Schon vor 2.000 Jahren beschäftigte sich der römische Philosoph Seneca mit der Zeit.
"Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen."
Ulrich Mückenberger, Forschungsprofessor für Rechts- und Politikwissenschaften an der Universität Bremen, glaubt, dass sich daran nicht viel geändert hat. Er plädiert für eine neue Zeitkultur in einer zeitachtsamen Gesellschaft. In der Menschen ihre Zeit wirklich nutzen.
"Die Alltagszeit setzt sich zusammen aus den Zeiten, die ich für etwas brauche, zum Beispiel um ein vernünftiges Leben zu führen. Die nenne ich jetzt mal gelebte Zeiten. Und auf der anderen Seite stehen da, ich nenne sie mal gezählte Zeiten, das sind Zeiten, die einem systemischen Regime unterliegen, also zum Beispiel Arbeitszeiten, Schulzeiten. Und unter Umständen aber mit den gelebten Zeiten in Konflikt stehen."
Die innere Uhr
Der moderne Mensch hat so seine Probleme mit der Zeit. Auf der einen Seite hat jeder einzelne einen circadianen Rhythmus. Eine innere Uhr in jeder einzelnen Zelle unseres Körpers. Die sorgt dafür, dass bestimmte Prozesse zu bestimmten Tageszeiten am besten funktionieren; erklärt Professor Henrik Oster. Er ist Chronophysiologe an der Universität Lübeck, Experte für genetisch kodierte Uhren.
"Es gibt fast keinen biologischen Prozess, der nicht auch eine cirkacadiane Komponente hat. Also das fängt von den meisten Hormonen an. Zum Beispiel Kortisol wird primär am Morgen ausgeschüttet, das Melatonin wird in der Nacht ausgeschüttet. Bis hin zu ganz basalen Prozessen, wie die Teilung von Zellen im Körper findet auch zu bestimmten Tageszeiten statt. Wir sind quasi getaktet."
Henrik Oster weiß, wie Menschen ticken. Und dass sie ihre inneren Uhren nicht einfach so stellen können, wie sie wollen oder müssen.
Im Auge gibt es ganz spezielle Fotorezeptoren, die nichts mit unserem Sehen zu tun haben, sondern einfach dazu da sind, Licht und Dunkel zu detektieren. Diese sagen unserer Uhr, es ist Tag oder es ist Nacht. Und diese Zentraluhr im Hypothalamus stellt sich darauf ein und synchronisiert dann all die anderen Uhren in den anderen Geweben.
Die innere Uhr des Menschen arbeitet präzise. Aber unsere Gesellschaft ist so organisiert, dass sie darauf wenig Rücksicht nimmt. Schichtarbeit, Sommerzeit und viel zu früher Arbeitsbeginn stören den Organismus. Der so aus dem Rhythmus gebrachte Mensch wird auf Dauer krank, sagt der Neurobiologe und Wissenschaftsjournalist Dr. Peter Spork. Unser Leben - ein Leben im ständigen Jetlag.
"Dann fühlen sie sich mies. Und das, weiß man, liegt daran, dass die einzelnen inneren Uhren in ihrem Körper unterschiedlich schnell diesen Jetlag verarbeiten. Also man kann es ein bisschen witzig formulieren. Ihr Gehirn kommt schon nach drei Tagen in New York an. Ihre Leber aber erst nach zwei Wochen."
Die Gesellschaft entscheidet heute, wann wir aufstehen und wann wir zu Bett gehen sollen. Seit die mechanische Uhr erfunden wurde, ist der Mensch dazu erzogen worden, seine innere Uhr abzuschalten, behauptet Professor Karlheinz Geißler, emeritierter Wirtschaftspädagoge an der Universität der Bundeswehr in München.
"Der Mensch muss veruhrzeitlicht werden. Und dafür wird die Schule eingeführt. Und die Schule wird so organisiert, wie die Uhr die Zeit organisiert. Das heißt, die soziale Organisation der Schule ist auf Pünktlichkeit ausgerichtet. Und Bürokratie, und die Schule ist bürokratisch organisiert, ist nichts anderes, als sozial umgesetzte Uhrzeit."
Zeit als Herrschaftsinstrument
Die Zeit, so Karlheinz Geißler, sei schon lange zu einem Herrschaftsinstrument der Mächtigen geworden. Im 19. Jahrhundert stellte jeder Landesfürst seine Uhren anders. Er war Herr über Raum und Zeit. Und das sei heute noch so. Von den europäischen Regierungen wurde die Sommerzeit eingeführt. Und Wladimir Putin hat, nachdem er die Krim annektiert hatte, die Uhr um zwei Stunden verstellt.
"Er hat Moskauer Zeit statt Kiewer Zeit eingeführt. Sie sehen durch diese Veränderung geschehen Annexionen, zeitliche Annexionen. Das heißt, nach welcher Pfeife muss ich tanzen. Zum Beispiel die Chinesen haben nur eine Zeitzone obwohl drei bis vier Zeitzonen eigentlich in China realistisch wären. Aber sie haben nur eine. Das heißt, alle richten sich nach Pekinger Zeit."
