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AI: In Syrien finden systematische Übergriffe auf die Zivilbevölkerung statt

Amnesty International spricht von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien. Nach Interviews mit einigen der etwa 4000 syrischen Flüchtlinge im Libanon sei klar geworden, dass die Armee systematisch gegen Zivilisten vorgehe, sagt Ferdinand Muggenthaler von der deutschen AI-Sektion. Die Berichte seien "leider sehr glaubwürdig".

Ferdinand Muggenthaler im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: In Syrien protestieren die Menschen weiter gegen das Regime, und weiter antworten die Sicherheitskräfte von Baschar al-Assad mit Gewalt gegen die Opposition im Land. Am 16. Mai haben sie den 28-jährigen Wael verschleppt, weil er mit seinem Handy Demonstrationen gegen den Staatspräsidenten gefilmt hatte.

    O-Ton Wael: Ich sagte dem Verhörenden, wir wollen nicht den Sturz des Regimes, wir wollen nur unsere Freiheit. Als ich das gesagt hatte, wurde ich von allen Seiten geschlagen. Er drohte mir, dass ich dieselbe Folter erleiden würde wie jene Leute, deren Gekreische ich von draußen hörte. Dann goss er Wasser auf meinen Rücken und verpasste mir einen elektrischen Schock, dass mein ganzer Körper unkontrollierbar zuckte und ich gegen eine harte Wand schleuderte.

    Barenberg: 1300 Zivilisten sollen insgesamt ums Leben gekommen sein seit Beginn der Proteste im März und mehr als 12.000 verhaftet. Eine unabhängige Bestätigung dafür ist allerdings kaum möglich. Ausländische Journalisten lässt das Regime nicht ins Land. Umso mehr sind wir deshalb auf Organisationen wie Amnesty International angewiesen. Sie haben die Aussage von Wael dokumentiert in einem Bericht über das Vorgehen der syrischen Sicherheitskräfte in der Ortschaft Tel Kalakh in der Nähe zur libanesischen Grenze.

    Darüber wollen wir in den nächsten Minuten sprechen, und zwar mit Ferdinand Muggenthaler von der deutschen Sektion von Amnesty International. Einen schönen guten Morgen!

    Ferdinand Muggenthaler: Guten Morgen.

    Barenberg: Der Bericht, Herr Muggenthaler, beschreibt ja in vielen Einzelheiten, wie genau Soldaten und Polizisten Mitte Mai in Tel Kalakh gegen Demonstranten vorgegangen sind. Wie haben Sie genau dieses Ereignis, wie haben Sie genau diesen Ort ausgewählt für Ihren Bericht?

    Muggenthaler: Es war einfach so, dass etwa 4000 Leute aus Tel Kalakh geflohen sind in den Libanon, über die Grenze zu Verwandten, und dort in den Dörfern abgewartet haben, bis die Bombardierungen – denn es war so, dass Artillerie aufgebaut wurde und einfach Wohnviertel mit Artillerie beschossen wurden -, die sind also in den Libanon geflohen, und im Libanon konnten wir diese Menschen interviewen über das, was in Syrien passiert ist.

    Barenberg: Und diese Menschen, die Sie interviewt haben, die berichten von Mord, sie berichten von Plünderungen, von Folter mit Elektroschocks – wir haben es gerade auch gehört in dem Augenzeugenbericht -, von Schüssen auf Flüchtlinge, von Misshandlungen. Das sind alles einige der Vorwürfe gegen die Sicherheitskräfte. Welches Gesamtbild ergibt sich aus Ihrer Sicht daraus?

    Muggenthaler: Das Gesamtbild ergibt sich leider so, dass Tel Kalakh kein Einzelfall ist, sondern dass in Syrien eben systematisch und weit verbreitet Übergriffe auf die Zivilbevölkerung stattfinden, nämlich, wie Sie schon sagten, willkürliche Festnahmen, Folter, Mord. Wir haben ja auch in diesem Fall von mindestens neun Menschen gehört, die in der Haft gestorben sind, und Sie haben schon gesagt, etwa 1300 Menschen sind dokumentiert, dass sie während der Proteste umgekommen sind. Das heißt, insgesamt muss man davon sprechen, dass hier Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattfinden.

    Barenberg: Sie haben von den Flüchtlingen gesprochen auf libanesischer Seite, die Sie interviewen konnten. Ist das ganz typisch für die Art und Weise, wie Sie recherchieren können? Woher stammen die Informationen, die Sie erhalten?

