Als ob man in einer riesigen Caipirinha treibt: Crushed Ice ringsherum, nur der Strohhalm fehlt. Doch die Eiswürfel, sie klingeln unter dem Kiel des Motor-Schlauchboots. Leise wiegt sich der graue Matsch aus Gefrorenem auf den Wogen des Antarktischen Meeres. Tobias Brehm müht sich redlich, das Zodiac in Fahrt zu halten, doch immer wieder verhakt sich die Antriebsschraube des Außenborders im Eis.
"Häufig passiert es, dass man einfach steckenbleibt. Dass das Eis sich unter dem Zodiac ansammelt. Und man dann quasi da freiräumen muss. Das ist also so, als ob man einen Mixer zu voll stopft. Dann geht es auch irgendwann nicht mehr." Das kann auch einem erfahrenen Zodiac-Fahrer passieren. Dann heißt es: Rückwärtsgang, Gas geben. Vorwärtsgang, Gas geben. Das Boot ist frei. Mit röhrendem Motor geht es gen Küste, während die Silhouette der Mutterfähre "Plancius" hinter der Heckwelle immer kleiner wird.
Ein Hindernis: abbrechende Gletscher
Ein Landgang mit Hindernissen: In der Antarktis ist das nicht ungewöhnlich. Brehm steuert nun das Ufer der Lemaire-Insel an. Ein Eisberg dümpelt vorbei. Er ist von der Gletscherkante abgebrochen, die hier fast überall die Küste des Kontinents schmückt. Dunkelblau schimmert der Koloss.
"Das Eis kommt von tief aus dem Gletscher. Da ist mehr Druck. Und dieser Druck presst die Luft raus, macht das Ganze kompakter. Und dem entsprechend ist das auch durchsichtiger, weil weniger Luft drin ist, die das Licht als Weiß reflektiert. Die letzte große Eiszeit war vor 10.000 Jahren. Kann sein, dass das aus der Zeit stammt. Aber das ist schwierig zu sagen."
Abbrechende Gletscher sind es auch, die hier den Landgang fast unmöglich machen. Schließlich findet "Oceanwide-Expeditions"-Guide Brehm in der Molina-Bucht eine Stelle, an der die Touristen aus dem Boot steigen können.
Vom Boots- zum Bergführer
Rund 500 Meter über der glitzernden Wasseroberfläche steckt ein namenloses Felshorn seine Spitze keck in die Luft. Das soll das heutige Gipfelziel sein. "Wir wollen jetzt erstmal ein bisschen Bergwandern gehen. Und es wird nach oben hin steiler. Das heißt: Wir fangen mit Schneeschuhen an. Und wenn wir dann Richtung Felsen und mehr Eis kommen, dann werden wir auf Steigeisen umwechseln. Dann gucken wir einfach, ob wir einen schönen Aussichtspunkt finden. Vielleicht einen Gipfel, falls es wir es von der Zeit und dem Wetter her schaffen. Dann können wir die Antarktis mal von oben genießen."
Tobias Brehm wird also vom Bootsführer zum Bergführer. Mit geübten Griffen knüpft der Bayer die Knoten, mittels derer die fünf Alpinisten sich ins Seil binden. Denn beim Aufstieg drohen Gletscherspalten. Trotzdem: Vorfreude auf das Abenteuer macht sich breit. "Es sieht machbar aus. Die Frage ist, wo wir hin wollen. Da oben hin nur oder auf den zweiten oder dritten Hügel. Bis dahin müssten wir es eigentlich schaffen in drei Stunden."
Und schon stapft die Gruppe angeseilt und im Gänsemarsch über die steilen Schneefelder oberhalb des vereisten Strandes. Brehm gibt den Gletscher-Novizen Tipps: "Die Eisaxt bleibt immer auf der Bergseite. Wenn das Ganze hart ist, dann nehmen wir die spitze Seite nach vorn. Und wenn es weich ist, dann können wir die stumpfe Seite nehmen. Wobei es heute wahrscheinlich wurscht ist. Da macht es einfach Sinn, wenn man sie schön festhält."
