuchungen der US-Forscher 2009 und 2010 vorzubereiten. Das Team sammelte allerlei Proben: Urin, Blut, Hautschnipsel, Rückenmarksflüssigkeit, angeblich auch Erde und Wasser. Aber nach Munitionsresten habe man im Norden von Uganda nicht gesucht. Und die Gewebeproben seien auch nicht auf Rückstände von Bio- oder Chemiewaffen untersucht worden, sagt die WHO-Mitarbeiterin.
    "Wir haben mit einem Fragebogen versucht herauszufinden, ob die Betroffenen über mehr Kontakt mit Munition berichten als die Nicht-Betroffenen. Aber selbst der Begriff 'Kontakt zu Munition' war nicht genau definiert. Eigentlich erzählte jeder von Kontakt zu Munition, der in einem Camp gelebt hat, wo Schüsse fielen. Es war also nicht einfach, die These mit Gewissheit zu untersuchen."
    Vermutungen und eigenwillige Berichte: Interessant wäre da die Einordnung jenes US-amerikanischen Forschers, der an den CDC-Untersuchungen in Uganda maßgeblich beteiligt war: James Sejvar. Anfang 2014 mailt er: Er sei gerade auf Reisen; man könne ja in einer Woche oder später sprechen. Dann ist er wochenlang im Feld unterwegs; ein Interview kommt nicht zustande.
    Linderung ist möglich
    "Mein erster Eindruck? Ich habe die Kinder mehr als ein Jahr nicht gesehen und sie haben sich so verändert, dass sie normal aussehen. Sie haben immer noch Probleme, aber das ist eine phänomenale Besserung."
    Suzanne Gazda ist seit mehr als 20 Jahren Neurologin in den USA. Ein-, zweimal im Jahr kommt sie nach Uganda. Gerade ist sie in dem Dorf Odek angekommen, wo besonders viele Kinder nicken. Die Amerikanerin hat eine Nichtregierungsorganisation gegründet: Hope for HumaNS – Hoffnung für Menschen, wobei die letzten beiden Buchstaben N und S großgeschrieben sind, stehen sie doch für die Abkürzung Nick-Syndrom. Im August 2012 wurde hier in Odek ein Zentrum eröffnet:
    Gazda: "Wir dachten wirklich, wir würden Kindern helfen zu sterben; dass das hier das erste Kinder-Hospiz von Uganda würde. Aber innerhalb von anderthalb Jahren, die wir nun hier arbeiten, wurden wir überrascht: Die Kinder sterben nicht; im Gegenteil, viele verwandeln sich zurück in gesunde Körper und Kinder."
    Suzanne Gazda spricht von Pflege, Würde, Hoffnung. Darum kümmern sich ein Koch, drei Lehrer, vier Pflegerinnen, mehrere Nachtwächter.
    "Wir machen nichts Kompliziertes. Wir geben Grundnahrung, ein paar Vitaminergänzungen. Es gibt Unterricht, weil alle Kinder aus der Schule verbannt wurden. Und viele sind deprimiert, die meisten wegen ihrer Krankheit oder wegen des schrecklichen Kriegs, der rund 20 Jahre in ihrem Land gewütet hat."
    Das Zentrum befindet sich mitten im Busch neben einer Straßenpiste. Um einen offenen Platz herum ordnen sich im Kreis ein paar Baracken. Montag bis Freitag ist das Zentrum geöffnet – rund 40 Kinder kommen jeden Morgen anmarschiert.
    "Lauf, Ballam, Lauf", ruft Suzanne Gazda von der Wiese neben der Straße. Ein kleiner Junge kommt angerannt. Er stellt sich aber nicht in eine der drei Klassenreihen vor der Lehrerin, sondern direkt neben sie. Typisch Ballam, sagt Suzanne Gazda:
    "Wir nennen ihn den kleinen General. Weil er normalerweise vorne steht, den anderen sagt, wo sie langlaufen und was sie tun sollen. Er ist ein tapferer kleiner Junge."
    Ballam lebt mit seinem Bruder in einer Hütte – allein, denn die beiden werden von der Familie ausgegrenzt, weil diese Angst hat, sich mit dem Leiden anzustecken.

    Suzanne Gazda: "Er ist 14, glaube ich, aber er sieht aus wie ein Sechsjähriger. Schwere Wachstumsstörung. Als ich Ballam das erste Mal gesehen habe, war er schwer krank. Er konnte kaum 20 Schritte gehen, war schnell erschöpft, total schwach, extrem unterernährt. Aber jetzt ist er wie verwandelt. Nicht unbedingt sein Körperbau, aber es geht ihm besser."
