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Akgün: Rassismus ist zum Teil in den letzten Jahren salonfähig geworden

Lale Akgün kritisiert, dass neonazistisches Handeln abgeschlossenen Gruppen zugeordnet werde. Durch diese Abspaltung würden die Vorfälle nicht aufgearbeitet, meint die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete.

Lale Akgün im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Jahrelang lagen die Ermittlungsbehörden in Deutschland völlig daneben. Zehn Morde, Sprengstoffanschläge, ein gutes Dutzend Banküberfälle, alle gehen mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Konto der Zwickauer Zelle und wurden in keinem einzigen Fall einem rechtsextremistischen Hintergrund zugeordnet. Jetzt wird jeder Stein umgedreht, ob da nicht noch mehr Untaten zum Vorschein kommen. Die Ermittler könnten auch fündig geworden sein. Gestern teilte die Staatsanwaltschaft in Saarbrücken mit, sie ermittelt, ob das Terrortrio aus Zwickau auch hinter einem Anschlag auf die Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken im Jahr 1999 stecken könnte. Eine Serie von Brandstiftungen auf von Migranten bewohnte Häuser mit 20 Verletzten in Völklingen soll dagegen nicht dem nationalsozialistischen Untergrund zuzuordnen sein; hier wird allerdings auch neu ermittelt.
    Mitgehört hat Lale Akgün. Sie war früher SPD-Bundestagsabgeordnete, ist gelernte Psychotherapeutin und Autorin. Guten Morgen, Frau Akgün.

    Lale Akgün: Guten Morgen.

    Meurer: Wie finden Sie es denn, dass jetzt im Moment anscheinend jeder Stein umgedreht wird und die Ermittlungsbehörden überall forschen, ob auf das Konto der Zwickauer Zelle noch weitere Taten gehen?

    Akgün: Ich finde es ganz wichtig, weil ich glaube, dass all die Jahre diese Spuren nie verfolgt worden sind, weil man das nicht wahr haben wollte, und deswegen ist es jetzt Zeit, dass man all das nachholt.

    Meurer: Die Opfer der Mordserie und ihre Angehörigen standen lange im Verdacht, sie hätten etwas mit kriminellen Dingen selbst zu tun, mit Schutzgelderpressung oder anderen Dingen. Werden aus den Opfern, die unter Tatverdacht standen, jetzt wieder Opfer?

    Akgün: Ich glaube, dass die Menschen manches gar nicht verstehen und nachvollziehen können. Die Opfer von damals, die jetzt wieder im Mittelpunkt stehen, fragen sich, warum man immer wieder über sie redet und nicht eigentlich über die Täter, beziehungsweise was in der Gesellschaft vor sich geht. Ich glaube, wir machen es uns zu einfach, wenn wir immer nur über die Opfer reden, sie bemitleiden und dann eine Zeit lang sie in den Fokus des Interesses stellen. Wir sollten mehr darüber reden, was in dieser Gesellschaft los ist und warum wir diese Vorfälle immer so schnell wegkehren wollen untern Teppich.

    Meurer: Ist es denn jetzt noch so, dass die Vorfälle weggekehrt werden? Die Zeitungen sind täglich voll davon.

    Akgün: Ja, ich glaube. Natürlich sind die Zeitungen voll davon, im Moment kann man auch nicht daran vorbeigehen. Aber ich glaube, dass gesellschaftlich doch seit Solingen, sage ich mal, 1991, also 20 Jahre genau, wir uns, ich und ihr, wir sagen - da schließe ich mich nicht aus -, weil ich glaube, sie wollen alle es nicht wahrhaben, dass sie in einer Gesellschaft leben, in der Rassismus auch herrscht, und wir verdammen immer die Fälle. Wir reden von der braunen Brühe, weil solche Ausdrücke ja schön Distanz schaffen zu den anderen, zu diesen Tätern, die nichts mit uns zu tun haben, und zwischen uns in der Gesellschaft. Und wenn wir schon mal fragen, was heißt eigentlich braune Brühe, was hat das mit uns zu tun, mit dieser Gesellschaft; warum reden wir nicht darüber, dass in dieser Gesellschaft auch Rassismus da ist und wie wir damit umgehen sollen.

    Meurer: An welcher Stelle machen Sie den Rassismus in der Gesellschaft fest, außer in der neonazistischen Szene?

    Akgün: Nun, es gibt sehr viele Arten von Rassismus. Ich glaube, dass in den letzten Jahren Rassismus zum Teil auch salonfähig geworden ist. Ich glaube, dass wir immer dann von Rassismus reden können, wenn wir bestimmten Gruppen bestimmte Eigenschaften zusprechen und sie, als die anderen identifizieren, und das passiert in unserer Gesellschaft doch mittendrin. Also wir müssen nicht nur zu den Tätern, zu den neonazistischen Tätern herüberschauen.

    Meurer: Nennen Sie ein Beispiel, wo das mittendrin stehen soll in der Gesellschaft?

    Akgün: Nun, wenn ich mir das Buch von Herrn Sarrazin anschaue, denke ich, dass dieses Buch durchaus rassistische Züge hat.

    Meurer: Warum? Inwiefern?

