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Aktion "Deutschland spricht"
"Kommunikation heißt in der Tat, dass man nicht einer Meinung ist"

Am Sonntag trafen sich überall in Deutschland Menschen, die sich einmal richtig die Meinung sagen sollten: Bei der Aktion "Deutschland spricht" trafen unterschiedliche Meinungen aufeinander. Richtig so, sagt der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch im Dlf, denn Dissens gehöre zur Demokratie.

Jochen Hörisch im Gespräch mit Anja Reinhardt |
    Der Professor für Neuere Deutsche Literatur und qualitative Medienanalyse an der Universität Mannheim, Jochen Hörisch, aufgenommen am 11.09.2007 bei der Aufzeichnung der ZDF-Sendung "Nachtstudio" in Berlin. Hörisch ist Herausgeber des Jahrbuchs für Romantik. Foto: Karlheinz Schindler +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
    Der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch (dpa/Karlheinz Schindler)
    Anja Reinhardt: Zu Beginn widmen wir uns einer Inszenierung, die gestern nicht auf einer Theater- oder Opernbühne stattgefunden hat, sondern in ganz Deutschland an vielen unterschiedlichen Orten: Unter der Überschrift "Deutschland spricht" sollten sich Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten zusammensetzen und streiten. Statt sich unter Gleichgesinnten immer wieder zu bestätigen, sollte hier der Austausch im Vordergrund stehen, über 8.000 Interessierte hatten sich angemeldet – Krankenschwestern, Taxifahrer, Wissenschaftler, Unternehmer. Schirmherr der Aktion, die unter anderem von Spiegel online, der Zeit und der Tagesschau organisiert wurde, ist Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, der gestern die Eröffnungsrede zum gemeinsamen Sprechen hielt:
    "Wir erleben so etwas wie Wut und nicht nur Protest auf deutschen Straßen, hin und herfliegende Empörungsfetzen, Hass- und Gewaltausbrüche. Eine sozialmoralische Rage, mit der Gruppen regelrecht miteinander und gegeneinander in den Kulturkampf ziehen. Wir erleben sogar, dass dabei die Existenzberechtigung des anderen in Frage oder sogar in Abrede gestellt wird."
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Eröffnung der bundesweiten Aktion "Deutschland spricht". 
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Eröffnung der bundesweiten Aktion "Deutschland spricht". (Jörg Carstensen/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ )
    Reden ohne Rage unter Aufsicht – ich habe den Medienwissenschaftler Jochen Hörisch zur Aktion "Deutschland spricht" befragt und wollte von ihm wissen, was das über den Zustand unserer Gesellschaft aussagt, wenn man den Meinungsaustausch auf diese Weise inszeniert?
    Keine Kommunikation ohne Dissens
    Jochen Hörisch: Es sagt in der Tat aus, dass die Kommunikationschancen – und Kommunikation ist ja heute ein Fetisch-Begriff – abnehmen statt zunehmen. Kommunikation heißt ja in der Tat, dass man einen Dissens hat, dass man nicht einer Meinung ist. Konsens würde jede Kommunikation zum Ende bringen. Dann ist man einig, worüber soll man dann noch sprechen. Wir müssen uns einfach deutlich machen, dass Dissens, unterschiedliche Ansichten der Produktionsgrund von Gesprächen sind, die uns wirklich bewegen, und insofern sagt uns das, dass wir vielleicht auch eine falsche Kommunikationskultur haben, die zu stark konsensorientiert gewesen ist. Unterschiedliche Meinungen, das ist der Stoff, aus dem Demokratien gemacht sind.
    Reinhardt: Nun haben ja offenbar viele Diskutanten festgestellt, dass sie zwar komplett verschiedene politische Ansichten haben, sich aber trotzdem prima verstehen. Warum ist denn die Stimmung trotzdem so feindselig im Moment, wenn wir uns zum Beispiel an die Bilder aus Chemnitz erinnern? Sind die politischen Fragen zu Glaubensfragen geworden?
