"'Houellebecq' (…) bezeichnet heute weniger ein konkretes Individuum als vielmehr eine Fiktion, einen Kristallisationspunkt zahlreicher, häufig widersprüchlicher und sich unablässig wandelnder Darstellungen, derer sich die kollektive Vorstellungswelt bedient", schreibt Agathe Novak-Lechevalier in ihrem Vorwort. Damit hebt sie den Literaten gleich auf den Sockel "Phänomen". Denn Houellebecq ist mehr als jemand mit einem ulkigen Namen, der sieben bösartige Romane mit depressiver Grundstimmung geschrieben hat. Dieser Schriftsteller hat eine ganze Epoche hypnotisiert.
Die Welt in Verwirrung
"Houellebecq entgleitet unserer Einteilung und versucht mit allen Mitteln,Verwirrung zu stiften. Dennoch ruft sein Werk, wie es viele der hier versammelten Texte belegen, bei seinen Lesern das Gefühl wach, die Welt, in der sie leben, wiederzuerkennen."
In seiner Heimat wird die politische Haltung der Figur Houellebecq viel kontroverser diskutiert als etwa in Deutschland. Nicht erst seit "Unterwerfung" gilt er als islamfeindlich. Als frauenfeindlich sowieso. Und auch seine Aussagen zur parlamentarischen Demokratie sind erratisch. Doch in diesem Band geht es nicht darum, den Autor ideologisch einzukreisen oder zu bewerten. Sondern, eine auch biografische Entwicklung deutlich zu machen.
"Postiert am Punkt, wo Raum und Zeit sich kreuzen,
Erkenne ich mit kaltem Blick den nahen Sieg des Nichts."
Erkenne ich mit kaltem Blick den nahen Sieg des Nichts."
Solch düstre Verse schrieb Michel Thomas schon als 20-Jähriger. Damals hatte er sich noch nicht den Namen seiner Großmutter als Pseudonym ausgeborgt.
Endzeitvisionen des Dichters als junger Mann
Die "Geschichte der nördlichen Zivilisationen" ist eine Endzeitvision, die in diesem Band erstmals veröffentlicht wird:
"Der letzte Kampf der Menschen aus der Ebene
Fand statt im fahlen Licht des Erdtrabanten.
Majestätisch eisbedeckte Gipfel aus Kristall
Gemahnten fortan an das Ende eines Volkes."
Fand statt im fahlen Licht des Erdtrabanten.
Majestätisch eisbedeckte Gipfel aus Kristall
Gemahnten fortan an das Ende eines Volkes."
Zwischen diese frühen Texte sind Kinderfotos eingestreut. Der kleine Michel in einer Art Seifenkiste oder, als Heranwachsender, versonnen durch Äste hindurchblickend. Auf einem unscharfen Urlaubsfoto des jungen Manns in Griechenland sind bereits die später charakteristischen houellebecqschen Frisur-Probleme erkennbar - strähnige, schwer beherrschbare Flusen.
Ein Kommilitone berichtet von der Zeit des gemeinsamen Landwirtschaftsstudiums:
"Die Gespräche mit Michel bestanden von seiner Seite aus vor allem aus Schweigen, hin und wieder von einem "Hm?" oder einem "Ja!" unterbrochen. Manchmal entwischte ihm ein Glucksen."
Apolitisch, also "rechts"?
Schon während dieser Studienzeit fiel also die stockende Redeweise auf, die später zum - mehr oder weniger bewusst - eingesetzten Markenzeichen werden sollte. Und: Er wurde er als politisch unzuverlässig eingestuft, nie dem Mainstream folgend:
"Michel ging als apolitisch durch, das heißt als Rechter. Zu Unrecht, denn ich glaube, dass er, würde er auf einer einsamen Insel leben, ohne irgendeinen Aktivisten in seiner Nähe, wohl eher links wäre."
Es ist ein spannendes Vergnügen, diesen Band durchzublättern. So unsystematisch und bruchstückhaft er aufgebaut ist: Aus den zahllosen Primärtexten, Rezensionen und sonstigen Äußerungen von und über Houellebecq tauchen immer wieder treffende Einschätzungen und Beobachtungen auf. Etwa die erste Kritik in einer größeren Zeitung Anfang der 90er-Jahre. Über den Essai "Lebendig bleiben" ("Rester vivant") hieß es in "Le Figaro littéraire":
"'Lebendig bleiben' ist eine Kriegserklärung an die Welt und zugleich eine Liebeserklärung an die Poesie. Dank der Treffsicherheit, Scharfsinnigkeit und Feinsinnigkeit ist 'Lebendig bleiben' ein wahrer Leitfaden aktueller Befindlichkeiten."
Kriegserklärung an die Welt
"Kriegserklärung an die Welt" - präziser könnte man Michel Houellebecqs Wirkung auch heute kaum beschreiben. Der Schriftsteller ist bis zu seinem jüngsten Roman "Serotonin" ein unbestechlicher Seismograph der "aktuellen Befindlichkeiten" geblieben.
Von Schriftstellerkollegen wie Julian Barnes oder Salman Rushdie sind Beiträge zu lesen. Auch die oft übersehen Ausflüge Houellebecqs in die Bildende Kunst, die Musik und den Film - etwa die Zusammenarbeit mit Iggy Pop - werden erwähnt.
Zu den aufregendsten Passagen zählen jedoch die Ausschnitte aus dem Email-Wechsel des Autors mit seiner Verlegerin. Teresa Cremisi hatte Houellebecq nach einem spektakulären Verlagswechsel zu Flammarion zurückgeholt und seither mit ihren geschickten Marketingkampagnen den Starkult um den extravaganten Autor in Szene gesetzt.
Besonders interessant wird es, wenn es um das geschickte Vorgehen bei der Veröffentlichung der Romane geht. Während der Buchmesse im Herbst 2014 hatte es ein legendäres Treffen zu "Unterwerfung" mit internationalen Verlagen gegeben, zu dem auch Houellebecq nach Frankfurt reiste.
"Das Hotel macht einen wunderbaren Eindruck, und Deutschland ist für Raucher noch immer eines der lebenswertesten Länder.
Seien Sie umarmt,
Michel."
Seien Sie umarmt,
Michel."
schreibt der Schriftsteller - es könnte eine Zeile aus einem seiner Romane sein.
Die Verlegerin antwortet ihrem "Lieben Michel":
"dass alle Ihre ausländischen Verlage (…) eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschrieben und den Text von Unterwerfung auf gut gesicherte Weise erhalten haben."
Für "Houellebecqianer" unverzichtbar
Geheimniskrämerei zählt gerade bei diesem genialen Selbstvermarkter zu den Ingredienzien des Erfolgs. Michel Houellebecq ist eben nicht nur ein scharfzüngiger Schreiber und finsterer Melancholiker, sondern auch ein ausgebuffter Stratege. Diesem Ausnahme-Schriftsteller, der ein Phänomen und ein Gesamtkunstwerk ist, huldigt dieser Band – der für jeden "Houellebecqianer" unverzichtbar ist.
Agathe Novak-Lechevalier (Hg.): "Michel Houellebecq"
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner
Dumont Verlag, Köln, 592 Seiten, 44 Euro.
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner
Dumont Verlag, Köln, 592 Seiten, 44 Euro.