    Akgün: ... , weil in diesem Buch auch durchaus bestimmten Gruppen - und er sprach dort vor allem natürlich von den Muslimen - bestimmte Eigenschaften zugesprochen worden sind, bis dahin gehend, dass man ihnen bestimmte Intelligenzen abgesprochen hat. Also ich glaube, wir müssen schon zwischen denen, die handeln, die tödlich handeln, und denen, die die Vorlagen liefern für dieses tödliche Handeln, indem sie bestimmte Ideologien aussprechen, eine Verbindung herstellen.

    Meurer: Um das auf den Punkt zu bringen: Beschuldigen Sie Thilo Sarrazin wirklich, die Vorlage für tödliches Handeln zu liefern?

    Akgün: Ich glaube, wenn Sie jetzt natürlich eine direkte Korrelation herstellen, wird zuerst Herr Sarrazin, dann alle anderen empört aufschreien, die auch dieses Buch gekauft und gelesen haben. Aber vielleicht müssen wir auch ein bisschen empört aufschreien, um zu verstehen, dass gerade dieses permanente Ausschließen und Versuchen, neonazistisches Handeln als eine abgeschlossene, in sich abgeschlossene Gruppe zu sehen, die mit uns nichts zu tun hat, genau dieses Abspalten ist es, womit ich meine, dass die Vorfälle nicht aufgearbeitet werden. Wir sollten aufhören, nur oberflächlich zu verdammen, die Täter zu verdammen und verklemmt politisch korrekt zu handeln. Wir müssen darüber reden, dass circa 20 Prozent der Bevölkerung mit rassistischem Gedankengut sympathisieren. Das heißt nicht, dass sie handeln ...

    Meurer: Wie kommen Sie auf diese Zahl 20 Prozent?

    Akgün: Diese Zahlen sind bekannt. Die werden immer wieder in wissenschaftlichen Untersuchungen festgestellt.

    Meurer: Erschwert das vielleicht, ich, sage mal, das aufeinander Zugehen von Migranten und Deutsch-Deutschen, wenn Sie jetzt sagen, 20 Prozent - ich spitze es mal zu - sympathisieren mit der braunen Szene?

    Akgün: Nicht mit der braunen Szene, mit rassistischem Gedankengut. Das ist ein Unterschied. Wir haben durchaus Tendenzen zu sagen, die sind anders, und wenn überhaupt Menschen anders sind, am besten man sollte sich fernhalten und so weiter. Solche Dinge meine ich. Natürlich erschwert das das aufeinander Zugehen, und es ist auch so, dass natürlich diese Art des Denkens das Zusammenwachsen der Gesellschaft erschwert.

    Meurer: Wie verfolgt, Frau Akgün, die türkische Community, die Migrantenszene die Ermittlungen, die jetzt laufen, und die Diskussionen, die darüber geführt werden?

    Akgün: Ich glaube, das ist auch eine sehr differenzierte Szene. Ich würde nicht von der türkischen Community reden. Natürlich gibt es auch dort Menschen, die auch genauso sensationell alles verdammen und so weiter. Aber auch dort gibt es natürlich Menschen, die sehr differenziert darauf schauen, was passiert eigentlich, und es gibt auch eine Menge von jungen Menschen - das finde ich ganz wichtig -, von jungen Menschen, denen das sehr, sehr fast körperliche Schmerzen zubereitet, dass in der Gesellschaft, in der sie leben, die sie als ihr zu Hause sehen, solche Dinge vorkommen. Also ich würde die türkische Community nicht nur auf bestimmte Gruppierungen reduzieren, sondern mal den Blick darüber schweifen lassen, und ich würde auch dort den gut ausgebildeten jungen Akademiker sehen, der in dieser Gesellschaft geboren und groß geworden ist und der sich heute fragt, warum werde ich immer noch als der andere wahrgenommen, warum gibt es immer noch Möglichkeiten, dass ich nicht dazugehöre und ein Teil der Gesellschaft bin.

    Meurer: Dass es einen Staatsakt geben soll, dass der Bundespräsident sagt, der Islam gehört auch zu Deutschland, sind das keine positiven Zeichen, die ausreichen, junge Türken im Land zu halten?

    Akgün: Das sind Zeichen, das sind sicherlich wohlmeinende gute Zeichen. Allerdings würde ich auch dort wieder sehen, dass das eben auch schon wieder das andere betont. Ich glaube, wir müssten mal darüber hinwegkommen, dass wir immer von dem anderen reden und dass wir immer noch einen homogenen Volksbegriff innehaben, der natürlich es erschwert, dass die anderen dazugehören, selbstverständlich dazugehören. Das, glaube ich, ist ganz wichtig, dass man nicht immer nur auch im Positiven von den anderen redet. Um jetzt den Begriff darauf zurückzubringen: Wir müssen auch darüber reden, dass es auch einen positiven Rassismus in der Gesellschaft gibt, der immer wieder die anderen auch wieder in eine Opferrolle bringt - sie gehören zwar nicht dazu, aber wir haben sie trotzdem lieb.

    Meurer: Lale Akgün, frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und Psychotherapeutin, heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke und auf Wiederhören, Frau Akgün.

    Akgün: Auf Wiederhören!

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