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Agententhriller mit realem Hintergrund

Der Mord am Ex-KGB-Agenten Alexander Litwinenko ist bis heute nicht aufgeklärt. In der vergangenen Woche erst hat Russland es abgelehnt, einen Verdächtigen an Großbritannien auszuliefern. Die Witwe Marina Litwinenko meldet sich gemeinsam mit einem Freund des Paares, Alex Goldfarb, mit dem Buch "Tod eines Dissidenten" zu Wort. Robert Baag hat es gelesen.

    Die unterdrückte Wut war Russlands Präsidentem Wladimir Putin anzumerken, als ihm im vergangenen Spätherbst während der Pressekonferenz nach dem EU-Russland-Gipfel in Helsinki eine Frage nicht erspart blieb: Die Weltöffentlichkeit war gespannt, wie er das qualvolle Sterben von Alexander Litwinenko in einem Londoner Krankenhaus kommentieren würde. Immerhin hatte dieser russische Geheimdienst-Überläufer ihn, Putin ,direkt für seinen Tod verantwortlich gemacht. Putin zwang sich zur Selbstbeherrschung:

    "Der Tod eines Menschen ist immer eine Tragödie. Mein Mitgefühl gilt den Angehörigen und Freunden von Herrn Litwinenko. Übrigens, so weit mir bekannt ist, weist in dem Befund der britischen Ärzte nichts darauf hin, dass es sich um einen gewaltsamen Tod handelt. Und deshalb hoffe ich, dass die britischen Behörden sich nicht dazu hergeben werden, dies zu irgendwelchen unbegründeten politischen Skandalen aufzublasen."

    Doch es war längst zu spät. Der Eklat war nicht mehr wegzudiskutieren. Einer von Litwinenkos engsten Weggefährten im Londoner Exil, Alex Goldfarb, sowie Marina Litwinenko, die Witwe des abtrünnigen Offiziers des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, haben jetzt eine Dokumentation veröffentlicht, die sich über weite Strecken so spannend liest wie, sagen wir, ein Agententhriller in der Machart von John Le Carré. Doch der reale Hintergrund der Handlung lässt zugleich nicht selten frösteln. Zwar beschäftigt sich 2Tod eines Dissidenten - Warum Alexander Litwinenko sterben musste" erst auf den letzten 50 von weit über 400 Seiten mit der Polonium-Vergiftung Litwinenkos. Doch zuvor blättert das Autoren-Paar eine veritable Chronik Russlands der Jelzin- und der noch andauernden Putin-Ära auf. Schon halb vergessene politische Morde, Intrigen, die tschetschenische Tragödie, die Geiseldramen im Moskauer Musicaltheater und in der Schule von Beslan - Goldfarb und Marina Litwinenko wischen den leichten Staub von diesen Wegmarken, ordnen und analysieren bereits aus der Halbdistanz. Vor allem aber: Ihr Insiderwissen um das in diese Geschehnisse verwobene russische Geheimdienst-Milieu macht die Lektüre noch um einige weitere Schrauben-Umdrehungen faszinierender. Immerhin, bestätigt Marina Litwinenko, gehe es dabei um jene Männer, die heute das Sagen hätten in Russland - übrigens mit all den potenziellen Konsequenzen auch für Russlands Nachbarn:

    Alexander Litwinenko nannte noch kurz vor seinem Tod schriftlich beim Namen, wen er für seinen Mörder hielt, und zwar ohne zu wissen, dass man ihn nuklear verstrahlt hatte - mit Plutonium:

    "Sie werden mich vielleicht erfolgreich zum Schweigen bringen, aber dieses Schweigen hat seinen Preis. Sie haben sich genauso barbarisch und unbarmherzig gezeigt, wie es ihre schlimmsten Kritiker behaupten. Sie haben gezeigt, dass sie keine Achtung vor dem Leben, der Freiheit oder sonst einem Wert der Zivilisation haben. Sie haben gezeigt, dass sie ihres Amtes nicht würdig sind und dass sie das Vertrauen zivilisierter Frauen und Männer nicht verdienen. Vielleicht gelingt es Ihnen, einen einzelnen Mann zum Schweigen zu bringen. Aber eine riesige Welle weltweiter Proteste wird Ihr ganzes restliches Leben lang in Ihren Ohren widerhallen, Herr Putin."

