Die Gewerkschaften hätten schon lange Korrekturen an der Agenda 2010 gefordert. Hoffmann sagte weiter, er halte es vor allem für richtig, dass über befristete Arbeitsverträge geredet werde. Mittlerweile seien in Deutschland deutlich mehr junge Menschen befristet beschäftigt als noch vor ein paar Jahren. Das vertrage sich nicht mit dem Schutz von Arbeitnehmern.
Hoffmann forderte insgesamt mehr Sicherheit für die Beschäftigten. In dieser Hinsicht sei eine Ausweitung der Bezüge von Arbeitslosengeld I, wie Schulz sie fordert, eine Hilfe. Das vermittle mehr Sicherheit.
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: "Fehler zu machen, das ist nicht ehrenrührig. Wichtig ist, dass diese Fehler korrigiert werden, wenn sie erkannt worden sind. Wir haben sie erkannt." – Die Botschaft von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz war unmissverständlich. Er will Änderungen an den Beschlüssen, die im Zusammenhang mit der Agenda 2010 getroffen worden sind und die dazu geführt haben, dass sich nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Wähler deutlich und nachhaltig von der SPD abgewendet haben. So will Schulz die Auszahlung des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer länger zahlen lassen, auch wenn er Details offenließ. Außerdem will er befristeten Arbeitsverträgen einen Riegel vorschieben und Verbesserungen bei der Mitbestimmung. Bei den Arbeitgeberverbänden und Wirtschaftsexperten hagelte es massiv Kritik.
Viele Vorschläge habe Martin Schulz ohne Kenntnis der Zahlen oder der Rechtslage in Deutschland formuliert, so die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände. Eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes habe nur zur Folge, dass Langzeitarbeitslosen nicht mehr richtig geholfen werde, so die andere Kritik. – Dazu begrüße ich jetzt Reiner Hoffmann, den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Schönen guten Morgen, Herr Hoffmann. Herzlich willkommen.
"Die deutschen Gewerkschaften sind parteipolitisch unabhängig"
Reiner Hoffmann: Schönen guten Morgen, Herr Heckmann.
Heckmann: Herr Hoffmann, Martin Schulz setzt sich von der Agenda 2010 ab. Haben Sie die SPD im Gegenzug jetzt wieder lieb?
Hoffmann: Ich begrüße natürlich, dass Martin Schulz die Fehlentwicklung auf dem Arbeitsmarkt zum Thema gemacht hat und Korrekturen an der Agenda 2010 vornehmen will, die aus Sicht der Gewerkschaften schon seit Langem notwendig sind.
Hoffmann: Und wird das dazu führen, dass die Gewerkschaften sich jetzt wieder zu einer Wahlempfehlung wie in früheren Zeiten durchringen können?
Hoffmann: Das werden die deutschen Gewerkschaften mit Sicherheit nicht machen. Wir sind seit über 70 Jahren Einheitsgewerkschaft. Das heißt, wir sind parteipolitisch unabhängig, aber politisch nicht neutral, und wir versuchen, natürlich mit allen demokratischen Parteien in diesem Lande konstruktiv zusammenzuarbeiten.
"Junge Menschen brauchen Sicherheit, wenn sie Familie planen wollen"
Heckmann: Wobei das ja auch schon mal anders war. Da war die Nähe zwischen SPD und Gewerkschaften ja durchaus zu beobachten.
Hoffmann: Da gab es durchaus Spannungen und ich erinnere daran, dass der noch Parteivorsitzende Sigmar Gabriel bei seiner Wahl vor gut sieben Jahren gesagt hat, dass das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und der SPD sich nie wieder so weit voneinander entfernen sollte wie zuzeiten der Agenda 2010. Und da muss man, glaube ich, konstatieren, dass wir in den letzten Jahren durchaus Fortschritte gemacht haben.
Heckmann: Dennoch sind die Ankündigungen, die Martin Schulz ja gemacht hat, relativ vage geblieben. Er hat sich ja nur recht grob geäußert. Ist das Ganze aus Ihrer Sicht eigentlich eine Abkehr von der Agenda-Politik, wie es überall auch zu lesen ist, oder sind das möglicherweise nur neue kosmetische Korrekturen, die nur zur Symbolpolitik taugen?
