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Frank B. Wilderson III: "Afropessimismus"
Die Theorie der verlorenen Hoffnungen

Frank B. Wilderson III zeichnet ein düsteres Bild von der Condition humaine Schwarzer Menschen: Er sieht sie in andauernder, struktureller Sklaverei gefangen. Zugleich aber steckt in diesem Befund eine radikale Kritik am schleppenden Fortschritt der Gleichberechtigung.

Von Eberhard Falcke | 30.11.2021
Frank B. Wilderson II: "Afropessimismus"
Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Frank B. Wilderson II: "Afropessimismus" (Cover: Matthes und Seitz Verlag / Foto: John Blom)
Es war um das Jahr 1968 herum, als der zwölfjährige Frank mit den Nachbarjungs auf den Grünflächen des weiß dominierten Mittelstandsviertels, das ihr Zuhause war, Kalten Krieg spielte, CIA-Agenten gegen Sowjetspione. Da wurde der Schwarze Junge, als sie gerade hinter einem Schuppen in Deckung gingen, mit einer unerwarteten Frage konfrontiert:
" 'Hey', raunte Elgar mir zu.
'Ja', flüsterte ich zurück.
'Meine Mom hat mir gesagt, ich soll dich mal fragen, wie du dich als Negro fühlst.'
'Keine Ahnung', sagte ich nicht mehr ganz so leise."                         
Für Frank B. Wilderson zählt dieses Kindheitserlebnis zu den Schlüsselerfahrungen, die ihn auf den Weg zum "Afropessimismus" führten. Diesen Weg beschreibt er in seinem Buch mit dem gleichnamigen Titel. Dabei geht es um nichts Geringeres als um eine theoretische Radikalisierung der Sichtweise auf das Verhältnis zwischen Schwarzen Menschen und dem Rest der Welt.

Die verewigte Plantage

Für Wilderson werden Schwarze Menschen nicht nur diskriminiert, ausgebeutet und unterdrückt, sie sind vielmehr überhaupt vom Menschsein ausgeschlossen:
"Der Afropessimismus geht von der umfassenden und ikonoklastischen Behauptung aus, dass Blackness, dass Schwarzsein mit Sklaverei zusammenfällt: Blackness ist der soziale Tod; das heißt, dass es niemals ein Gleichgewicht gegeben hat; niemals einen Moment des sozialen Lebens. Was unterscheidet den Schwarzen von den Menschen? Es ist die Trennung zwischen sozialem Tod und sozialem Leben."                         
Das sind starke Behauptungen, um nicht zu sagen: erstaunliche Zuspitzungen. Dasselbe gilt für alle weiteren Schlussfolgerungen, die Wilderson daraus ableitet. Demzufolge leben Schwarze auch nach Beendigung der historischen Sklaverei nach wie vor in einer, wie es heißt, "relationalen" Sklaverei, in der jede beliebige weiße Person heute ähnlich über sie verfügen kann wie einst peitschenschwingende Plantagenbesitzer.

Persönliche Erfahrung als Basis einer Theorie

Beispiele für dieses andauernde Unterdrückungsverhältnis entnimmt der Autor den verschiedenen Stationen seiner eigenen Biographie, deren Darstellung in diesem Buch den größten Raum einnimmt. An der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre war der 1956 geborene Wilderson nicht direkt beteiligt, trotzdem nahm der Sohn eines erfolgreichen afroamerikanischen Akademiker-Ehepaars daran lebhaft Anteil.
1978 bekam er zusammen mit einer älteren Geliebten, die einem Korruptionsskandal auf die Spur gekommen war, zu spüren, wie das herrschende System mit unbequemen Gesellschaftsmitgliedern umging. Bei einem fünfjährigen Aufenthalt in Südafrika in der Endphase der Apartheid setzte er sich für soziale Gerechtigkeit ein und legte sich nicht nur mit der Universitätsverwaltung, sondern auch mit seinen Arbeitgebern in einem italienischen Restaurant an.
Bei all diesen Konflikten schlug ihm Rassismus entgegen, doch anstatt darin ein soziales, politisches oder systemische Fehlverhalten zu sehen, macht Wilderson daraus in seiner Analyse einen quasi-ontologischen Befund: Er definiert für die Schwarzen einen Sonderstatus unter den Menschen, durch den das Schwarze Leid zur Daseinsgrundlage für alle anderen wird.
"Schwarze werden nicht wie die Native Americans einem Völkermord zum Opfer fallen. Wir unterliegen zwar einem andauernden Völkermord, doch werden wir ausgelöscht und erneuert, da das Spektakel des Schwarzen Todes für die geistige Gesundheit der Welt unerlässlich ist."

Ein Zeichen des Zorns

Natürlich ist das Konzept des Afropessimismus, wie Wilderson ihn hier auslegt, umstritten. Mehrere Kapitel des Buches, in denen der Autor über seine internationalen Gastvorträge und Workshops berichtet, spiegeln diese Kontroversen wider. Besondere Irritationen ruft er mit seiner Bewertung der Schwarzen Existenz im Vergleich zu anderen Unterdrückten hervor. So erklärt er Gruppen, die ebenfalls um Gleichberechtigung kämpfen, kurzerhand  zu "Juniorpartner:innen" der weißen Männerherrschaft: sowohl People of Color, als auch weiße Frauen, nicht-Schwarze LGBTQ-Personen, genauso wie indigene Gemeinschaften. In ihnen allen sieht er Agentinnen und Nutznießer einer Anti-Blackness. Einwände dagegen quittiert er mit Kraftworten wie "Solidarität ist mir scheißegal".
Für politische Praxis und die konkrete Arbeit an gesellschaftlichen Veränderungen interessiert sich Wilderson genauso wenig, wie für eine fundierte, ausdifferenzierte Theoriebildung. Stattdessen betont er: 
"Man sollte den Afropessimismus als eine Theorie betrachten, die legitim ist, weil sie sich ein Mandat vom Besten der Schwarzen Kultur eingeholt hat; das heißt ein Mandat, die Analyse und die Wut zu artikulieren, die die meisten Schwarzen nur flüstern dürfen."                                                             
Tatsächlich besitzt der Afropessimismus, wie er hier dargestellt wird, seine größte Überzeugungskraft als zornige Reaktion auf all den Optimismus, der seit der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre so oft getrogen hat. Zwar bahnt Frank Wildersons Afropessimismus keine neuen Wege zur Befreiung, aber er ist ein trotziges und starkes Zeichen der Rebellion gegen den Status quo - vermutlich das radikalste Protestsignal, das derzeit in der afroamerikanischen Literatur auszumachen ist.
Frank B. Wilderson III: Afropessimismus
Aus dem Amerikanischen von Jan Wilm
Matthes & Seitz Verlag, Berlin.
416 Seiten, 28 Euro.