    Muggenthaler: Typisch ist es insofern nicht, als wir in anderen Ländern ja einfach in die Länder können und dort mit Zeugen sprechen und in der Regel auch sprechen können mit Behörden, sodass wir auch die andere Sicht der Dinge sehen. Aber in Syrien kommen wir schon seit einiger Zeit nicht mehr rein, die syrischen Behörden lassen nicht nur Journalisten nicht ins Land, sondern auch Amnesty International. In dem Fall mussten wir deswegen Leute interviewen im Ausland, also im nahen Libanon in dem Fall, aber wir versuchen trotzdem, natürlich immer die Aussagen zu überprüfen. Wir haben eben über 50 Leute dort unabhängig voneinander interviewt, wir haben uns auch Videoaufnahmen angeschaut. Deswegen sind diese Berichte leider sehr glaubwürdig.

    Barenberg: Wie schützen Sie die Informanten und die Informationen, die Quellen, die Sie haben?

    Muggenthaler: In dem Fall haben wir alles, was wir veröffentlicht haben, nur veröffentlicht mit falschen Namen. Die Leute haben auch sehr darauf bestanden, weil sie wollen ja wieder zurück in ihre Häuser, dass wir die echten Namen nicht nennen. Außer bei den Toten, die bestätigt sind, wo wir dann die echten Namen verwenden können, versuchen wir, so die Menschen davor zu schützen, vor der Rache des syrischen Regimes.

    Barenberg: Wie bewerten Sie denn, wie der Westen insgesamt umgegangen ist mit dieser Vorgehensweise und mit der Art und Weise, wie das Regime mit den Demonstranten umgeht?

    Muggenthaler: Man muss dazu ein bisschen in die Vergangenheit zurückgehen. Insgesamt hat der Westen, oder insgesamt die internationale Gemeinschaft misst verschiedene Regierungen nicht mit gleichen Maßstäben. In Syrien war es ja so, dass auch die EU zusammengearbeitet hat mit Syrien, zum Beispiel bei der Rückführung von Flüchtlingen, die in den Westen gekommen sind. Und auch jetzt ist es so, dass sich zwar inzwischen bemüht wird, dass der Sicherheitsrat, der UN-Sicherheitsrat eine Resolution verabschiedet, aber da geht es noch nicht richtig voran. Blockieren tun in dem Fall allerdings vor allem Russland und China.

    Barenberg: Das heißt, insgesamt ist Ihnen das zu zögerlich, wie die internationale Gemeinschaft bisher umgeht mit diesen Dingen?

    Muggenthaler: Das ist uns zu zögerlich. Wir fordern, dass der Sicherheitsrat diesen Fall an den Internationalen Strafgerichtshof überweist, dass tatsächlich das Vermögen von Assad und seinen Getreuen eingefroren wird und dass ein konsequentes Waffenembargo gegen Syrien umgesetzt wird und dass natürlich versucht wird, die Zivilbevölkerung und die Flüchtlinge zu schützen.

    Barenberg: Und das ist bisher noch nicht erreicht? Ein Waffenembargo gibt es ja und die Konten sind auch eingefroren.

    Muggenthaler: Das ist noch nicht umfassend erreicht. Die EU hat das gemacht und es gibt eben vor allem kein gemeinsames Vorgehen des UN-Sicherheitsrats bisher.

    Barenberg: Wie groß ist denn die Gefahr, dass die Lage in Syrien weiter eskaliert?

    Muggenthaler: Das ist natürlich ganz schwer einzuschätzen. Wir haben das ja erlebt bei den anderen Protesten wie in Tunesien und in Ägypten, wo es darauf ankommt, ob zum Beispiel Soldaten desertieren, was ja auch aus Syrien berichtet wird. Aber wir sind auch nicht in der Lage, natürlich vorherzusagen, wie das da weitergeht.

    Barenberg: Aber Anzeichen dafür, dass Assad in irgendeiner Form einlenken könnte, sehen Sie auch nicht?

    Muggenthaler: Nein, leider nicht. Es gab ja immer wieder Reformversprechen, zuletzt am 21. Juni hat er eine Generalamnestie verkündet, aber gerade die Demonstranten, die friedlichen Demonstranten, die festgenommen wurden während der Proteste, die sind nicht frei gelassen worden, sondern frei gelassen worden sind zum Beispiel gewöhnliche Diebe und chronisch Kranke, aber eben nicht die jetzt Festgenommenen.

    Barenberg: Ferdinand Muggenthaler von Amnesty International Deutschland über den Bericht, den die Menschenrechtsorganisation heute zur Vorgehensweise der Sicherheitskräfte in Syrien veröffentlicht. Danke Ihnen, Herr Muggenthaler, für das Gespräch.

    Muggenthaler: Bitte schön.