Birgit Wentzien: Willkommen Herr Weise, im Interview der Woche des Deutschlandfunk. Es sind noch wenige Tage für Sie als Chef der größten Bundesbehörde zu bewältigen. Als Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, als Chef von hunderttausend Mitarbeitern und einem Etat von gut 34 Milliarden Euro. Ist der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, der Bundesagentur für Arbeit dann ohne Arbeit – wie muss ich mir das vorstellen?
Frank-Jürgen Weise: Für mich persönlich, nein. Ich werde – erstens – die ganze Erfahrung, die wir zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gesammelt haben, noch mit zur Verfügung stellen. Das heißt, auf Dinge hinweisen, die wir als Mängel entdeckt haben, Chancen beschreiben. Zweitens – das war immer meine Idee – werde ich die Hertie-Stiftung in Frankfurt, die aber auch hier in Berlin präsent ist, leiten – das mache ich jetzt schon –, mich da noch mehr engagieren. Na ja, und dann habe ich vielleicht noch das ein oder andere Mandat.
"Für mich ist Arbeit immer etwas Schönes gewesen"
Wentzien: Also, es ist alles in Sicht nach der Verabschiedung, außer, keine Arbeit?
Weise: Worauf ich mich freue, dass dann die Arbeit nicht mehr ganz so fremdbestimmt und ganz so intensiv ist.
Wentzien: Was bedeutet Arbeit für Sie? Jetzt hier auf dem Posten, seither, Zeit ihres Lebens. Ist das wichtig, ist das ein Lebenselixier möglicherweise auch? Sie waren immer unterwegs und werden das jetzt auch weiterhin sein.
Weise: Ja, ich werde sogar, wenn ich jetzt aufhöre, 45 Dienstjahre erreichen.
Wentzien: Das ist mehr, als ein Eckrentner im Schnitt erreicht.
Weise: Und das ist etwas Schönes. Ich meine, ich kenne Menschen, die das gerne hätten und nicht haben. Für mich ist Arbeit immer etwas Schönes gewesen. Was ich aber auch gespürt habe, wenn sie zu intensiv ist und auch zu fremdbestimmt, dann wird Arbeit zur Last. Und bei mir war es ja so, wenn ich abends nach Hause gefahren bin, habe ich Deutschlandfunk gehört und ihre Kommentare und am Wochenende die Zeitung aufgeschlagen und meine Interviews gesehen. Das war ein Tick zu viel und deshalb freue ich mich jetzt auf Arbeit, aber in einem guten Maße.
Wentzien: Warum damals Nürnberg? Ich will da nochmal bitte dranbleiben. Und Sie selber haben Ihren Weg bis dorthin ja auch schon beschrieben. Sie waren Soldat auf Zeit, haben bei der Bundeswehr Betriebswirtschaft studiert. Haben dann lange Jahre in der Industrie gearbeitet. Waren erfolgreicher Unternehmer. Und Sie hatten justament zu diesem Zeitpunkt gerade die eigene Firma verkauft, das heißt, Sie mussten überhaupt nicht arbeiten. Wer hat Sie überredet zu diesem Job?
Weise: Also, erstens war mir klar, dass ich gerne weiterarbeiten wollte. Ich war damals 50 gerade geworden. Und, wenn Sie es so wollen, das war kein großer, genialer, strategischer Plan. Das war ein Zufall, dass dann der Herr Gerster in dem Fall mich angesprochen hatte, dass dann der Verwaltungsrat sagte: ‚Wir können so jemanden gebrauchen, der mit Industrieerfahrung kommt’. Und dann hat mich doch diese Aufgabe in einem staatlichen Bereich und diese große Aufgabe gereizt. Wäre was Anderes gekommen, hätte ich das vielleicht gemacht. Also, das war mit eine Zufälligkeit – rückwärtsgesehen, sehr schön.