    Ein schwerer Vorwurf, und bis heute nicht bewiesen, wie selbst Alex Goldfarb, ohne zu zögern, einräumt:

    "Ich kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass Herr Putin persönlich dies befohlen hat. Aber was ich sagen kann, ist: Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Zugang zu Polonium auf einer sehr hohen Regierungsebene kontrolliert. höher als auf der Ebene eines Direktors des Sicherheitsdienstes. Denn produziert wird Polonium beim Ministerium für Atomenergie. Und höchstens jemand aus der Kreml-Verwaltung kann die wiederum anweisen, Polonium an Spione auszuhändigen. In der Kreml-Verwaltung aber passiert andererseits nichts, ohne dass Putin Bescheid weiß. Dies wäre der logische Schluss. Konkret weiß ich es aber natürlich nicht."

    Wer erwartet, dass in diesem Buch unwiderlegbar der Nachweis geführt würde, wer hinter dem Anschlag auf Litwinenko steht, der wird enttäuscht werden. Dennoch lohnt sich die Lektüre. Denn Goldfarb gelingt es, deutlich zu machen, mit welch fast schon renaissanceähnlicher Mantel-, Dolch- und Gift-Mentalität am russischen Hof - pardon: Kreml - Machtkämpfe eingefädelt und geführt worden sind. Und sie ist wohl immer noch jederzeit abrufbar, diese Mentalität. In der Analyse von Alex Goldfarb war der Mord an Alexander Litwinenko

    "nur ein Mittel zum Zweck, zu einem sehr wichtigen Zweck, der diese Furcht einflößenden Mittel rechtfertigte. Es gibt …"

    ist Alex Goldfarb überzeugt

    "nur ein glaubwürdiges Motiv für diesen Mord.[...]In dem endlosen Interessenkonflikt zwischen Wladimir Putin und Boris Beresowski sollte der jeweils anderen Seite ein Mord angehängt werden."

    Der russische Präsident einerseits und der von eben jenem Präsidenten später ins britische Exil verjagte so genannte Oligarch andererseits: Boris Beresowski, die geheimnisumwitterte, zeitweise gefürchtete graue Eminenz der Jelzin-Ära. Als Putins Königsmacher und sogar Mentor galt Beresowski zunächst. Nun aber sind beide schon lange erbitterte politische und persönliche Feinde. Alexander Litwinenko - ist er also lediglich ein zynisch instrumentalisiertes Bauernopfer in einem tödlichen, menschenverachtenden Schachspiel? Die Goldfarb'sche Formulierung schließt die Möglichkeit immerhin nicht aus, dass eine Spur auch in Richtung Beresowski weisen könnte. Goldfarbs eigentlich schon resigniert klingendes vorläufiges Fazit:

    "Ohne Richterspruch wird der Mord an Sascha zum Nullsummenspiel zwischen zwei widersprüchlichen, spiegelbildlichen Verschwörungstheorien. An den beiden Enden des Spiegelkabinetts, in dessen Mitte Saschas Leichnam aufgebahrt ist, stehen die beiden Protagonisten dieser Geschichte: Boris Beresowski und Wladimir Putin, einer die Nemesis des anderen. Einer von den beiden hat es getan, und die Entscheidung hängt vom Blickwinkel des Betrachters ab."