Hoffmann: Ich glaube nicht, dass es sich hier um kosmetische Korrekturen handelt. Wenn man sich anschaut, dass Martin Schulz das Thema sachgrundlose Befristung aufgegriffen hat, dann halten wir das für absolut richtig und notwendig, und da kann ich auch nur in Richtung Arbeitgeber sagen, dass wir uns nicht auf den Weg machen sollten wie auf der anderen Seite des Atlantiks, mit alternativen Fakten Politik machen zu wollen, sondern wir haben die Situation, dass gerade junge Menschen im Alter von 25 bis 34 Jahren, dass rund 17 Prozent dieser jungen Menschen in befristeten Arbeitsverträgen stecken. Das sind deutlich mehr als noch vor ein paar Jahren und hier brauchen wir dringend Korrekturen, weil Menschen, gerade junge Menschen brauchen Sicherheit, wenn es beispielsweise darum geht, dass sie Familien und Partnerschaft planen wollen.
Meine Patentochter, mit der ich gerade vor zwei Tagen gesprochen habe, die hat eine erfolgreiche Berufsausbildung abgeschlossen, hängt aber seit drei Jahren in ständigen Befristungen drin. Das verunsichert und ich denke, es ist an der Zeit, dass nicht nur die Unternehmen sichere Rahmenbedingungen fordern, sondern dass wir den Menschen auch wieder mehr Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt geben, insbesondere in Zeiten, wo sich der Arbeitsmarkt, wo sich die Arbeitswelt rasant wandelt.
"Sachgrundlose Befristung wirklich ersatzlos streichen"
Heckmann: Wo wir gerade bei den befristeten Verträgen sind, Herr Hoffmann. Sie haben gerade den Arbeitgebern das Operieren mit alternativen Fakten vorgeworfen. Dieser Vorwurf, der trifft aber vor allem auch auf Martin Schulz zu, denn der hat behauptet, dass 40 Prozent der 25- bis 35-Jährigen über einen solchen befristeten Vertrag verfügen. In Wahrheit sind – Sie haben es gerade schon gesagt – 18 Prozent. Arbeitet auch die SPD mit alternativen Fakten, mit Fake News?
Hoffmann: Was Martin Schulz meint, dass 40 Prozent der Befristungen genau diese Altersgruppe betreffen zwischen 25 und 34 Jahren. Von daher ist die Zahl durchaus richtig.
Heckmann: Das heißt, er hat ein paar Sachen durcheinandergebracht?
Hoffmann: Das passiert ja mal. Das kann mir ja auch im Interview mit Ihnen passieren, dass man sich mal verhaspelt. In der Sache, glaube ich, sind wir uns einig, dass sachgrundlose Befristungen, ich betone noch mal sachgrundlose Befristungen, eigentlich nicht in die Zeit passen. Wenn Menschen verunsichert sind und Sicherheit in der Arbeitswelt brauchen, dann sollten wir die sachgrundlose Befristung wirklich ersatzlos streichen.
Der Erfolg der Industrie lasse sich nicht auf Agenda 2010 zurückführen
Heckmann: Aber es gibt da zwei Gegenargumente, die immer ins Feld geführt werden. Erstens: Das eröffnet Spielräume für die Industrie, für die Arbeitgeber, flexibel einzugehen auf bestimmte Entwicklungen, und das hat doch überhaupt den Erfolg, den Wirtschaftserfolg in Deutschland möglich gemacht.
Hoffmann: Die Agenda 2010 ist, glaube ich, nicht ursächlich dafür, dass gerade die hoch wettbewerbsfähige Industrie in Deutschland wettbewerbsfähig geworden ist, sondern da sind ganz andere Faktoren ausschlaggebend, wie hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben erlebt, dass seit über Jahrzehnten die Unternehmen sich auf Kernkompetenzen spezialisieren, ganze Geschäftsbereiche ausgegliedert haben in den Niedriglohnsektor, beispielsweise wenn es um Gebäudereinigung geht, wenn es um die Logistik geht, wenn es um die Wachdienste geht, wenn es um die betriebliche Feuerwehr geht. Das sind alles Niedriglohn-Strategien, die man betrieben hat, die mit dazu beigetragen haben, dass wir in Deutschland den höchsten Niedriglohnsektor in Europa haben, und das verträgt sich überhaupt nicht mit einer modernen sicheren Arbeitswelt.
