Michael Köhler: Die Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, sie findet gerade in London statt und steht unter dem Titel "Don´t mind the gap". Sie gilt den deutsch-britischen Beziehungen. Im Alltag, da ist dieser Imperativ "Mind the gap" oft anzutreffen, eine oft anzutreffende Warnung, die etwa auf den Spalt zwischen U-Bahn Plattform und Zugtür hinweist. Der Spalt, in den man fallen kann, ist der Gap, der zum Abgrund wird. Und im übertragenen Sinn ist es auch der Graben zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU vielleicht, denn da herrscht gerade eine Art Anti-Brüssel-Stimmung.
Ich habe den Präsidenten der Akademie für Sprache und Dichtung, den Göttinger Germanisten Heinrich Detering gefragt: Es ging in den letzten beiden Tagen bei Ihnen um das Generalthema Exil, Exil auch in England zwischen 1933 und -45?
Heinrich Detering: Zunächst würde ich sagen, das Gesamtthema ist schon "Don't Mind the Gap" und wir fächern das in verschiedene Richtungen auf, sowohl historisch als auch gegenwartsbezogen und dann schließlich auch, was das Gespräch der Poeten untereinander, deutscher und englischer, und das Gespräch der Übersetzer, der deutschen und englischen, angeht. Wir versuchen tatsächlich, das Überwinden des Grabens und das Durchqueren der Grenze breit anzulegen.
Das Exil-Thema war eines davon und wir haben das sowohl in theoretischer Hinsicht als auch in historischer als auch in einer sehr gegenwartsbezogenen Hinsicht diskutiert. Dieser lange Tag im legendären "Reform Club", in dem Jules Vernes Reise "In 80 Tagen um die Welt" beginnt, in diesen historischen Räumlichkeiten begann unsere Reise mit einem Rückblick auf die Exil-Erfahrungen zwischen '33 und '45, ging dann in die Fortdauer des Exils und auch seiner psychischen und sozialen und kulturellen Folgen weit über '45 hinaus bis hin in Erfahrungen einer jungen russischen Poetin und Internet-Autorin mit den Repressionen im gegenwärtigen Russland und in die Frage der Asylanten, die ja auch als eine Art von Exilanten nach Deutschland und nach Europa kommen. Darüber haben wir mit den Schriftstellern Navid Kermani und Aresio Retos gesprochen.
Köhler: … was ja ausgewiesene Experten beziehungsweise Befürworter sind auch für eine EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik.
Detering: Ja.
Köhler: Haben die gegenwärtigen Ereignisse Ihre Tagung nicht überschattet, aber war das ein Zentrum, die Diskussion um Flucht und Migration?
Detering: Ja, und es ergab sich eigentlich aus den historischen Texten des Exils heraus fast von selbst. Es ist gar nicht möglich, in diesen Tagen in London über solche historischen Erfahrungen zu sprechen, ohne dass sich Assoziationen mit gegenwärtigen Ereignissen in Europa und an den Grenzen Europas einstellen.
Köhler: Nehmen wir noch mal Ihren Titel beim Wort, den Graben überwinden. In diesen Tagen, wo wir auch an den 70. Jahrestag des Endes des zweiten Weltkrieg erinnern, habe ich buchstäblich den O-Ton von Winston Churchill im Ohr, wie er jubelnd der Menge sagt, "This is your Victory", dies ist Ihr Sieg, und wir haben nie einen schöneren Tag gesehen, was er in der Londoner Whitehall sagt. "Der Jubel der Welt", sagt Thomas Mann, das ist bitter, "gilt der Niederlage des eigenen Volkes und wir müssen zurückkehren in den Kreis der gesitteten Völker der Welt." Hat das in Ihre Tagung hineingeschienen?
Detering: Ja, ganz enorm. Das ist ja auch einer der Gründe dafür gewesen, dass wir die Tagung hier abhalten, auch einer der Gründe dafür, dass wir mit dem Rückblick auf das Exil begonnen haben. Das ist sehr bewusst so geplant worden. Aber es liegt mir sehr daran, daran zu erinnern, dass die Tagung eröffnet worden ist damit, dass wir unseren Akademiepreis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland an Neil MacGregor gegeben haben, eine Entscheidung, die übrigens fiel, bevor klar war, dass Neil MacGregor nach Berlin kommen würde. Neil MacGregor hat in einzigartiger Weise durch seine Ausstellung über Deutschland im British Museum, dessen Direktor er ist, ohne die Nazi-Zeit und die Weltkriege zu unterschlagen, darauf aufmerksam gemacht, dass die deutsche Geschichte, die Geschichte auch der deutschen Kultur um so vieles reicher ist als diese dunklen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, auf die sie zuweilen auch und gerade in der britischen Wahrnehmung reduziert worden sind. Er hat in einer fabelhaften Dankrede, die etwas Programmatisches hatte, sich noch einmal dazu geäußert, wie sich aus seiner Sicht die britische Wahrnehmung Deutschlands über die Perspektive auf die NS-Zeit und den Krieg hinaus und ohne die zu vernachlässigen verändern und erweitern kann, und er hat aus dieser Ausstellungserfahrung und dem enormen Öffentlichkeitsinteresse, die sie hier in Großbritannien gefunden hat, heraus sich optimistisch geäußert über ein neues Interesse an Deutschland in Großbritannien, das nicht mehr nur auf die finsteren zwölf Jahre reduziert ist. Wir erleben das übrigens auch bei dem Interesse des Londoner Publikums an unseren Veranstaltungen zum Beispiel zur deutschen Gegenwartspoesie oder zur Übersetzung deutscher Literatur ins Englische. Das ist ein sehr lebhaftes Interesse und ein wirklicher Austausch, was hier stattfindet.
Köhler: Heinrich Detering, heute geht es bei Ihnen um Übersetzung und ein Literatentreffen.
Detering: Ja. Es ging gestern schon darum in gewisser Weise, weil wir gestern zum ersten Mal zwei Institutionen haben zusammenbringen können, die an zwei getrennten Stellen dasselbe tun. Das ist die Poetry Library, die größte Poesie-Bibliothek der Welt, Spezialsammlung lyrischer Texte der Welt hier in London auf der Southbank direkt am Themse-Ufer, mit einer Fülle von Veranstaltungen über Poesie, die kleine Kinder ansprechen bis hin zu geschulten Fachkennern der Poesie. Und auf der anderen Seite das Lyrik Kabinett in München, die zweitgrößte Sammlung dieser Art in Europa, die nach dem Vorbild der Poetry Library gegründet worden ist und ein enger Partner der Deutschen Akademie ist. Gestern Nachmittag sind diese beiden Institutionen zum ersten Mal zusammengekommen, haben in einem sehr lebhaften und lustigen öffentlichen Gespräch ihre Erfahrungen ausgetauscht. Das ging bis hin in den praktischen Austausch von Adressen und Ideen, wie man Poesie weiter populär machen könnte.
Das setzen wir heute fort mit einem Podiumsgespräch zwischen englischen und deutschen Übersetzern. Gestern Abend gab es ein Gespräch über das übersetzt werden in eine andere Sprache zwischen deutschen und englischen Dichtern und heute Abend werden dann weitere Dichter aus beiden Ländern ihre Arbeiten vorstellen und miteinander ins Gespräch kommen. Und das alles übrigens an so wunderbaren Adressen wie der British Academy oder dem Victoria and Albert Museum und anderen Einrichtungen dieser wirklich enorm und wunderbar kulturreichen Stadt, in der wir sehr gastfreundlich empfangen werden.
Köhler: Da lässt es sich aushalten - die Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Ihr Präsident Heinrich Detering war das.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.