Weise: Also, erstens war mir klar, dass ich gerne weiterarbeiten wollte. Ich war damals 50 gerade geworden. Und, wenn Sie es so wollen, das war kein großer, genialer, strategischer Plan. Das war ein Zufall, dass dann der Herr Gerster in dem Fall mich angesprochen hatte, dass dann der Verwaltungsrat sagte: ‚Wir können so jemanden gebrauchen, der mit Industrieerfahrung kommt’. Und dann hat mich doch diese Aufgabe in einem staatlichen Bereich und diese große Aufgabe gereizt. Wäre was Anderes gekommen, hätte ich das vielleicht gemacht. Also, das war mit eine Zufälligkeit – rückwärtsgesehen, sehr schön.
"Das ist der Erfolg, dass man besser rausgeht, als man reingegangen ist"
Wentzien: Damals waren auch – nochmal eine Rückblende – mehr als fünf Millionen Menschen ohne Beschäftigung im Land. Heute sind es nur noch gut halb so viele. Damals war die Bundesbehörde, die Bundesanstalt, die jetzige Bundesagentur, wenn wir es vornehm formulieren – Herr Weise, Sie müssen nichts sagen an dieser Stelle –, zumindest unterkomplex – Sie sagen auch nichts, ich höre es schon. Heute gibt es Milliarden Überschüsse durch die Arbeit in der Agentur für Arbeit, die Sie geleistet haben. Der Beitrag für die Arbeitslosenversicherung konnte drastisch sinken. Das ist Ihre Bilanz. Eine Bilanz, die Sie zufrieden sein lässt?
Weise: Es ist die Bilanz der Menschen. Denn wenn wir heute, ich sage mal, viele fleißige, mobile, flexible Menschen haben, dann ist das Haltung und Einstellung, es ist der Erfolg der Unternehmer, die eben etwas unternehmen, etwas riskieren. Ich sehe das klar auch als Erfolg der Politik, die damals den Mut hatte, bei aller notwendigen, kritischen Nachbehandlung, diese Agenda 2010 zu setzen. Denn die Ausgangslage war miserabel, in jeder Hinsicht für die Menschen. Und wir als Bundesagentur haben in diesem Rahmen über unsere Beschäftigten einen richtig guten Beitrag geleistet. Das, glaube ich, ist die richtige Bilanz, und darüber kann man sich nur freuen. Das ist der Erfolg, dass man besser rausgeht, als man reingegangen ist.
Wentzien: Politik damals, das war der Bundeskanzler Gerhard Schröder und das war die Agenda, die Reformagenda 2010, die, glaube ich, in dem Moment noch gar nicht so richtig begriffen wurde, was sie für Folgen hat und haben könnte. Die jetzige Bundesregierung kann und hat ja ganz maßgeblich auf diesen Erfolgen aufbauen können. Meinen Sie, es wäre Zeit, dass wieder so ein kraftvoller Punkt gesetzt wird? Und wünschen Sie sich das manchmal in Kenntnis der Zeit?
Weise: Also, es ist gut immer wieder – und das sind so Zeiträume von zehn Jahren –, gut die Dinge in Frage zu stellen und zu überlegen, wie es weitergeht. Das betrifft, dass man sagen kann, man erkennt Mängel und korrigiert die. Was ich aber für viel wichtiger halten würde ist, wir sehen in der Arbeitswelt, die Digitalisierung ist angekommen. Die Berufe, die Tätigkeiten, die Arbeitsverträge, die Arbeitsorte, alles wird sich ändern. Und die jungen Menschen machen das mit Begeisterung. Und jetzt würde ich von Politik erwarten, dass man überlegt, wie kann man das unterstützen, nach vorne gerichtet. Wie kann man Menschen in ihren Talenten, in ihren Fähigkeiten zu Leistung bringen, damit wir dann auch denen helfen können, die unsere Liebe und Zuwendung bekommen müssen.
