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Akgün (SPD) zu Frauenrechten in der Türkei
"Eine fast schon Taliban-mäßige Auslegung islamischer Gesetze"

Die Diskussion in der Türkei über einen Ausstieg aus der „Istanbul-Konvention für Frauenrechte“ zeige, dass die konservativen Kräfte an Macht gewonnen hätten, sagte die SPD-Politikerin Lale Akgün im Dlf. Die Türkei werde immer islamistischer. Und da störe ein Gesetz zum Schutz von Frauenrechten.

Lale Akgün im Gespräch mit Rainer Brandes |
Das Foto zeigt die deutsch-türkische SPD-Politikerin Lale Akgün
Frauen, die heute in der Türkei demonstrierten, müssten befürchten, zusammengeschlagen zu werden, sagte Lale Akgün (SPD) im Dlf (imago / epd)
In der Türkei regt sich Widerstand gegen den aktuell diskutierten möglichen Austritts des Landes aus der 2009 unterzeichneten "Istanbul-Konvention für Frauenrechte". Die Demonstranten befürchten die zunehmende Unterdrückung von Frauen in der Türkei und eine weitere Zunahme von Gewalt gegen Frauen.
Lale Akgün war von 2002 bis 2009 Bundestagsabgeordnete der SPD. Seit vielen Jahren engagiert sie sich für Frauenrechte in der Türkei und in Deutschland.
Mehrere bewaffnete Polizisten mit Schutzschilden stehen nebeneinander und blockieren eine Straße.
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"Die Türkei von 2020 ist nicht mehr die Türkei von 2011"
Rainer Brandes: Die Istanbul-Konvention, die ist ja 2011 unter anderem von Recep Tayyip Erdogan, dem Präsidenten der Türkei, mitinitiiert worden. Nun denkt seine Partei, die AKP, über einen Austritt nach. Wie kommt es dazu?
Akgün: Die Antwort ist einfach: Die Türkei von 2020 ist nicht mehr die Türkei von 2011 und schon gar nicht mehr die Türkei von 2002, als Erdogan an die Macht kam. In der Zwischenzeit haben die national-konservativen Kräfte so viel an Macht zugenommen, dass die Gleichgewichte zerstört sind.
Die liberalen, die aufgeklärten Kräfte haben immer mehr Möglichkeiten, sich durchzusetzen, und das schlägt sich vor allem bei den Frauenrechten nieder. Die Türkei wird immer konservativer, wird immer islamischer, und da stört natürlich ein Gesetz, in dem gesagt wird, dass man Frauenrechte schützen muss, dass man dafür sorgen muss, dass ein Mann zur Not auch die Wohnung verlassen muss. Damit kommen die Konservativen nicht zurecht.
Brandes: Würden Sie sagen, das Eintreten für Frauenrechte auch durch die Regierung Erdogan war und ist immer nur vorgespielt, um dem Westen zu gefallen, vor allem damals, als Erdogan noch aktiv einen EU-Beitritt angestrebt hat?
Akgün: Ganz sicherlich, 2011 ganz sicherlich. Ich denke, das war die Zeit, in der man etwas machen musste. Es gab auch die Zeit damals, dass in der Türkei eine Frau gegen den Staat vorgegangen ist, sie hat nämlich den Staat angeklagt, sie nicht genug geschützt zu haben. Das ging an die Öffentlichkeit, wurde auch noch natürlich im Europarat diskutiert, und da musste die Türkei etwas tun, und das war eben diese Konvention, die unterschrieben worden ist.
"Es sind Mosaiksteinchen eines Gesamtbildes eines islamischen Staates"
Brandes: Jetzt ist es ja so, dass Gewalt gegen Frauen in der Türkei weit verbreitet ist. Dieses Jahr sollen bereits mehr als eine Frau pro Tag von Männern wegen ihres Frauseins ermordet worden sein. Würde denn dann ein Austritt aus der Istanbul-Konvention überhaupt etwas ändern an der Situation für Frauen, wenn diese Konvention ja offenbar bisher auch keine richtige Schutzfunktion entwickelt hat?
Akgün: Ich glaube schon. Dieser Austritt ist für mich ein Quantensprung – man kann es vergleichen mit der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee. Auf den ersten Blick ist das jetzt auch nicht so aufregend, aber es sind Mosaiksteinchen eines Gesamtbildes eines islamischen Staates. Letztendlich, wenn Sie mitbekommen, worüber diskutiert wird, dann merken Sie auch, warum dieser Austritt eine wichtige Funktion hat für einen weiteren Schritt zur Frauenunterdrückung. Zum Beispiel regen sich die Gegner der Istanbul-Konvention sehr über das Wort Geschlechterrolle auf. Geschlechterrolle entspricht nicht den Vorstellungen der islamischen Gruppierungen.
