Simon: Das heißt also, Aids breitet sich in Osteuropa weit über so klassische Problemgruppen wie Drogenabhängige aus, es geht aber auch in andere Gesellschaftsschichten.
Weis: Ja, langsam. Zur Zeit müssen wir sehen, noch 80 bis 90 Prozent aller von Aids betroffenen jungen Menschen in Osteuropa sind Drogenkonsumenten. Aber in den älteren Epidemien, wie zum Beispiel in Kaliningrad oder auch vor allem in der Ukraine, sehen wir, dass schon 30 Prozent der Neuinfektionen auch von Mann auf Frau oder umgekehrt weitergegeben wurden. Und wir sehen eine rasch steigende Zahl von Übertragung des HIV-Virus von Müttern auf ihre Kinder.
Simon: Was bedeuten denn diese hohen Infektionsraten für die betroffenen Länder?
Weis: Zunächst ergibt sich ein erhebliches soziales, aber auch ökonomisches Folgeproblem, wie immer bei Aids. Aids betrifft eben junge Erwachsene, das heißt, Menschen, die dann nach einigen Jahren mit der Infektion erkranken, behandlungsbedürftig werden, schwer erkranken und sterben mit allen Erscheinungen und Folgelasten für die Familien, Gemeinden und auch für die Produktion. Insofern sind die Länder aufgerufen, hier nun wirklich konzertiert zu handeln, vor allem aber, sich dem Problem zu stellen, dass das eine Folge des Drogenkonsums ist. Einer der Schwerpunkte der Diskussionen in Dublin wird das Thema Schadensminderung sein, das heißt, dass man versucht, die Schäden, die durch den Drogenkonsum entstehen, zu lindern. Das sind die auch in Deutschland bekannten Nadelaustauschprogramme oder Methadonprogramme für Drogenkonsumenten.
Simon: Was auffällt, wenn man die künftigen neuen EU-Länder anschaut, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen Litauen, Lettland, Estland und zentralen europäischen Staaten wie Polen oder Ungarn, wo die Infektionsraten deutlich niedriger sind. Wissen Sie bei der WHO, woran das liegt?
Weis: Ja. Wir haben natürlich in dem, was wir Zentraleuropa nenne, Polen, Ungarn, Tschechien, eine Reihe von Ländern, die eine sehr stabile Infektionsrate haben, nur wenige Neuinfektionen, vielleicht vergleichbar auch mit der Situation in Deutschland. Das liegt daran, dass man mit dem Thema offener umgeht, dass man zunächst mal politisch dieses Thema anerkennt, die eben schon genannten Nadelaustauschprogramme macht, Aufklärung zu HIV betreibt, dass man dem Thema doch offener gegenübersteht. Aber es wird nicht vergessen, dass eben auch im Gesundheitssystem mehr Ressourcen sind, das heißt, die Patienten haben auch mehr Chancen zunächst mal an Ärzte und Behandlung zu kommen. Wir wissen heute, dass der Zugang zu einer Behandlung natürlich auch einen ganz hohen Effekt auf die Möglichkeiten der Prävention hat. Denn dort wo die Menschen die Chance auf Behandlung haben, lassen sie sich testen. Und über das Testen kommen sie in Kontakt mit dem Gesundheitssystem und haben dann auch wieder die Möglichkeit für Beratung und Behandlung.
Simon: Wir haben die ganze Zeit von bestimmten Staaten gesprochen. Wenn die EU jetzt bald größer wird, kann man dann immer noch davon ausgehen, dass sich die Probleme bei Aids-Infektionen sich auf bestimmte Staaten begrenzen lassen?
Weis: HIV war natürlich nie an Staaten gebunden sondern ist oder sind eine oder viele weltumspannende Epidemien. Es gibt kein Land mehr, das keine HIV-Infektionen gemeldet hat. HIV hat auch noch nie an einer Grenze halt gemacht. Insofern wird sich nicht viel ändern. Was sich positiv ändern wird, gerade im Baltikum, ist, dass sich durch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Rahmen der EU die Interventionsmöglichkeiten für diese Länder verbessert haben. Was aus unserer Sicht ganz wichtig ist, ist dass der Staat auch einsieht, dass er nur in der Zusammenarbeit mit den Selbsthilfegruppen und Betroffenen das Problem angehen kann und dass die Wahrung der Menschenrechte ganz wichtig ist, denn 90 Prozent der Aids-Patienten in Osteuropa gehören stigmatisierten, marginalisierten Gruppen an, die nicht gehört werden und keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben.
Simon: Was bedeutet das, wenn Sie sagen stigmatisiert, marginalisiert?
Weis: Das heißt, es sind Menschen, die ausgegrenzt, aus der sozialen Ordnung herausgenommen, von der Polizei verfolgt sind, weil Drogenkonsum illegal ist und sie keine Möglichkeit haben, an dem sozialen Prozess teilzunehmen. Genau das ist aber zum Beispiel in Polen oder Ungarn anders, daher auch die Erfolge. Man kann auch auf die deutschen Beispiele verweisen. Als Ende der 80er Jahre in Deutschland HIV- und Aids-Arbeit begann, zum Beispiel in Berlin oder Frankfurt, hat man sehr schnell mit den Selbsthilfegruppen zusammengearbeitet und sehr gute Erfolge erzielt. Diesen Weg kann man empfehlen, den sollten auch die osteuropäischen Länder gehen. Das wird aus unserer Sicht bei der WHO in Genf hoffentlich eines der Ergebnisse der Dublin-Konferenz sein.
Simon: Das war ein Gespräch mit Dr. Peter Weis. In der Aids-Abteilung der Weltgesundheitsorganisation WHO beschäftigt er sich mit Osteuropa.