Die menschliche Zeitnatur spielt im Machtstreben eine genauso untergeordnete Rolle wie in der Ökonomie. Man müsse, fordert Karlheinz Geißler, sich in vielen Bereichen wieder stärker nach den Kriterien und Maßen der inneren Uhren richten. Und nicht nur nach der Uhr am Handgelenk oder am Glockenturm.
"Die Uhr gibt uns nämlich nicht vor, wann es genug ist. Wir brauchen wieder Kriterien des Genug. Und diese Gesellschaft, die Ökonomie kennt kein Genug, weil wir Zeit in Geld verrechnen. Und Geld kein Genug kennt."
Das gelte, so der Wirtschaftspädagoge, für die Arbeitskraft des Menschen genauso wie für unseren Umgang mit der Natur.
"Und von daher müssen wir eine Ökonomie entwickeln, die auch mit dem Kriterium des Genug arbeitet und nicht nur ein Wachstum um des Wachstums willen produziert, sondern ein Wachstum, was quasi mit der Entwicklung der Natur und mit den Maßen der Natur vonstattengeht."
Spielball der Betriebswirtschaft
Zeit verkomme zunehmend zu einem Spielball der Betriebswirtschaft, resümiert der Jurist und Politikwissenschaftler Ulrich Mückenberger, Zeit werde oft nur noch als Faktor für mögliche finanzielle Einsparungen wahrgenommen.
"Man unterscheidet da fachlich zwischen Effizienz und Effektivität. Also effizient ist es in dem Sinne, dass ich wenig ausgegeben habe. Aber effektiv ist eine Institution erst dann, wenn sie die ihr gesetzten Ziele tatsächlich erreicht. Das heißt, wenn das Krankenhaus tatsächlich zur Heilung beiträgt oder wenn die Schule tatsächlich zur Bildung und Entfaltungsmöglichkeit beiträgt."
Möglichst viel Heilung, möglichst viel Bildung, möglichst viel Produktivität in immer kürzerer Zeit. Diese Formel gehe aber auf Dauer nicht auf. Die Rationalisierung von Abläufen habe da, wo Menschen beteiligt sind, klare Grenzen, sagt Ulrich Mückenberger.
"Gemeinwohl besteht darin, dass integere Sozialbeziehungen bestehen, dass ein soziales Band besteht, was Menschen miteinander verbindet. Und dass Menschen mit sich und ihresgleichen achtsam umgehen, respektvoll umgehen, sich wechselseitig anerkennen. Und in dieser Weise über eigene Ressourcen zu verfügen ohne das zulasten der anderen zu tun."
Inzwischen, so der Politikwissenschaftler, würden einige Unternehmen sich schon darauf besinnen, dass Menschen nicht rund um die Uhr verfügbar sein könnten.
"Wir nennen das Entgrenzung von Arbeitszeit und Lebenszeit. Und da kommt plötzlich ein Unternehmen auf die Einsicht, ein achtsamerer Umgang mit der Zeit ihrer Mitarbeiter ist Voraussetzung auch für den Unternehmenserfolg."
Notwendigkeit von Zeitstrukturen
Fest steht: Menschen brauchen Zeitstrukturen, sagt der Professor Cord Jacobeit, Politikwissenschaftler an der Universität Hamburg und stellvertretender Vorsitzender der Hamburger Akademie der Wissenschaften.
"Es gibt den gestrandeten Robinson auf der Insel, der sich nach dem Aufgang und dem Untergang der Sonne einteilt. Aber trotzdem seine Striche macht für die Tage, die er da auf dieser einsamen Insel verlebt."
Wir sind evolutionär getaktet, wir sind sozial getaktet aber vor allem wir sind arbeitsökonomisch getaktet.
"Wir haben in den letzten Jahrzehnten, das gilt fast für alle Berufe, eine Zunahme der Verdichtung von Zeit. Wenn wir uns diesem Beruf widmen, dann empfinden die meisten Menschen das als eine sehr hohe Konzentration erfordernd, die sie aufbringen müssen, um in diesem Beruf erfolgreich zu sein. Und den Beruf halten zu können. Nicht auf die Straße gesetzt zu werden."
Eine ungesunde Verdichtung von Zeit, so Cord Jacobeit. Für die einzelnen Menschen und für das gesamte System.
"Denken Sie an die fundamentalen Entscheidungen darüber, ob bei den Fragen, ob die Bundeswehr im Ausland eingesetzt werden kann. Unter ganz großem Zeitdruck muss ein höchst komplexer politischer Prozess bewertet werden von den Parlamentariern. Also, es bleibt eigentlich immer weniger Zeit dafür da, das, was in einer Demokratie ja wichtig ist, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie zu diskutieren, sie ausführlich zu beraten, die Vor- und Nachteile abzuwägen etc. Das, was der Kern der Demokratie ist, leidet darunter, dass wir eben eine Zunahme, eine Verdichtung, eine immer größere Anforderung an das einzelne Individuum haben, komplexe Dinge zu beurteilen."