Das ist sozusagen jetzt als Staatsbürger meine Erwartung, die ich habe. Und da sind so Zehn-Jahres-Räume gut. Denn ich erinnere mich gut daran: Schröder war weit entfernt, aber Minister Clement hatte ja diese Umsetzung mit uns organisiert. Und ich finde es sehr vertrauensvoll, dass bis hin über die Minister von der Leyen bis jetzt zur Ministerin Nahles, die Dinge mit uns im Vertrauen weiter betrieben worden sind. Und es hat ja zehn Jahre gedauert, bis wir vom "kranken Mann Europas" in eine gute, neue Lage gekommen sind.
"Wenn wir alle in Risiken und Angst verfallen, dann macht irgendjemand das Licht aus"
Wentzien: Aber es gibt Ängste vor Verlust. Es gibt Ängste davor, dass mein Berufsbild morgen anders aussehen wird, dass ich mehr und anderes lernen muss. Diese Verunsicherung ist im Land zu spüren.
Weise: Absolut. Und ich kann auch nicht individuell sprechen. Wenn ich in Ihre Branche reinsehe, gibt es viele, die haben nur eine freie Mitarbeit, die sind nur befristet – das ist individuell kein guter Zustand. Ich habe aber jetzt von der volkswirtschaftlichen Entwicklung gesprochen. Und da ist der einzige Lösungsweg, dass wir versuchen, in diesen Risiken trotzdem Zuversicht, Mut, unsere Perspektive zu behalten. Dann können wir gegen die Risiken auch Absicherung stemmen. Wenn wir alle in Risiken und Angst verfallen, dann ist Schluss, dann macht irgendjemand das Licht aus.
Wentzien: Herr Weise, Sie haben zum Schluss einen Tusch gesetzt – wenn Sie dieses Bild gestatten. Sie haben Laut gegeben, sehr deutlich, wie wohl Sie sich ja auf Posten über Jahre hinweg sehr zurückgehalten haben und sehr zurückgenommen haben. Sie haben immer gesagt: 'Ich bin kein Troubleshooter, ich bin ein Manager, ein guter Manager, ein Entscheider und ich setze um.' Sie haben Anfang März in einem Meinungsartikel in der FAZ vom "Süßen Gift der Subvention" gesprochen und Sie haben vor diesem Gift gewarnt. Diese Warnung ging an den SPD-Kanzlerkandidaten und inzwischen jetzt Parteichef, Martin Schulz, der ja über ein längeres Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose nachdenkt und das an Qualifizierung koppeln will. Warum ist das aus Ihrer Sicht der falsche Weg?
Weise: Also, das ging nicht an Herrn Schulz. Der ist viel höher, viel wichtiger, als ich. Auf dieser Ebene der Diskussion bewege ich mich nicht. Aber ich habe schon überlegt in der Diskussion zum Thema Gerechtigkeit: Was ist dann eigentlich mein Mandat als BA-Chef? Und das ist die Bundesagentur für Arbeit. Und wenn ich ... und das gilt wiederum nicht für den einzelnen Menschen, da habe ich einen anderen Blick drauf, wer in Not ist, bedarf der Unterstützung in jeder Form. Aber "für Arbeit" heißt, die Voraussetzung zu schaffen, dass Menschen mit ihren Talenten arbeiten können, dass sie Erfolg haben, dass sie gut bezahlt werden. Und das muss unterstützt werden.
Wenn ich die Absicherungen alle um X Euro erhöhe, habe ich mehr Leistungsempfänger geschaffen. Darüber muss man sich im Klaren sein. Der erste Schritt muss sein: Wie können wir Talente erkennen? Zum Beispiel, nicht immer auf Schulnoten starren oder Abschlüsse, sondern sagen: 'Da ist jemand, wirkt ungewöhnlich, aber ist als junger Syrer mathematisch begabt und kann vielleicht hier mitarbeiten.' Das sind die Themen, die ich an erster Stelle sehe. Und das war gar nicht politisch, auch nicht außerhalb meiner bisherigen Reaktionen, das war der Abschluss Bundesagentur für Arbeit.