"Lauschige" Temperaturen
Besonders kalt ist es nicht: Knapp über Null. Für die Antarktis geradezu lauschig. Stetes Steigen im Schnee bringt die Seilschaft schnell höher. Tief unten auf dem Wasser: die Fähre "Plancius" in Wartestellung.
"Jetzt sind wir im Steilen mit mehr eisigen Bereichen und nicht so viel Tiefschnee. Das heißt, wir werden jetzt mit den Steigeisen und den Pickeln weiter aufsteigen am Grat und mal schauen, wie weit wir kommen. Es wird jetzt auch ausgesetzter rechts und links, da geht es ein bisserl tiefer runter. Auf der rechten Seite bis zum Meer, auf der linken Seite ist ein bisschen Schnee dazwischen, aber dann geht es auch Richtung Meer. Und deswegen auch die Steigeisen: Damit wir fester stehen."
Bloß kein Ausrutscher also bitte! Die Wanderung wird zum Balanceakt. Immer schmaler die Gratschneide, immer enger die Spur. Vor einem Steilaufschwung ist Schluss. Eine Eiswand verhindert das Weitergehen. Kurzerhand erklärt das Team die Kuppe davor zum Gipfel. Das Panorama ist gigantisch – und ganz anders als in den heimischen Alpen.
"Es war jeden Meter wert: Viele Berge, viel Schnee und viel Wasser. Und unser Schiff in einiger Entfernung. Und Pinguine." – "Es ist schon beeindruckend, wie jetzt der Nebel hochsteigt. Und eben die Berge im Hintergrund und die Gletscher und das schneebedeckte Land. Dass eben zum Teil noch das weiße Eis auf dem Meer ist. Das hat schon was."
Remmidemmi bei den Pinguinen
Mühsam dann das Abklettern durch die Schneeflanke hinunter zum Wasser. Dort wartet nicht nur das Zodiac. Auch eine fette, grau-braune Weddell-Robbe hat es sich nahe der Anlegestelle bequem gemacht. Der Bulle äußert durch unwirsches Schnaufen und Prusten seinen Unmut – gräbt sich dann aber zum Weiterschlafen wieder in seine Schneewehe.
Begegnungen zwischen Mensch und Tier sind beim Besuch der Antarktischen Halbinsel die Regel. So auch beim Landausflug in der Bucht von Damoy Point. Das Meerwasser kräuselt sich leicht im Wind, der von den Küstengipfeln herab streicht. Bei den Pinguinen am Strand ist Remmidemmi angesagt.
Nein, nicht, weil ein paar Schneeschuhwanderer vom Expeditionsschiff "Plancius" ins Revier der Eselspinguine eingedrungen sind. Es ist Paarungszeit bei den kniehohen, schwarz-weißen Vögeln, die zu Tausenden auf den Hügeln am Ufer stehen. Sie hoffen darauf, dass der Schnee endlich schmilzt und sie brüten können, klärt die Polarforscherin Katja Riedel auf:
"Die warten jetzt darauf, dass der Schnee endlich weggeht. Und fangen dann demnächst auch an zu brüten. Man sieht es: Teilweise bauen sie schon Nester mit kleinen Steinchen. Es ist eben noch ziemlich viel Schnee. Normalerweise ist hier viel mehr Boden zu sehen. Und die Steinchen werden recycelt – also aus früheren Nestern oder von Nachbarn gestohlen. Und hier versuchen sie da, wo der Schnee weg ist, die Steinchen rauszuklauben."
Raubvögel mit perfider Strategie
Sich um Nachwuchs in der harschen polaren Umgebung zu kümmern wird den Eselspinguinen nicht ganz einfach gemacht. Große Raubmöwen kreisen über den Kolonien. Die so genannten Skuas sind auf die ersten gelegten Pinguin-Eier aus. Und sie lassen nichts unversucht, um an die schmackhafte Beute zu kommen.