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Auch Familie Ocan mußte vor dem Bürgerkrieg in Uganda fliehen. (Franziska Badenschier)
    Anti-Epileptika plus eine bessere Ernährung plus Betreuung: Das heilt das Kopfnicken zwar nicht, aber es lindert wohl bei vielen die Symptome.
    "Wir haben widerlegt, dass das eine unveränderliche tödliche Krankheit ist, wie es die CDC gesagt hatten."
    Dass die Erkrankung fortschreitend ist, dass die Kinder immer kränker werden und schließlich jung sterben: Diese Ansicht muss wohl tatsächlich revidiert werden, sagt auch Richard Idro geschickt, jener ugandische Kinderneurologe, der die fünf Phasen der Erkrankung erstmals beschrieben hat. Idro hatte – als sich angedeutet hat, dass das Nicken an sich eine Art epileptischer Anfall ist – mehrere Kinder mit Anti-Epileptika und Nahrungsergänzungsmitteln behandelt und sie weiter beobachtet: Vielen ging es besser. Die Ergebnisse seiner kleinen Studie sind zwar noch nicht veröffentlicht, aber sein Behandlungskonzept steht längst als Leitfaden auf der Website der WHO.
    "Den einzigen Frieden, den ich seit meiner Kindheit erlebt habe, war zu Zeiten von Obote, unserem ersten Präsidenten. Er hat Uganda gut geführt."
    Es ist Abend geworden im Zentrum von Hope for HumaNS und ein Lagerfeuer brennt – mitten im Gebiet des Acholi-Stammes, genau dort, woher Joseph Kony kommt. Selbstverständlich kenne er Kony, erzählt Okello Nebucadnezar, einer der Dorfältesten in Odek:
    "Der ist ja hier aufgewachsen, seine Mutter ist die Straße runter beerdigt und nicht weit entfernt steht die Ruine jener Schule, in die Kony gegangen war. Bevor er Rebellenführer wurde und sein eigenes Volk terrorisierte."
    Konfliktreiche Geschichte ist wichtig
    "Man kann das Kopfnick-Syndrom nicht verstehen, wenn man die Geschichte der Konflikte hier nicht kennt, wenn man nichts weiß über die Gefühle von Vernachlässigung. Das ist Teil des Ganzen."
    Karin van Bemmel ist eine Medizinanthropologin aus den Niederlanden. Für ihre Promotion hat sie innerhalb von zwei Jahren insgesamt 15 Monate hier im Norden von Uganda gelebt und geforscht und die Sprache des Acholi-Volkes gelernt.
    "Das Stereotyp der Acholi ist vor langer Zeit entstanden: Acholi, die harten Krieger, vor denen sich die Menschen fürchteten. Jetzt, nach so langer Zeit der Abhängigkeit in den Lagern, sprechen die Acholi über sich selbst als leidende Menschen. Sie haben sehr unter dem Konflikt gelitten und nun leiden sie am Kopfnick-Syndrom."
    Der Bürgerkrieg in Uganda ist zwar noch nicht offiziell für beendet erklärt, aber die Rebellen sind abgewandert in die Nachbarländer Südsudan und Demokratische Republik Kongo. Im Norden von Uganda ist es nun recht ruhig.
    Okello Nebucadnezar: "Museveni regiert uns, aber wir im Norden interessieren ihn nicht. Wenn er wirklich besorgt gewesen wäre, hätte das alles nicht mehr als 20 Jahre gedauert."
    Ein paar Tage später. In Kampala, der Hauptstadt Ugandas. Ein Interview-Termin beim Gesundheitsministerium ist nicht zu bekommen. Dabei sind viele Fragen offen. Fragen wie:
    Was ist mit den Gerüchten um Bio- und Chemiewaffen, die angeblich im Kampf gegen den Rebellenführer Kony von Alliierten, ja vielleicht sogar den Amerikanern selbst zur Verfügung gestellt worden sein sollen und so das Kopfnick-Syndrom ausgelöst haben könnten?
    Und was ist mit dem Gerücht, dass ein paar Gehirne verschwunden sind oder versteckt werden?
    Forschung mit Hindernissen
    Bislang wurde das Gehirn von Kopfnick-Kindern nur anhand von Hirnscans und abgeleiteten Hirnströmen untersucht. Gewebeproben des Gehirns könnten neue Erkenntnisse liefern, hoffen Forscher. Ugandas Gesundheitsministerium soll den US-Gesundheitsbehörden CDC einige Gehirne von verstorbenen Nick-Kindern versprochen haben. In Ostafrika wird im Frühjahr 2014 gemunkelt: Es gibt diese Gehirne schon – aber niemand wisse, wo diese sind. Bemerkenswerte Informationen hat Miriam Nanyunja von der WHO in Uganda auch zu jenen Haut-, Blut- und Urinproben, die das CDC bei seinen zwei Forschungsreisen in Uganda gesammelt hat.