Arbeit subventionieren, Arbeit unterstützen, Talente anerkennen
Wentzien: Sie haben aber auch gesagt in diesem Artikel – und die zeitliche Koinzidenz war einfach in dem Moment gegeben, ich, als Leser habe Sie gelesen und habe zugleich die Aussagen von Herrn Schulz im Ohr gehabt –, Sie haben auch gesagt: Wenn man das macht und alles an Qualifizierungen mit höheren Zahlungen bedenkt, dann ist das eine Sackgasse, die keine Arbeitsplätze schafft, sondern den Steuer- und Beitragszahler belastet. Das waren Ihre Aussagen, die man durchaus im Kontext mit dem damals nur plakativen Wunsch und Bestreben von Martin Schulz hat lesen können.
Weise: Ja sicher. Ich meine, es ist immer die Frage: Wie wirkt das? Und wenn Sie das so beschreiben, ist das so. Und jemand, der so die Diskussion beginnt, der hat doch Freude daran, sich dieser Diskussion zu stellen. Und dann müssen alle Aspekte auf den Tisch. Und für die Bundesagentur für Arbeit bedenke ich nur: Wenn es einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung nach drei Monaten Arbeitslosigkeit gäbe – die durchschnittliche Arbeitslosigkeit ist heute aber schon etwas mehr als drei Monate –, dann würde das bedeuten, dass wir Menschen dieses anbieten. Manche wollen das in dieser Form gar nicht haben, manchen hilft auch gar keine Qualifizierung, sondern es gilt schlichtweg für sie und ihre Talente Arbeit zu finden. Und dann muss ich rechnen und dann sieht die Rechnung eben so aus: Das könnte Milliarden kosten. Also, insofern nicht überzeichnet, aber ein Beitrag für diese – erstens mal – Gerechtigkeitsdebatte – die wird ja geführt in der Gesellschaft. Und zweitens: Was bedeutet das für die Bundesagentur für Arbeit? Und ich glaube, es wird auch gut aufgegriffen. Denn die Frage ist ja dann, wofür setzt man Milliarden ein?
Wentzien: Aber man hat Ihnen schon unmittelbar nach dem Artikel vorgeworfen: Da ist das Mitglied der CDU, da ist jemand, der politisiert ganz zum Schluss. Kratzt Sie das, wenn Sie sowas hören?
Weise: Also, offen gesagt, mich hat so niemand angesprochen.
Wentzien: Dann mach ich es jetzt.
Weise: Ich habe eher die Rückmeldung bekommen für die notwendige Debatte, die ja in der Gesellschaft ist um die Frage: Ist da der Mittelstand gefährdet? Was ist Gerechtigkeit? Dann war das aus der Aufgabe heraus ein Beitrag, der sich konsequent auf die 15 Jahre Geschäftspolitik bezieht, die ich betrieben habe: Arbeit zu subventionieren, Arbeit zu unterstützen, Talente anzuerkennen, um dann als letzte Lösung die wirklich zu unterstützen, die der Unterstützung bedürfen.
"Die Beratung der Menschen, das ist die Hauptaufgabe"
Wentzien: Ihre Alternative – Sie haben es schon anklingen lassen – lautet: Besser die Menschen im Beruf qualifizieren und da nicht nachlassen und dafür möglicherweise auch mehr Geld in die Hand nehmen. Ist das die Arbeit der Zukunft? Und wenn Sie jetzt nach vorne schauen, Herr Weise, wird aus der Bundesagentur für Arbeit eine Bundesagentur für Weiterbildung, möglicherweise?