    Hörisch: Weil wir wahrscheinlich umgeschaltet haben von dem Paradigma, dass wir einen Gegner haben, der eine andere Meinung hat und den wir deshalb interessant finden können, hin zum Feind. Und zurecht sind ja Begriffe wie Filterblase oder Selbstverstärkungseffekte, dass man in seiner Gruppe sich wechselseitig attestiert, dass man recht hat, größer geworden. Wir haben ein Abschotten von Kommunikationsblasen gegeneinander. Es hat ja keinen großen Sinn, der jeweils anderen Meinung zu sagen, ihr seid doof, ihr habt nicht meinen Durchblick, mit euch spreche ich nicht, mit euch spiele ich nicht, wir sind die Edlen, die Hilfreichen und die Guten, wir retten Deutschland. Insofern finde ich es sehr gut, dass wir kulturell gesehen einfach sagen: Leute, es ist eine Bereicherung der Gesprächskultur. Wenn wir uns die Meinung sagen, das ist besser als wenn wir uns anschweigen, oder als wenn wir uns aus- und anbrüllen.
    Reinhardt: Früher gab es ja so was wie Salonkultur, von der man vielleicht gehofft hatte, dass man sie im Netz bei Plattformen wie Facebook wieder virtuell etablieren könnte. Würden Sie sagen, dass eine Aktion wie "Deutschland spricht" so was wie Salonkultur im Großen etablieren könnte? Außenminister Heiko Maas hat ja schon getwittert, so was sollte doch bitte regelmäßig stattfinden.
    Diskussionen auf Salonniveau heben
    Hörisch: Ja! Mit Salonkultur hat man natürlich die Messlatte sehr, sehr hochgelegt. Im Salon ist man ja bewusst geistreich. Man sucht die Paradoxie. Man sucht die Pointe. Man muss im Salon auch nicht unbedingt das sagen, was man eigentlich glaubt. Im Salon stirbt man nicht duellmäßig für seine Überzeugungen, sondern um die Aufmerksamkeit einer klugen schönen Frau oder eines interessanten Mannes zu gewinnen, macht man auch eine Pointe, für die man gar nicht sachlich eintritt. Das heißt, der Salon ist so etwas wie ein virtueller Raum, lange bevor es Digitalisierung gegeben hat.
    Wenn wir das hinkriegen würden, politische Grundsatzdiskussionen auf Salonniveau zu heben, dann hätten wir verdammt viel erreicht. Ich wäre schon dankbar dafür, wenn man einfach sich daran erinnert, wie wichtig es ist, den anderen ernst zu nehmen und nicht immer gleich das Schlimmste zu unterstellen, aber ihn auch so ernst zu nehmen, dass man sich auf seine Kategorien einlässt. Auch das gehört ja zum Salon. Ich werde einen Linksradikalen irritieren können, wenn ich sage, hier die Demo in Hamburg gegen den G20-Gipfel, der schwarze Block, es erinnert mich verdammt an eine SS-Truppe, wolltet ihr denn wirklich, dass das Staatsmonopol des Staates strandet, und könnt ihr das ernsthaft wollen, dass wir wieder Verhältnisse kriegen, wo man marodierende SA- und SS-Banden hat, an die erinnert ihr mich, die ihr euch als links bezeichnet. Ich glaube, in dem Maße, wie man sich auf solche Denkfiguren einlässt, und Selbstverständigungsfindungen, in dem Maße kann man auch für Irritationen sorgen, und das ist der eigentliche Sinn.
    Reinhardt: Nun wird ja die Aktion als Erfolg gesehen. Aber trotzdem, um noch mal auf den Anfang zurückzukommen, war es ja ein inszeniertes aus der Blase Heraustreten und mit anderen Leuten sprechen, mit denen man sonst nicht in Kontakt kommt. Das müsste man ja dann eigentlich in den Alltag irgendwie integrieren können. Ist das realistisch?
    Rollenspiel als Schicksal
    Hörisch: Ja! Es ist deshalb realistisch, weil wir ja realistischer Weise dazu verdammt sind, Rollen zu spielen, uns zu inszenieren. Es wäre ja eine seltsame Unterscheidung zu sagen, das Inszenierte ist das Künstliche, das nicht Inszenierte das Authentische. Immer wenn wir Diskursregeln folgen, wenn wir sie in die Welt setzen, wenn wir bestimmte Gespräche spielen, als Familienmitglied, im Freundeskreis, im Verein, am Arbeitsplatz und so weiter, sind wir ja Rollenspieler. Wir müssen begreifen, dass das nicht Authentische deshalb so reizvoll ist, weil es andere Möglichkeiten erschließt. Dann hat man wirklich eine Zunahme an Optionen und an Möglichkeit. Ich würde das nicht mit dem negativ konnotierten Begriff der Inszenierung schlechtreden wollen, sondern auch da sagen, es ist ein Produktivitätsgewinn.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.