    Es zeugt von der ergebnisoffen orientierten Recherche und der intellektuellen Redlichkeit des gelernten Naturwissenschaftlers Alex Goldfarb, eines Dissidenten schon aus Sowjetzeiten, dass er auch Boris Beresowski als einen theoretisch denkbaren Verantwortlichen für den Tod Alexander Litwinenkos klar benennt. Beresowski ist allerdings fast das ganze Buch hindurch Goldfarbs Hauptquelle und zwar bis ins Anekdotische hinein, wie etwa bei der fast schon unglaublichen Geschichte, als sich Beresowski 1999 im Auftrag der sogenannten Jelzin-Familie mit dem damaligen FSB-Direktor Putin in der Moskauer Lubjanka traf, der Geheimdienstzentrale seit sowjetischen Ur-Zeiten, hieß dieser nun Tscheka, NKWD, MGB, KGB oder jetzt eben FSB. Beresowski sollte Putins Einverständnis einholen, Jelzins Nachfolger als Präsident Russlands zu werden. Putin habe zögernd eingewilligt. Und dann kam es laut Beresowski beziehungsweise Goldfarb zu dieser Szene:

    "Es war spät geworden. Putin griff nach dem Türknauf. Er ließ sich widerstandslos drehen, das Schloss ging aber nicht auf. – 'Mist', sagte Putin. 'Hier funktionieren nicht einmal die Schlösser, und du willst mich zum Präsidenten von Russland machen. [...] 'Hallo, ist da irgendjemand?', schrie er und hämmerte gegen die Wand [...]. 'Hier spricht Putin! Wir haben uns ausgesperrt!' - Sie mussten zehn Minuten lang klopfen, bis sie jemand hörte und aus dem engen Raum befreite."

    Wer Beresowski während der zweiten Hälfte der 90er Jahre als aktiv Handelnden in der russischen Politik miterlebt und verfolgt hat, der mag sich dem überwiegend positiven Grundton nicht so ohne weiteres anschließen, mit dem Goldfarb ihn charakterisiert. Beresowski ist bis heute für viele Russen die Inkarnation des"russischen Raubkapitalisten. "Ein hartgesottener Wirtschaftsliberaler, Zyniker und Manipulator", so bezeichnen ihn selbst manche ehemalige Weggefährten. Aber: Eben auch dies gehört zum widersprüchlichen Bild des modernen Machiavellisten Beresowski, gibt Alex Goldfarb zu bedenken:

    "Er wurde zu einem großen Finanzier der russischen Opposition. Er hat zig Millionen Dollar ausgegeben, um russische Oppositionsgruppen zu unterstützen - oder solche Ereignisse wie die orangefarbene Revolution in der Ukraine."

    Der Mord an Alexander Litwinenko, kann es so etwas wie die Frage nach einem darin verborgenen Sinn überhaupt geben? Goldfarbs Ansicht zum Tod seines Freundes:

    "Sascha, ein operativer Aufklärer bis zum Schluss, klärte den Mord an sich auf, indem er die Täter und den Mann, der sie sandte, beim Namen nannte, noch bevor der entscheidende Beweis vorlag oder die Mordwaffe sichergestellt war. Er bot uns nicht nur die unglaublichste Theorie an, sondern er brachte mit seinem Tod auch den zwingendsten Beweis. Damit untermauerte er all seine früheren Theorien und ließ den Bewohnern der Moskauer Wohnhäuser, den Moskauer Theaterbesuchern, Juschenkov, Schtschekotschichin und Anna Politkovskaja sowie dem zur Hälfte ausgelöschten tschetschenischen Volk Gerechtigkeit widerfahren, weil er der Welt ihre Mörder präsentierte."

    Alexander Litwinenkos Witwe Marina ist nüchterner und geradezu lakonisch: Zum Tod ihres Mannes gebe es auch heute immer noch mehr Fragen als Antworten.


    Alex Goldfarb/Marina Litwinenko: Tod eines Dissidenten. Warum Alexander Litwinenko sterben musste
    Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
    428 Seiten, 19,95 Euro