Weise: Jetzt sind wir ja schon schwer abgerutscht in die Zukunft. Ich kann ja wirklich nur für mich das beschreiben. Durch den Rückgang der Arbeitslosigkeit, haben wir jetzt noch Menschen, die ganz individuelle Anliegen haben. Und diese Beratung der Menschen, das ist die Hauptaufgabe. Deshalb gibt es die Jobcenter, deshalb gibt es zum Beispiel wesentlich mehr Berater, die für die arbeitssuchenden und arbeitslosen Menschen zur Verfügung stehen. Dann gibt es eine Möglichkeit Geld auszugeben und zu qualifizieren. Aber oft ist es auch eine Frage der guten Anleitung und Beratung, sich zu überlegen, was man wirklich kann, wo ist denn noch eine Lücke im Arbeitsmarkt, wie mobil, wie flexibel kann man sein. Insofern ist das logisch, dass wir bei einer geringer werdenden Arbeitslosenzahl und einer großen Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt, das Individuelle, das Finden in der Nische, in den Vordergrund stellen. Und dann kommt auch das Zweite – ja –, da ist die Frage der Qualifikation, hat jemand noch ein Gabelstaplerführerschein, gibt es einen Schweißerlehrgang, das kann dann ausschlaggebend sein, dass man doch den Schritt in den Arbeitsmarkt wiederfindet.
Wentzien: Wenn Sie das Kapitel Arbeit, Ihre Arbeit und die Arbeit der Bundesagentur bilanzieren: Wir haben normale Arbeitszeitverhältnisse, die boomen. Wir haben eine Zahl der Erwerbstätigen, die wächst. Die Sozialkassen sind bestens gefüllt, die Steuereinnahmen sind hoch und die Sozialausgaben sind gering. Sie haben es schon angedeutet grade eben: Warum ist trotz allem eine so immense Verunsicherung, auch eine Angst bei den Menschen zu spüren, die natürlich im Moment auch von Stimmungspiraten und Schlichtheitsgiganten eingesammelt wird? Wie erklären Sie sich diesen Gap, zwischen den guten Wirtschaftsdaten auf der einen Seite und dieser großen Angst, die man spürt im Land bei den Menschen?
Weise: Also, wenn individuell jemand in Not ist, dann hilft es ihm gar nichts, dass es im Schnitt ganz gut geht. Und davor habe ich großen Respekt, und das ist ja auch unsere Aufgabe im staatlichen Bereich. Zweitens – Sie haben es beantwortet –, diese Angst, diese Nöte sind nicht gerechtfertigt. Das sehe ich, wenn ich zurückschaue in unsere eigene Vergangenheit. Das sehe ich erst recht, wenn ich nach Europa schaue, wo Menschen wirklich Sorge haben müssen, ob sie ihre Familie ernähren und bei uns – nochmal, jetzt nicht individuell – insgesamt eine Entwicklung ist, wie wir uns sie uns haben kaum träumen lassen. Und da würde ich jetzt schon mal daran erinnern, dass man sagt: Das Leben insgesamt ist risikoreich, auch Arbeit ist in Frage gestellt, aber man kann etwas dagegen tun. Und für die meisten Menschen ist das erfolgreich.
Und deshalb stemme ich mich gegen diese Stimmung, die beschreibt, welche Gefahren, Ängste sind im Raum. Ich spreche dafür, dass die Ausgangslage gut ist. Und vielleicht noch eine Ergänzung: In guten Zeiten muss man wiederum angespannt sein, warum macht es das gut und wie kann man das Gute halten. Und deshalb mein Beitrag: Was macht es denn gut? Arbeit! Dass die Menschen Arbeit haben, entwickelt werden, gefördert werden und nicht auf soziale Absicherung schauen.
"Ich freue mich über diesen Rechtsstaat, den wir haben"
Wentzien: Aber ich habe jetzt nochmal ganz genau nachgeschaut: Sie haben auch in letzter Zeit schon mal sozialdemokratisch argumentiert, Herr Weise. Sie haben gesagt: 'Klar, das ist die Situation der guten Wirtschaftsdaten auf der einen Seite, aber wir haben Unternehmenseinkommen, die viermal stärker steigen als Löhne. Wir haben internationale Unternehmen hier im Land, die bestens verdienen und keine Steuern zahlen.' Und sozialdemokratisch argumentiert, Sie haben gesagt: 'Das ist eine Gerechtigkeitsfrage, die schwierig ist, aber dringend beantwortet werden muss.' Das ist ja immer so eine Vision. Jetzt ganz kurz, bevor wir bitte das zweite Lebenskapitel ein bisschen bilanzieren: Leben wir in einem gerechten Land?