Ihre Vorstellung ist, dass die Rolle als Frau gottgegeben ist, nicht von der Gesellschaft auferlegt, und diese göttliche Rolle hat eben auch viele, viele Unterpunkte: Frauen und Männer können nicht gleichberechtigt sein, die beste Frau aller Frauen ist die, die dem Mann sich unterordnet, und sie beziehen sich alle auf den Koran. Damit kommt die Türkei immer mehr in einen islamischen Staat, der durch religiöse Regeln auch regiert wird. Das ist noch einmal ein Punkt, den wir nicht nur aus der Sicht der Frauenrechte sehen müssen, sondern insgesamt, wohin die Türkei driftet.
Eine sitzende Frau mit langen Haaren und im Jeanshemd spricht in die Mikrofone bei einer Kundgebung.
Die Gewalt gegen Frauen in der Türkei nimmt zu (Emre Çaylak)
Frauen, die demonstrieren, müssen damit rechnen, zusammengeschlagen zu werden
Brandes: Jetzt erleben wir ja gerade große Demonstrationen gegen Gewalt an Frauen in der Türkei und auch gegen den Austritt des Landes aus dieser Konvention. Dass das Land da austreten solle, das geht ja auf eine Initiative von einer privaten Bewegung zurück. Haben die Initiatoren, die diesen Austritt befürworten, die Stimmung im Land falsch eingeschätzt?
Akgün: Ich glaube, sie wissen, dass die Frauenbewegung traditionell in der Türkei sehr stark war. Das geht einfach darauf zurück, dass die Türkei lange Zeit in der islamischen Welt das einzige laizistische Land war und Frauenrechte immer sehr hochgehalten hat. Inzwischen hat sich der Wind völlig gedreht. Die Frauen, die heute demonstrieren, müssen damit rechnen, dass sie zusammengeschlagen werden von der Polizei und von den Gegnern, und wenn sie von den Gegnern zusammengeschlagen werden, dann schaut die Polizei zu.
Schauen Sie, ich glaube auch nicht, dass dieser Austritt oder die Diskussion über diesen Austritt auch ein Ablenkungsmanöver ist von den wirtschaftlichen Problemen von Erdogan. Ich glaube ganz sicher, dass Erdogan inzwischen ein Getriebener ist durch sehr radikale muslimische Kräfte im Lande. Es ist nicht mehr so, dass Erdogan derjenige ist, der der Macher ist, ich glaube, dass inzwischen gerade die sogenannten Tariqa – das sind die islamischen Orden, auch die Hausmacht Erdogans – in der Gesellschaft immer mehr das Sagen bekommen und dass sie dafür sorgen, dass die Türkei mit der Frauenrolle eine andere Funktion übernimmt, nämlich die Funktion, in der islamischen Welt wieder so zu handeln, wie der Koran es vorschreibt.
Wenn Sie dagegen etwas sagen, sind Sie "ein schlechter Moslem"
Brandes: Ich habe aber auch gelesen, dass auch selbst innerhalb der Regierungspartei AKP sich Widerstand gegen diesen Austritt aus der Istanbul-Konvention breitmacht. Heißt das, dass die Frage nach Frauenrechten auch innerhalb der konservativen AKP nicht so eindeutig ist?
Akgün: Das ist richtig. Natürlich gibt es auch in der AKP Frauen oder auch Männer, die sagen, macht halblang, wir tun uns keinen Gefallen damit, wir haben ja gerade die Hagia Sophia zu einer Moschee gemacht, das sieht alles nicht gut aus im Ausland.
Aber ich bin trotzdem der festen Überzeugung, dass die konservativen Kräfte mehr Macht haben in der Gesellschaft und mehr die Möglichkeiten haben. Schauen Sie, die Rolle der Frau in der Gesellschaft wird vor allem auch von Diyanet, der staatlichen Religionsbehörde diskutiert. Dessen Vorsitzender Ali Erbas hat gerade mit einem Schwert in der Hand in der Hagia Sophia gepredigt, und die Gegner hatten kaum Möglichkeit, den Mund aufzumachen. Wenn Sie im Moment den Mund aufmachen und dagegen etwas sagen, sind Sie ein schlechter Moslem und damit begeben Sie sich auch persönlich in Gefahr. Frauen, die heute auf die Straße gehen, verdienen all unsere Unterstützung, weil sie den Mut haben, etwas gegen diese Regierung und gegen diese fast schon Taliban-mäßige Auslegung islamischer Gesetze vorzugehen. Aber wie gesagt, wir müssen auch sehen, dass die Gleichgewichte gestört sind. In den letzten Jahren ist das Verhältnis von islamisch-konservativ zu aufgeklärt-liberal mehr oder weniger ausgeglichen gewesen, gerade in der Frage der Frauenrechte, aber dieses Gleichgewicht sehe ich nicht mehr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.