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Ahmadiyya in Deutschland
Splittergruppe oder muslimische Elite?

Die Ahmadiyya Muslim Jamaat ist eine kleine religiöse Gemeinschaft. Es gibt sie in Deutschland seit 100 Jahren. In Hessen geben sie an öffentlichen Schulen islamischen Religionsunterricht. Ist Ahmadiyya eine reaktionäre Sekte oder die Speerspitze eines menschenfreundlichen Reform-Islams - das ist umstritten.

Von Burkhard Schäfers |
    Die Moschee der Ahmadiyya in Riedstadt
    Seit dem Jahr 2012 hat die deutsche Ahmadiyya-Gemeinschaft ein eigenes Ausbildungsinstitut für Imame im südhessischen Riedstadt. (Deutschlandfunk / Foto: Burkhard Schäfers)
    "Ich war damals in der fünften Klasse, da ist der Terroranschlag geschehen am 11. September. Meine Mitschüler haben mich gefragt: Wie findest du Osama Bin Laden? Was sagt der Islam dazu?"(Umer Malik)
    "Im Moment haben wir die Situation, dass es in den so genannten islamischen Ländern zwar viele Muslime gibt, aber leider in vielen Bereichen wenig Islam, wenig islamische Werte. Dass Minderheiten nicht geschützt werden, soziale Gerechtigkeit nicht hochgehalten wird. Das sind alles islamische Werte, die in Deutschland besser umgesetzt werden. Deutschland ist so gesehen islamischer."(Khola Maryam Hübsch)
    "Ich bin Ahmadiyya Muslim geworden, weil ich da eine Lebendigkeit in der Religion erlebt habe, die für mich faszinierend war. Für einen, der Gott gesucht hat. Die haben von Gott gesprochen, als ob es ein Mitglied ihrer Familie ist." (Abdullah Uwe Wagishauser)
    Die einen bezeichnen sie als Sekte. Die anderen sprechen ihnen das Recht ab, sich Muslime zu nennen. Und trotzdem erlaubt ihnen das hessische Kultusministerium, an öffentlichen Schulen islamischen Religionsunterricht zu geben. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat ist eine kleine religiöse Gemeinschaft, die es in Deutschland seit nicht einmal 100 Jahren gibt. Die kaum jemand kennt, die aber eine ungewöhnliche Geschichte hat.
    Wer ist die Ahmadiyya-Gemeinschaft? Was glauben ihre Anhänger? Wie verstehen sie sich – zwischen Reformdenken, intellektueller Religiosität und konservativem Familienbild?
    Wer die Ahmadiyya Muslim Jamaat kennenlernen möchte, der versucht es am besten in Hessen. Dort ist die Gemeinschaft innerhalb Deutschlands am weitesten verbreitet. Eine der ältesten deutschen Moscheen ist die Nuur-Moschee im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. Zum Freitagsgebet sind etwa 70 Männer zusammengekommen, die Frauen beten nebenan im Gemeindezentrum. Der Imam rezitiert eine Koran-Sure, es folgen die Predigt – in deutscher Sprache – und das Gebet.
    "Wir sind eine islamische Gruppierung, die liberal und offen ist, aber wertekonservativ. Es ist wichtig zu sehen, dass wir in der Lage sind, Dinge in Frage zu stellen. Dass man das, was man glaubt, eben nicht blind übernimmt, sondern dass man die Gebote und Verbote versteht. Und das muss in einer Gemeinde gelebt werden."