Weise: Das sind die Themen, die gehören bei dem Thema "für Arbeit" mit dazu. Dass ich sage: Unternehmen haben genauso ihren Beitrag zu leisten. Erstens mal zum Beispiel, Aus- und Weiterbildung der Menschen, die bei ihnen arbeiten, sie zu befähigen, dass sie in der Digitalisierung ihren Job behalten können. Und zweitens natürlich, dass nach den Regeln hier die Steuern gezahlt werden. Und wenn so eine Lücke auftaucht, wie diese Mehrwertsteuerkreisel, die entstanden sind – na ja –, dann bin ich nicht der Fachmann zu sagen, wie ich das machen, aber ich bin bei einem ganz gewissen: So etwas muss abgestellt werden, sonst empfänden das die Menschen als ungerecht.
Wentzien: Leben wir in einem gerechten Land?
Weise: Ja, eindeutig – mit allen Facetten, die ein Staat leisten kann. Das verhindert nicht Ungerechtigkeit, auch mal in einem Gerichtsverfahren, das verhindert nicht individuelles Empfinden von Ungerechtigkeit oder auch tatsächliches Wirken. Aber ich freue mich über diesen Rechtsstaat, den wir haben.
Wentzien: Frank-Jürgen Weise ist zu Gast im Interview der Woche des Deutschlandfunk. Herr Weise, Ihr Nebenjob, neben dem Hauptjob des Vorstandschefs der Bundesagentur für Arbeit, das war bis zum Herbst letzten Jahres das Ehrenamt der Leitung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Diesen Posten hat inzwischen Ihre Nachfolgerin, Jutta Cordt, inne. Lassen Sie uns bitte auch bei diesem Amt Bilanz ziehen. Wissen wir jetzt in diesem Moment, in diesem Frühjahr, wer im Land ist? Kennen wir alle Flüchtlinge?
Weise: Die technischen Voraussetzungen und die rechtlichen und organisatorischen dafür sind geschaffen. Was noch fehlt ist, dass alle Ausländerbehörden, bei denen ja die Menschen immer erfasst waren, diese Daten in das Kerndatensystem des Bundes geben. Dann kann man in letzter Konsequenz sagen: Da war ein Mensch bei zwei Ausländerbehörden unter zwei verschiedenen Namen gemeldet und der Fingerabdruck macht das jetzt deutlich. Insofern: Alle Voraussetzungen sind geschaffen, wir sind in der Abarbeitung. Ich würde sagen – vorsichtig –, weitgehendst wissen wir das jetzt.
"Wir müssen über alle föderalen Ebenen den Austausch haben"
Wentzien: Werden wir bitte konkret. Sie selbst haben zum Fall des Berliner Attentäters, Anis Amri, intensiv Stellung genommen und zwar vor dem Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtages. Ganz kurz zur Erinnerung: Amri hat sich vor dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche eineinhalb Jahre lang in Deutschland aufgehalten und mehr als 40 – in Worten vierzig – Behörden waren mit ihm befasst. Das waren Polizeidienststellen, Nachrichtendienste, Landeskriminalämter, das Bundeskriminalamt, Ausländerbehörden, Innenministerien und Staatsanwaltschaften. Sie kommen selber zu dem Schluss, Herr Weise, und haben vor dem Untersuchungsausschuss gesagt, der Abgleich von Daten sei nicht so gelaufen, wie es Bürger vom Staat erwarten konnten. War das Staatsversagen oder war das Amtsversagen? Und, ehrlich gesagt, angesichts der Herausforderung, das ist ja nicht vorbei: Ist der Staat an der Stelle aufgeräumt und aufgestellt?
