Johny Pitts gibt gleich zu Beginn seiner Reise zu, dass er ein seltener Anblick in Europa sein dürfte: ein schwarzer Backpacker. Mit einem mühsam zusammengesparten Reisebudget hat er sich auf den Weg gemacht, um mehr als ein Panorama des schwarzen Lebens in Europa zu zeichnen. Es geht ihm um die Frage: Was soll dieses "Afropäisch" überhaupt sein? Eine sehr persönliche Frage, wie Pitts erläutert:
"Dieses Buch ist ein Versuch, die Reisereportage als Möglichkeit zu nutzen, sich vom Druck der Theorie zu befreien und die geheimen Freuden und Vorurteile anderer, aber auch meine eigenen, also das menschliche Selbst, ehrlich zu enthüllen. Ich will durch sie lernen, mit dem eigenen Schwarzsein und der eigenen Unvollkommenheit, wie sie auf dem Papier erscheinen, zufrieden zu sein. Und sie ist ein Versuch, mit dem Persönlichen zu beginnen, um zum Universellen zu gelangen."
Johny Pitts ist in einem Arbeiterviertel in Sheffield in Nord-England aufgewachsen und wurde für seine Arbeit als Autor, Fernsehmoderator und Fotograf mehrfach ausgezeichnet. Für seine Reportage, die jetzt ins Deutsche übersetzt wurde, reiste er monatelang kreuz und quer durch Europa: von Paris nach Brüssel, nach Amsterdam und Berlin, über Stockholm nach Moskau und weiter nach Rom, Marseille, Lissabon und landete letztlich wieder auf britischem Territorium, in Gibraltar. Seine Begegnungen schildert er eindrücklich, etwa die mit einer Gruppe US-amerikanischer Schwarzer während einer Stadtführung in Paris.
Andreas Eckert über Johny Pitts, Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2021 (05:42)
Für sein Buch "Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa" wird der Autor Johny Pitts mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet - einer der wichtigsten Literaturpreise hierzulande. "Eine gute Wahl", kommentierte der Historiker Andreas Eckert die Juryentscheidung im Dlf.
Für sein Buch "Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa" wird der Autor Johny Pitts mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet - einer der wichtigsten Literaturpreise hierzulande. "Eine gute Wahl", kommentierte der Historiker Andreas Eckert die Juryentscheidung im Dlf.
"Als wir alle uns einander vorstellten, fühlte ich mich, als stünde ich kulturell auf unsolidem Grund, als sei meine Identität im Vergleich zu der meiner amerikanischen Freunde nur vage und halb ausgebildet: Meinem englischen Akzent fehlte es an Substanz, wenn ich über schwarze Identität sprach, ihrer war hingegen von Erfahrung gesättigt; ihre Intonation war stärker von historischen schwarzen Narrativen bestimmt."
Verbindungen suchen und Brücken bauen
Es ist diese Verletzlichkeit, mit der der Autor seine Leser*innen an die Hand nimmt. Er gleicht seine Erlebnisse mit eigenen Erfahrungen ab, grenzt sich ab und fühlt sich ein. Daraus lässt sich keine eindeutige Identität ableiten, aber Pitts versteht es sehr gut, den eigenen Standpunkt, sein Verhältnis zu dem, was er erlebt, einzuordnen und nachvollziehbar zu machen.
"Der Begriff ‚afropäisch‘ war mein eigener Gegenstand der Betrachtung. Er war der Ausgangspunkt meiner Untersuchung und zugleich der von mir erhoffte Bestimmungsort: Eine schlüssige, gemeinsame, schwarze europäische Erfahrung, doch das schwarze Europa, das ich bereiste, hatte sich geweigert stillzustehen, und ich hatte begonnen, die Myriaden von Erfahrungen schwarzer Europäer als das, worum es eigentlich ging, zu betrachten. Der Begriff ‚afropäisch‘ war eine Möglichkeit, Brücken zu bauen; er war keineswegs absolut oder monolithisch."