    Abdullah Uwe Wagishauser
    Abdullah Uwe Wagishauser (Deutschlandfunk / Foto: Burkhard Schäfers)
    Abdullah Uwe Wagishauser leitet die deutsche Ahmadiyya-Gemeinde seit 1984. Der 66-Jährige aus dem hessischen Groß-Gerau ist ein hagerer Mann: Ordentlich getrimmter Bart, randlose Brille, dunkle Mütze auf weißgrauem Haar. Er trägt einen grauen Anzug, darunter ein hellblaues Hemd. Wagishauser ist Vorsitzender von etwa 30.000 Mitgliedern in Deutschland, so gibt es die Ahmadiyya selbst an. Sie ist eine vergleichsweise junge Gemeinschaft, entstanden Ende des 19. Jahrhunderts im indischen Raum. Uwe Wagishauser:
    "Der Hauptunterschied zwischen uns und den anderen islamischen Gruppierungen ist der, dass wir sagen, der von den meisten Muslimen erwartete Mahdi und Reformer ist schon gekommen in der Person des Gründers der Ahmadiyya Muslim Jamaat, nämlich in der Person von Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad."
    Der Schatten-Prophet Mirza Ghulam Ahmad
    Mirza Ghulam Ahmad, geboren 1835 in der damals zu Britisch-Indien gehörenden Region Punjab, erklärte sich zum 'Mudschaddid' - zum religiösen Erneuerer. Viele Muslime glauben an das Kommen eines Mahdi, also eines Rechtsgeleiteten, der ein Nachkomme des Propheten Mohammed ist. Dieser Mahdi werde in der so genannten Endzeit auf der Erde erscheinen und das Unrecht besiegen. Mirza Ghulam Ahmad erklärte sich also zu einem Schatten-Propheten: Mohammed nachgeordnet und gekommen, um die Lehre des Korans wiederzubeleben.
    Der Gründer der Ahmadiyya-Gemeinde (Mitte, oben) und die Kalifen seither
    Der Gründer der Ahmadiyya-Gemeinde (Mitte, oben) und die Kalifen seither (Dirk Gebhardt)
    1889 gründete er die Bewegung der Ahmadiyya, die sich als sunnitische Ausrichtung des Islams versteht - verbunden mit der hanafitischen, also einer der vier sunnitischen Rechtsschulen. Anfang des 20. Jahrhunderts spaltete sich die Gemeinschaft in zwei Gruppen, wobei heute fast alle der Ahmadiyya Muslim Jamaat angehören. Sie ist weltweit in rund 200 Ländern vertreten.
    Wie viele Mitglieder die Ahmadiyya genau hat, ist nicht bekannt – ihre Vertreter sprechen von einer zweistelligen Millionenzahl. An ihrer Spitze steht ein Kalif. Der in London lebende Mirza Masrur Ahmad ist der fünfte Nachfolger des Gründers. Uwe Wagishauser:
    "Der wird auf Lebenszeit gewählt in einer demokratischen Form. Und der eint dann die Gemeinde weltweit. Egal wo sie mit Gemeinden der Ahmadiyya Muslim Jamaat zu tun haben, sie haben überall das gleiche Religionsverständnis."
    Der katastrophale Zustand der Muslime heute
    Die Ahmadiyya will den nach ihrer Ansicht eigentlichen Kern der islamischen Lehre freilegen, sagt Abdullah Wagishauser.
    "Der Zustand der Muslime heutzutage ist schon katastrophal. Egal in welches Land man schaut, welches sich islamisch schimpft, stellt man fest, dass alles gelebt wird, nur nicht der Islam, den der Heilige Prophet Mohammed vorgelebt hat. Es gibt dort Unterdrückung, Ungerechtigkeiten. Der Geist des Islams, der ausdrücken soll, dass Liebe die Menschen zusammenbringt und Gerechtigkeit unter den Menschen herrschen soll, dass alle Menschen gleiche Rechte haben, der wird in den wenigsten islamischen Ländern gelebt."