Im Kampf um Fachkräfte müssten Arbeitgeber Bedingungen verbessern
Heckmann: Allerdings stehen wir auch in Zeiten eines deutlichen Fachkräftemangels, der jetzt in Zukunft noch erheblich stärker werden wird. Denken Sie denn wirklich und im Ernst, dass dann befristete Verträge überhaupt noch ein großes Problem sein werden?
Hoffmann: Die Realität sieht heute noch anders aus. Das belegen die Zahlen. Aber Sie haben recht, dass im Lichte des Fachkräftemangels zukünftig die Arbeitgeber selber ein großes Interesse daran haben müssen, dass sie als Arbeitgeber wesentlich attraktiver werden. Dazu gehört auch, dass die Unternehmen wieder tarifgebunden sind. Wir haben nur noch 60 Prozent der Menschen in Deutschland, die unter dem Schutz von Tarifverträgen fallen. Auch das verträgt sich nicht mit den Sicherheitsbedürfnissen von Menschen, unter den Schutz von Tarifverträgen zu fallen. Und wenn die Arbeitgeber im Wettbewerb um einen immer knapper werdenden Fachkräftemarkt sich behaupten wollen, dann müssen sie bei den Bedingungen, sowohl die Arbeitsbedingungen als aber auch was die Entlohnung, die Gehälter betrifft, deutlich zulegen.
"Den Niedriglohnsektor trockenlegen"
Heckmann: Aber glauben Sie nicht, das kommt automatisch, weil die Arbeitgeber ja in der Tat um gut ausgebildete Fachkräfte konkurrieren werden?
Hoffmann: Automatisch ist in der Arbeitswelt noch nie was geschehen, sondern es waren immer die Erfolge der Gewerkschaften, über Tarifpolitik, über Betriebsratstätigkeit die Bedingungen zu verbessern. Deshalb glaube ich nicht, dass die Arbeitgeber lediglich altruistisch freiwillig da was machen werden.
Heckmann: Aber um den eigenen Vorteil zu haben?
Hoffmann: Ja, den eigenen Vorteil zu haben. Aber wir sehen ja auch, dass der Vorteil zum Teil missbraucht wird, indem man ganze Unternehmensbereiche ausgliedert, in den Niedriglohnsektor abschiebt. Auch da müssen wir, glaube ich, einen Riegel vorschieben. Nicht, dass die Unternehmen Spezialisierungsstrategien fahren, aber dass man den Niedriglohnsektor trockenlegt und dass die Menschen dort auch zu anständigen Tariflöhnen Beschäftigung finden.
Einseitiger Rat des Sachverständigenrats
Heckmann: Herr Hoffmann, kommen wir mal zu einem anderen wichtigen Punkt, den Martin Schulz angesprochen hat, und zwar das Arbeitslosengeld 1, das ja in der Regel zwölf Monate nur ausgezahlt wird. Er möchte die Auszahlung dieses Arbeitslosengeldes 1 ausweiten für ältere Arbeitnehmer, so wie es aussieht. Der Chef der Wirtschaftsweisen immerhin, Christoph Schmidt, der hat gesagt, die Politik, die sollte sich mal fragen, was in den vergangenen Jahren eigentlich für Stabilität auf dem Arbeitsmarkt gesorgt hat, die Agenda nämlich. Und auch Bert Rürup, einer seiner Vorgänger, der hat dazu gesagt, das größte Problem sei immer noch die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland, und eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes hilft diesen Leuten überhaupt nicht.
Hoffmann: Ich glaube schon, dass es den Leuten hilft, weil auch hier geht es um Sicherheit, dass Menschen, die über 18, zum Teil 24 Monate in Arbeitslosigkeit stecken, dass sie vernünftig ihr Leben gestalten müssen, und da müssen wir die Bezugsdauer dringend verlängern. Und mit Bezug auf den Sachverständigenrat, insbesondere mit Bezug auf Herrn Schmidt kann ich nur sagen: Sie haben schon öfters geirrt. Sie haben davor gewarnt, dass der Mindestlohn Millionen Arbeitslose in Deutschland produzieren würde. Dieser einseitige Sachverstand, ich glaube, daran sollten wir uns nicht orientieren. Die haben sich in den letzten Jahren immer einseitig auf neoliberale Politikempfehlungen eingelassen; damit muss Schluss sein.