Pitts leitet seine Reflektionen über die eigene Identität aus anschaulichen, spannenden, teils schwer erträglichen Beobachtungen ab. Zum Beispiel, als er in Belgien das Königliche Museum für Zentralafrika besucht, auf das er wegen dessen problematischen Verhältnisses zum belgischen Kolonialismus hingewiesen worden ist.
Unreflektierte koloniale Vergangenheit
Zwar steht neben einer Renovierung auch eine inhaltliche Erneuerung der Ausstellung bevor, aber noch werden alle Exponate mit alter Botschaft ausgestellt. In den Räumen des Museums betrachtet er die abgetrennten Köpfe afrikanischer Tiere und stößt auf die Überreste eines Schiffswracks.
"Hinter dem Schiffswrack befanden sich weiße Gussformen für afrikanische Köpfe und Körper, die der belgische Bildhauer Arsène Matton 1911 hergestellt hatte, um für die physische Anthropologie Statuen anzufertigen. Sie waren kurz zuvor in den Kellerräumen entdeckt worden – zusammen mit Notizen des Künstlers, in denen er darüber klagte, wie schwer es sei, Menschen zur Mitarbeit bei seinem Projekt zu bewegen. Sie rannten davon ‚aus Furcht vor dem Unbekannten‘, oder weil sie sich nicht nackt zeigen wollten."
Pitts versteht es in dieser dichten Reportage gekonnt, die koloniale Vergangenheit und Gegenwart des weißen Europas mit dem Leben schwarzer Europäer*innen zu verbinden - aber auch die Widersprüche europäischer Gesellschaften aufzuzeigen. So berichtet er davon, dass Schweden sich gegen das Apartheidsregime in Südafrika einsetzte.
"Passive Apartheid" in Schweden
Für die Gegenwart macht er beim Besuch des Migrant*innenviertels Rinkeby in Stockholm jedoch eine "passive Apartheid" aus. Die migrantischen Communities seien so gut wie unsichtbar, in Rinkeby würden sie darüber hinaus sich selbst überlassen. Exemplarisch hierfür beschreibt Pitts die Begegnung mit einem Mann, der lautstark behauptet, er sei Nelson Mandelas Bruder. Während ihm die meisten Passant*innen aus dem Weg gehen, geht Pitts auf ihn ein.
"Nachdem ich seine Geschichte gehört hatte, fand ich, dass dieser Mann jedes Recht hatte, Nelson Mandela als einen Bruder für sich in Anspruch zu nehmen. Seine Abenteuer: Flucht aus Südafrika, Gefängnis in Botswana, Guerillakrieg in Namibia und dann der Abstieg in Zerrüttung und Unsichtbarkeit in dieser Enklave im eiskalten Europa, war hier in Rinkeby keine ungewöhnliche Geschichte. Viele der Leute in diesem Viertel – Eritreer, Somalier, Äthiopier – waren nicht in ihren Sonntagskleidern herausgeputzt auf einem Schiff aus den Kolonien im Mutterland angekommen."
"Afropäisch" ist mehr als eine Ansammlung von Beispielen für Widerstand, Assimilation, Entwurzelung und den Folgen teils jahrhundertealter Unterdrückung. Schon die Zusammensetzung des Worts soll als Ansage verstanden werden.
"Deshalb ärgert das Wort ‚afropäisch‘ manche Leute; es ist eine provokative Komplikation für den Gedanken des ethnischen Absolutismus und lässt eine Assimilation vermuten, die das sogenannte ‚andere‘ nicht in Ghettos absondert oder durch Parodie oder Unsichtbarkeit neutralisiert, sondern es fest im Verständnis des Europäischen verankert."
Diese Reisereportage macht die Perspektiven schwarzer Europäer*innen sichtbar. Im besten Fall befördert es eine Auseinandersetzung, die insbesondere dem weißen Europa immer noch schwerfällt: die mit der eigenen kolonialen Vergangenheit und deren Kontinuitäten.
Johny Pitts: "Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa",
Suhrkamp Verlag, 461 Seiten, 26 Euro.
Suhrkamp Verlag, 461 Seiten, 26 Euro.