    Worunter die Ahmadiyya selbst leidet: Viele Muslime erkennen sie nicht als islamische Glaubensgemeinschaft an, einige bezeichnen sie als Apostaten. In Pakistan, wo sie sich nach der Teilung Britisch-Indiens ansiedelten, werden Ahmadis deshalb seit den 1970er Jahren zum Teil massiv verfolgt, ebenso in Bangladesch und Indonesien. Etliche sind aus ihrer Heimat geflohen, sie haben sich etwa in England niedergelassen, auch in Deutschland. Die pakistanischen Blasphemie-Gesetze verbieten es ihnen, sich als Muslime zu bezeichnen. Im Jahr 2010 starben bei einem Anschlag pakistanischer Taliban auf zwei ihrer Moscheen in Lahore 86 Menschen. Abdullah Wagishauser:
    "Ahmadis werden als die Superfeinde der radikalen orthodoxen Muslime aufgebaut, die halt den Propheten beleidigen. Da gibt es ja den Blasphemie-Paragrafen. Es gibt viele Verfahren gegen Ahmadis, die teilweise zum Tode verurteilt worden sind. Die orthodoxen Mullahs sehen die Ahmadiyya als Gefahr für ihre eigenen Glaubensvorstellungen."
    Aus dem Mainstream-Islam ausgeschlossen
    Warum aber grenzen sich viele Muslime so scharf von der Ahmadiyya ab? Der Hannoveraner Religionswissenschaftler Peter Antes beschäftigt sich mit islamischer Geschichte und religiösen Gemeinschaften in Europa. Er sieht den wesentlichen Unterschied zum Mainstream-Islam darin:
    "Dass sie in ihrem Gründer Ghulam Ahmad nicht nur einen Repräsentanten der Religion oder einen Erneuerer sehen, sondern ihn auch als Propheten sehen. Während der Mainstream-Islam offiziell erklärt hat, dass mit dem Tode von Mohammed die Offenbarung praktisch abgeschlossen ist und keine weiteren Propheten mehr kommen können."
    Darüber hinaus, sagt Peter Antes, praktizieren die Ahmadis ihren Glauben ebenso wie andere Muslime auch: Sie haben ihre Moscheen, sie beten, sie fasten im Ramadan und betrachten den Koran als von Gott geoffenbartes Wort. Und die Rolle Mohammeds? Ihn sehen sie als ihren wichtigsten Propheten an. Ein einziges Wort trennt die Ahmadiyya von den Hauptrichtungen des Islams: In ihren Augen ist Mohammed nicht der letzte Prophet, sondern der letzte "gesetzgebende" Prophet.
    "Sie verstehen die Erneuerungsrolle sehr viel konkreter und auch weiterführender als der Mainstream-Islam, der nur zulässt, dass man ein paar interne Kleinigkeiten verändert, aber das Prophetische praktisch mit Mohammed als abgeschlossen ansieht."
    Insofern würden die meisten Muslime die Glaubensauslegung der Ahmadiyya grundsätzlich ablehnen, sagt der Religionswissenschaftler. Im Jahr 1974 schloss die Islamkonferenz in Mekka in einer Rechtsauskunft, genannt 'fatwa', die Ahmadiyya aus der islamischen Gemeinschaft aus.
    "Für mich als Religionswissenschaftler ist jeder ein Muslim, der behauptet, ein Muslim zu sein. Diese Debatte gibt es ja auch innerhalb des Mainstream-Islam, dass man immer wieder sagt: Das sind aber nicht die richtigen Muslime, die echten Muslime sind wir. Für uns als Religionswissenschaftler sind alle die Muslime, die das von sich sagen, also auch die Ahmadiyya."
    Statt Waffengewalt nur Wort und Feder
    Manches aus der islamischen Überlieferung interpretiert die Ahmadiyya metaphorisch. Etwa den Begriff des Dschihad. Gründer Ghulam Ahmad erklärte den Dschihad mit Waffengewalt für beendet. Muslimen sei es lediglich gestattet, sich zu verteidigen. Der wichtigste Dschihad sei ohnehin der gegen die eigenen Schwächen. Und um den Islam zu verbreiten, seien nur "Worte" und "Feder" erlaubt. Zwang in Religionsfragen lehne die Ahmadiyya ab. Peter Antes:
    "Wesentlich in dieser ganzen Auseinandersetzung ist natürlich auch die Erfahrung der Ahmadis, dass sie sich in einer Minderheitssituation befinden und genau wissen, was Religionsfreiheit bedeutet und welchen Wert sie darstellt."