Unternehmen seien in der Pflicht, Langzeitarbeitslose zu integrieren
Heckmann: Lieber Langzeitarbeitslose alimentieren, als zu versuchen, diese Personen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Hoffmann: Herr Heckmann, es geht doch nicht darum, dass wir die Menschen alimentieren. Die Arbeitgeber sind aufgefordert, dass Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden. Genau das passiert doch nicht. Es ist doch argumentiert worden, deshalb der Hinweis auf den Mindestlohn, dass man den Mindestlohn aussetzt für Langzeitarbeitslose, damit die leichter in Beschäftigung kommen. Was ist passiert? Nichts! Der Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit ist nach wie vor bei einer Million viel zu hoch in Deutschland. Hier sind die Arbeitgeber, hier sind die Unternehmen in der Pflicht, Menschen, die langzeitarbeitslos sind, wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Und da hilft es nicht, wenn man sie mit Almosen abspeist, von denen sie ihre Familie am Ende des Tages nicht mehr ernähren können. Das passt nicht, das verträgt sich nicht mit einer sozialen Marktwirtschaft.
"Mittlerweile ein Sport für Arbeitgeber, Betriebsratsarbeit zu behindern"
Heckmann: Herr Hoffmann, soziale Gerechtigkeit, das ist ja das große Thema von Martin Schulz in den nächsten Wochen und Monaten. Wie glaubwürdig aber, Herr Hoffmann, ist die SPD und wie glaubwürdig sind auch die Gewerkschaften, wenn Aufsichtsräte der Arbeitnehmerseite einer VW-Managerin, nämlich Christine Hohmann-Dennhardt, 15 Millionen Euro an Abfindung gewähren, und das nach einem Jahr Arbeit?
Hoffmann: Da gibt es Fehlentwicklungen und die kann man auch gar nicht schönreden. Aber man sollte doch bitte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, indem man jetzt die gesamte Mitbestimmung diskreditiert. Wir haben doch das Problem, dass Unternehmen heute sich systematisch aus der Unternehmensmitbestimmung versuchen zu verabschieden und dass es mittlerweile ein Sport für bestimmte Arbeitgeber geworden ist, die in der Regel nicht in Arbeitgeberverbänden organisiert sind, Betriebsratsarbeit zu behindern oder gar Betriebsratswahlen zu verhindern. Das ist doch das Problem. Fehlentwicklungen in einzelnen Konzernen, die muss man kritisieren, da muss man korrigieren, aber bitte nicht den Fehler machen, alles über einen Kamm zu scheren.
"Solche Exzesse kann man nicht unterstützen"
Heckmann: Was halten Sie denn von dieser Entscheidung?
Hoffmann: Die Entscheidung kann ich nur begrenzt beurteilen, weil ich bin dort nicht im Aufsichtsrat tätig. Ich hatte gestern selber in einem anderen großen Unternehmen eine Aufsichtsratssitzung. Da haben wir uns sehr seriös mit den Vorstandsbezügen beschäftigt und da gibt es Korrekturbedarf. Das wird in vielen Unternehmen mittlerweile auch durchaus gesehen.
Heckmann: Finden Sie das auch irritierend, was da abgelaufen ist, auch von der Arbeitnehmervertreterseite aus?
Hoffmann: Aber selbstverständlich! Ich bin nicht im Aufsichtsrat, ich habe auch mit den Kollegen da keine Gelegenheit gehabt zu sprechen. Aber solche Exzesse kann man nicht unterstützen. Da sind Korrekturen notwendig.
Heckmann: Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann war das hier live im Deutschlandfunk. Herr Hoffmann, danke Ihnen für Ihre Zeit und Ihnen einen schönen Tag.
Hoffmann: Ich danke Ihnen, Herr Heckmann. Bis bald!
Heckmann: Schönen Tag.
Hoffmann: Tschüss!
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