    "Die Idee war, dass jede Probe halbiert wird und ein Teil an das CDC in den USA geht und ein Teil hier bleibt für den Fall, dass andere Labore weitere Untersuchungen damit durchführen möchten. Aber ich habe erfahren, dass das wohl nicht passiert ist und alle Proben ans CDC ausgeführt wurden."
    Die Proben von der bislang umfangreichsten Untersuchung zum Kopfnick-Syndrom in Uganda: Einfach weg? Aus Versehen? Mit Absicht? Die WHO-Mitarbeiterin weiß es nicht. Zumal die Proben dem Gesundheitsministerium gehören würden. Die Weltgesundheitsorganisation könne eh wenig ausrichten, sagt sie. Genauso wie ihr WHO-Kollege aus dem Südsudan, Abdinasir Abubakar.
    "Die Hauptverantwortung liegt bei der Regierung und beim Gesundheitsministerium, sowohl im Südsudan als auch in Uganda. Die WHO hat den Auftrag, sie zu unterstützen und dafür die Ministerien, ihre Bedürfnisse und Forschungseinrichtungen in der ganzen Welt zusammenzubringen."
    So hatte Abdinasir Abubakar vor einiger Zeit auch Kontakt mit Forschern vom deutschen Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin.
    "Sie waren sehr angetan und interessiert. Sie hatten Hypothesen, Ideen. Aber ich weiß nicht, warum sie ihr Interesse verloren haben oder was passiert ist."
    Beim Bernhard-Nocht-Institut empfängt ein Forscher zum Interview mit den Worten, dass er nur allgemein etwas zum Kopfnicken sagen würde und allgemein zum Bernhard-Nocht-Institut – aber nichts über beides zusammen. Der Forscher mag auch nicht begründen, warum er nichts sagen will. Nach Wochen lässt die Pressestelle vom Institutsvorstand ausrichten: Ja, nach der WHO-Konferenz im Jahr 2012 habe man am Bernhard-Nocht-Institut ein Forschungsprojekt im Südsudan diskutiert; aber man habe sich dagegen entschieden, weil die Region so unsicher war; und Uganda sei als Alternative nicht in Frage gekommen.
    "There is something wrong with this area."
    Irgendwas stimme nicht mit dieser Region, in der das Kopfnick-Syndrom vorkommt, sagt Abdinasir Abubakar von der WHO im Südsudan. Wissenschaftler sollten nun untersuchen, inwiefern es eine genetische Komponente gibt, immerhin sei das Kopfnicken ja nur bei ein paar Volksstämmen zu beobachten. Und Unparteiische müssten den Gerüchten über Bio- und Chemiewaffen nachgehen. Immerhin: Ein ugandischer Forscher untersucht nun mit belgischen Kollegen, ob pilzbefallene Nahrungsmitteln das Gehirn von Kindern schädigt. Andrea Winkler aus München versucht, Forschungsgelder aufzutreiben, damit ein neues Konsortium die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Kopfnick-Kinder in Tansania, Uganda und Südsudan erforschen kann. Und die US-Forscher vom CDC bekommen nun doch Gehirnproben von ein paar verstorbenen Kopfnick-Kindern aus Uganda – Tageszeitungen in Kampala berichten im Mai 2014, dass entsprechende Proben in die USA geschickt wurden.
    "Hexenhaus und schwarzer Kater.
    Fledermäuse als Berater.
    Hexenmus und Zauberkuss.
    Du bist der, der suchen muss!"
    Juli 2014. Ein halbes Jahr ist vergangen, ohne dass ein Interview mit James Sejvar oder einem anderen CDC-Forscher zustande gekommen ist. Ein letzter Versuch: die Bitte um schriftliche Stellungnahme. Aus der Zentrale in Atlanta kommt eine knappe E-Mail: Man habe alle Forschungsergebnisse dem Gesundheitsministerium in Uganda und der Wissenschaftsgemeinde mitgeteilt; Gehirnproben würden gerade untersucht; und was die Munition angehe, stünde ja alles in dem einen Fachaufsatz.
    Nur ist dies eben jene Publikation, die anhand einer Umfrage Munition, Bio- und Chemiewaffen als Grund für das Kopfnicken ausschließt. In der E-Mail auch kein Wort zu den Proben, die angeblich "zu viel" von Uganda aus in die USA gelangt sind. Und kein Wort zu Gerüchten. Nicht nur Abdinasir Abubakar von der WHO im Südsudan findet das alles ziemlich verrückt und mysteriös.
    "It is extremely strange. Still this is a mystery."