    Hierzulande ist die Religionsfreiheit ein in der Verfassung verankertes Grundrecht. Religiöse Gemeinschaften dürfen für ihre Glaubensinhalte werben, Gotteshäuser bauen und sich zum Gebet versammeln. Außerdem können sie an öffentlichen Schulen Religionsunterricht anbieten. Seit einigen Jahren gibt es in mehreren Bundesländern Islamunterricht. In Hessen wird dieser unter anderem von der Ahmadiyya verantwortet.
    Ein großer Erfolg für die kleine Gemeinschaft. Ihre Mitglieder tun viel dafür, auf sich aufmerksam zu machen. Sie wollen ihren Glauben auch öffentlich vertreten – zeigen, dass sie Teil der Gesellschaft sind. Dazu betreibt die Ahmadiyya Muslim Jamaat geschickt Öffentlichkeitsarbeit. Ahmadis laden in ihre Moscheen ein, verteilen Tragetaschen mit ihrem Logo und den Koran auf Deutsch.
    Eine deutsche Koran-Übersetzung der islamischen Religionsgemeinschaft Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) steht am 02.09.2016 in Rheinstetten (Baden-Württemberg) in der dm-Arena auf einem Tisch.
    Eine deutsche Koran-Übersetzung der islamischen Religionsgemeinschaft Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) (dpa - Uwe Anspach)
    Überhaupt die Sache mit der Sprache: Um ihre Theologie zu verbreiten, setzt die Ahmadiyya auf heimische Imame, die auf Deutsch predigen.
    " Zum einen die klassische Arbeit in der Gemeinde: Das Gebet leiten, Vorlesungen halten über den Heiligen Koran. Dann sehr viel soziale Arbeit. Hochzeiten, Todesfälle – alles, was man aus der Arbeit von einem Pfarrer kennt, so ähnlich sieht das aus."
    Heimische Imame – ausgebildet in Deutschland
    Umer Malik braucht noch ein Jahr, dann ist er fertig mit seiner Ausbildung zum Imam. Der Wiesbadener, 25 Jahre alt, trägt eine weiße Hose, ein langes weißes Hemd, darüber eine dunkle Weste sowie eine traditionelle Kopfbedeckung, die Jinnah Cap. Er führt ein Leben zwischen Bibliothek, Klassenzimmer und Wohnheim. Seit dem Jahr 2012 hat die deutsche Ahmadiyya-Gemeinschaft ein eigenes Ausbildungsinstitut für Imame im südhessischen Riedstadt. Umer Malik ist einer der ersten von rund 100 Studenten.
    "Als ich herausgefunden habe, dass wir ein Institut haben werden in Deutschland, wo man zum Imam sich ausbilden lassen kann, habe ich gesagt: Das ist ein Weg für mich, wo ich mehr über meinen eigenen Glauben weiß, aber zum anderen auch andere Leute darüber informieren kann, was die wahren Lehren des Islam sind."
    Sieben Jahre dauert das Studium am Institut für islamische Theologie und Sprachen in Riedstadt. Der Gründer der Ahmadiyya, Ghulam Ahmad, hat die meisten seiner Werke in Urdu verfasst – der heutigen Amtssprache in Pakistan – einige Bücher auf Persisch und Arabisch. Deswegen lernen die Studenten zunächst diese drei Sprachen. Später stehen Koranexegese, Geschichte des Islams, Recht und Islamische Mystik auf dem Lehrplan, außerdem vergleichende Religionswissenschaft.
    " Wenn wir diesen interreligiösen Dialog nicht haben, dann ist die Gefahr, dass man sich isoliert."
    Teil der deutschen Kultur?