Weise: Also, diese Zahl 40 ist ein bisschen umstritten, aber im Prinzip ist es so. Wir konnten auch zwischen Bundesbehörden nicht ohne Weiteres den Fingerabdruck, das Lichtbild und Daten weitergeben. Und man muss es auch ernst nehmen: Gehen Sie davon aus, es würden Krankheitsdaten, die an einer Stelle erfasst werden, an die Bundesagentur für Arbeit weitergegeben, die mit Krankheit in dem Sinne gar nicht ursprünglich was zu tun hat. Also, es gab schon Gründe, dass man das vielleicht nicht gemacht hat. Aber die Situation – und ich glaube auch generell – ist jetzt klar: Wir müssen über alle föderalen Ebenen den Austausch haben, eindeutig wissen, wer im Land ist. Das ist eben erst mit diesem Gesetz im Februar 2016 geschaffen worden. Jetzt arbeiten wir alles ab – weitgehendst ist das geschehen. Das wird aber erst erledigt sein, wenn sozusagen von allen Ausländerbehörden die Daten in einem Kerndatensystem drin sind und dann festgestellt werden kann: Hier gibt es zwei Namen und einen Fingerabdruck – dann muss nachgefragt werden.
Wentzien: Passierte alles zu spät und mit einem unverantwortlichen zeitlichen Loch, angesichts der Entwicklung des Terrorismus?
Weise: Na ja, wenn Sie so wollen, gemessen an dem Ereignis, dann zu spät, eindeutig. Aber die Frage ist ja anders: Wollte man es nicht sehen? Konnte man es nicht sehen? Hat man es nicht gesehen? Da muss man vorsichtig sein – alle Entscheidungen zu ihrer Zeit. Was aber entscheidend ist, dass man es erkennt, anerkennt und abstellt – und das hat Politik gemacht. Und wir konnten dann als Amt in der Folge ganz schnell die Dinge abarbeiten.
"Vorbereitet auf die Themen, die kommen, kann nicht Deutschland alleine sein"
Wentzien: Sie kennen die Situation der Flüchtlinge so genau wie kaum jemand anderes im Land. Sie selber haben von einer "Jahrhundertaufgabe" gesprochen und davon, dass die große Bewährungsprobe der Bewältigung dieser Aufgabe eigentlich noch bevorsteht. Wenn man daran denkt, wie viele Menschen möglicherweise auch beispielsweise nach Deutschland und Europa kommen wollen, ist dieses Land darauf jetzt vorbereitet? Und ist das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei auch ein Muster mit Wert für andere nordafrikanische Länder beispielsweise?
Weise: Wir sind jetzt in der Lage in Deutschland, Menschen, die aus Fluchtgründen zu uns gekommen sind, die auch sonst zu uns kommen, denen zu begegnen und mit denen zu arbeiten, bis hin zu Sicherheitsaspekten, wie es der Bürger verlangt, wie man es eigentlich von Deutschland erwartet. Das war eine schwierige Phase – das ist gelöst. Vorbereitet auf die Themen, die kommen, kann nicht Deutschland alleine sein, das ist eine EU-Frage. Ich finde Deutschland mit der Haltung, wir sind bereit, Menschen aufzunehmen, aber erstens nicht alle und zweitens nur in einer guten Abstimmung mit der EU, absolut richtig. Wir könnten das sonst der Bevölkerung, die da ist, nicht erklären. Und ich finde es vorbildlich, wie unsere Regierung erst mal Leistungen erbringt und dann allerdings die anderen auffordert, sich anzuschließen. Und es wird kein Weg daran vorbeigehen, diese Art von Kontingenten, wie es ja auch der UNHCR beschreibt, wie es die Amerikaner machen, dafür zu sorgen, dass wir den Menschen Schutz geben können, wenn sie ihn brauchen, das Ganze aber auch vertret- und verarbeitbar für unser Land.
Wentzien: Herzlichen Dank an den künftigen Beauftragten des Bundesinnenministeriums. Herzlichen Dank fürs Hiersein, Frank-Jürgen Weise.
Weise: Danke an Sie, Frau Wentzien.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Frank-Jürgen Weise war seit 2002 Finanzvorstand und ab 2004 Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit. Er wird kommende Woche verabschiedet und bleibt weiterhin Beauftragter für Flüchtlingsmanagement der Bundesregierung.