    Umer Maliks Eltern stammen aus Pakistan, wie viele Ahmadis. Indes sind einige schon in der dritten Generation in Deutschland, denn die Ahmadiyya gehört zu den ältesten muslimischen Gruppierungen hierzulande. Bereits in den 1920er Jahren errichteten sie eine Moschee in Berlin-Wilmersdorf. Bevor in den 60er Jahren die türkischen Einwanderer kamen, galten sie als wichtigste muslimische Gesprächspartner. Umso mehr sieht sich die Ahmadiyya-Gemeinde heute als Teil der deutschen Kultur.
    "Der Islam gehört zu Deutschland. Ich finde, jede Religion gehört zu Deutschland, die dazu beiträgt, dass wir ein gesundes Miteinander haben."
    Allerdings: Wie andere muslimische Strömungen auch sehen sich die Ahmadiyya konfrontiert mit kritischen Anfragen. Mit der Frage, wie friedliebend sie wirklich sind. Worüber ihre Imame in den Moscheen predigen. Ob sie nicht doch die Vorherrschaft des Islams anstreben.
    Religionswissenschaftler Peter Antes sieht dafür keine Anhaltspunkte. Die Lehre der Ahmadiyya stehe nicht im Widerspruch zum Grundgesetz.
    "Im Grunde genommen ist es ja so, dass bei uns die Vorstellung vorherrscht, Trennung zwischen Staat und Religion. Dass der Einfluss nicht zu stark werden soll. Und dass vor allem Religionsfreiheit akzeptiert wird. Das sind alles Dinge, die Ahmadiyya-Leute auch vertreten."
    Streit entzündet sich immer wieder an der Frage, wie Muslime den Koran verstehen: Ob sie ihn eins zu eins als Gottes geoffenbartes Wort betrachten oder ihn in den geschichtlichen Zusammenhang einordnen. Zwar würden Ahmadis den Koran nicht historisch-kritisch lesen, sagt der Hannoveraner Religionswissenschaftler, aber:
    "Es gibt schon Versuche, Elemente davon einzuführen. Nämlich dass man sagt, man muss innerhalb des Koran die Offenbarungsanlässe näher betrachten."
    Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit
    Manche werfen der Ahmadiyya vor, Frauen seien nicht wirklich gleichberechtigt. Die Anhänger widersprechen dem: Beide Geschlechter seien prinzipiell gleichwertig. Allerdings habe der Mann in der Familie einen gewissen Vorrang.
    "Das liegt an der Philosophie – die im Koran auch angelegt ist – der Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit."
    Muslimische Mädchen schwenken auf der Jahresversammlung der moslemischen Reformgemeinde Ahmadiyya auf dem Maimarktgelände in Mannheim deutsche Fahnen.
    Muslimische Mädchen schwenken auf der Jahresversammlung der moslemischen Reformgemeinde Ahmadiyya auf dem Maimarktgelände in Mannheim deutsche Fahnen. (dpa / picture alliance / Ronald Wittek)
    Die Autorin Khola Maryam Hübsch engagiert sich seit vielen Jahren in der Ahmadiyya-Gemeinschaft, unter anderem in deren bundesweiter Frauenorganisation. Die 35-Jährige hält regelmäßig Vorträge zum Verhältnis der Geschlechter im Islam. Sie trägt ein Kopftuch.
    "In der Verwandtschaft ist es üblich, dass man sich auch locker begegnet. Aber außerhalb der Verwandtschaft gibt es eine gewisse Form der Distanz zwischen den Geschlechtern. Um die Partnerschaft in der Ehe zu schützen und da nicht allzu viel Spielraum zu lassen für so leichtfertige Beziehungen, die dann entstehen können."
    Dieses konservative Familienbild dürfte zugleich religiös und kulturell bedingt sein. Patriarchalische Traditionen aus der indisch-pakistanischen Heimat sind nach wie vor verbreitet. Vereinzelt hat das fatale Folgen: In Darmstadt ermordete 2015 ein in der Ahmadiyya-Gemeinde aktives pakistanisches Ehepaar seine 19-jährige Tochter. Sie wurde von ihrem Vater im Schlaf erwürgt, weil sie vorehelichen Sex mit ihrem Freund hatte. Mit dem Islam lasse sich solch ein Ehrenmord nicht rechtfertigen, sagt Khola Maryam Hübsch. Insgesamt bemühe sich die Ahmadiyya, Frauen zu stärken.
    "Frauen sind nicht unbedingt limitiert auf eine bestimmte Rolle. Es gibt zwar schon diesen konservativen Wert in der Ahmadiyya Muslim Jamaat: Familie ist wichtig, Mutterschaft ist wichtig. Aber gleichzeitig werden Frauen bei der Jahresversammlung ausgezeichnet, die besten Absolventinnen. Die haben dann Medizin, Architektur, Psychologie, Germanistik studiert. Man fördert das schon, dass Frauen Bildung erlangen und einen wichtigen Teil zur Gesellschaft beitragen."
    Der Koran als Anleitung zur Bildung
    Überhaupt hat Bildung bei der Ahmadiyya einen hohen Stellenwert. Nicht zufällig bekam die kleine Gemeinschaft vom hessischen Kultusministerium den Auftrag, an Schulen Islamunterricht in deutscher Sprache zu organisieren – neben dem deutlich größeren türkischen Verband Ditib. Das Curriculum haben beide gemeinsam entwickelt. Ein Beispiel dafür, wie die Ahmadiyya es versteht, sich an die jeweilige Gesellschaft anzupassen, in der sie lebt. Das Gemeindeleben wird ausschließlich von den Mitgliedern finanziert, die aufgerufen sind, mindestens ein Sechzehntel ihres Einkommens zu spenden.
    Attraktiv ist die Ahmadiyya auch für Menschen, die überlegen, zum Islam überzutreten und die eine muslimische Richtung suchen, die sich vom Mehrheits-Islam abhebt. Pro Jahr nehme die deutsche Ahmadiyya Muslim Jamaat rund 200 bis 300 Konvertiten auf, sagt deren Vorsitzender Abdullah Uwe Wagishauser, der in den 70er Jahren selbst konvertierte. Sind die Ahmadis also eine Art muslimische Bildungselite?
    "Es ist eigentlich ganz selbstverständlich, dass ein Muslim nach Bildung strebt, weil der Prophet Mohammed immer wieder darauf hingewiesen hat. Also der Koran ist eine Anleitung zur Bildung."
    Für eine intellektuelle Auseinandersetzung
    Wagishauser plädiert für eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Lehre des Islams und mit seinen Quellen.
    "Der Koran fordert auch immer auf, nachzudenken, zu beobachten, zu forschen. Die Sprache des Korans ist sehr spirituell. Den Koran zu verstehen ist nicht einfach."
    Wie viele kleine Religionsgemeinschaften hat die Ahmadiyya einen missionarischen Auftrag. Dabei sieht sie sich jedoch in einem doppelten Spannungsverhältnis, erklärt ihr Vorsitzender: Einerseits müsse sie mit dem verbreiteten Misstrauen leben, das Muslimen in Deutschland entgegen gebracht werde:
    "Wir merken das im Moment in Erfurt, wo wir eine Moschee bauen wollen, dass es – angeführt von der AfD – eine riesige Opposition gibt. Natürlich muss man sachlich Leute in ein Gespräch ziehen. Ohne diese Auseinandersetzung wird sich nichts verändern, sondern werden sich die Fronten nur immer weiter verhärten."
    Die zweite Herausforderung komme aus dem Lager der gewalttätigen Extremisten, die ihre Terrorakte im Namen der Religion verüben.
    "Diese Auseinandersetzung muss theologisch geführt werden, die muss in der Öffentlichkeit geführt werden, und die wird viel zu wenig geführt noch."
    Weil die Ahmadiyya wenig bekannt ist und überdies von den meisten Muslimen nicht anerkannt wird, dürfte ihr Einfluss überschaubar bleiben. Und doch wird sie versuchen, den Diskurs darüber mit zu bestimmen, was den Islam ausmacht.