"Skuas können tatsächlich ein ganzes Ei im Schnabel wegtransportieren und setzen sich dann hin, hacken das Ei auf und schlürfen es aus. Und hier habe ich auch einen Pinguin gesehen, der gerade von zwei Skuas richtig attackiert wurde. Die sind da ziemlich gewieft: Der eine lenkt den Pinguin ab, dadurch dass er ihn am Schwanz zieht oder auf ihn einhackt. Und der andere stiehlt dann das Ei."
Mit dem Motor-Schlauchboot kommt unterdessen eine weitere Gruppe am Ufer an und wird durch John Mayor, Exkursionsleiter von "Oceanwide Expeditions", begrüßt: "Willkommen an Land. Wir sind jetzt am Damoy Point. Wenn ihr den Berg hochgehen wollt, dann folgt einfach den Bergführern. Ich empfehle, Schneeschuhe anzuziehen. Wenn ihr welche wollt, dann holt Euch welche."
Schneeschuhe schützen Pinguine
Was die Antarktis-Besucher auch lernen: Die Schneeschuhe sind nicht in erster Linie dafür da, dass die Menschen beim Herumwandern nicht im Schnee einsinken. Vielmehr dienen sie hier dem Schutz der Pinguine. Denn tiefe Fußstapfen sind für die kleinen Vögel eine lebensgefährliche Falle: Wenn sie herumwatscheln und in eins der Löcher rutschen, dann bleiben sie dort stecken und kommen nicht mehr heraus.
Am Anfang tun sich die Polar-Neulinge schwer, die Schneeschuhe an den Wanderstiefeln zu befestigen. Doch mit ein bisschen Unterstützung geht es dann doch. "Wir sind am Damoy Point angelandet und haben jetzt gerade mit den Schneeschuhen einen Hügel erklommen. Unter uns liegt Port Lockroy, eine britische Forschungsstation, die jetzt umfunktioniert ist als Post und Souvenirshop. Und natürlich wird dort auch Forschung betrieben und diese Eselspinguin-Kolonie wird erforscht."
Die österreichische Biologin Barbara Post führt die Schneewanderer an. Der erste Zwischenstopp der Tour ist schnell erreicht. Kaum 300, 400 Höhenmeter sind es bis auf den nächsten Hügel. Von dort oben ist das Getümmel rund um die braunen Häuser von Port Lockroy gut zu erkennen. An den Baracken der Forscher stehen Tausende von Pinguinen herum. Die Wissenschaftler in der Mini-Siedlung wollen herausfinden, ob die Vögel sich gestört fühlen von den vielen Besuchern, sagt Post.
"Man versucht herauszubekommen, welchen Einfluss die Touristen auf die Kolonie haben. Da wird gezählt und geschaut, wie viele Eier sie legen und wie viele Küken überleben. Wie viele Skuas und auch Scheidenschnabelvögel hier sind und wie viele Bruterfolge sie haben. Man weiß schon ein bisschen was: Der Tourismus scheint keinen großen Einfluss zu haben. Eine Kontrollgruppe ist die, wo die Touristen nicht hindürfen und die andere ist da, wo die Touristen hindürfen und Kontakt haben mit den Pinguinen. Und es scheint keinen Einfluss zu haben."
Gigantische Rundum-Aussicht
Weiter also, immer dem verschneiten Rücken nach bergauf. Tief unter den Schneeschuhgehern erstreckt sich die gleißende Wasserfläche des Neumayer-Kanals. Ganz klein wirkt die blau-weiße "Plancius" mittlerweile, die in einer Bucht zwischen Eisbergen vor Anker liegt. Die Hügel der Insel aber können Gerda nicht wirklich beeindrucken. Sie ist schließlich Schweizerin und kennt ganz andere Berge als diese hier.
"Sie sind etwas klein, aber man gewöhnt sich daran. Mit den Schneeschuhen reicht das ohnehin. Die sind viel runder, die Berge. Außer die, die Schnee drauf haben. Dann sieht man das schon. Aber die anderen Hügel, die sind etwas runder."
Lange muss sich die Gruppe nicht mehr bergauf plagen. Das Rundum-Panorama auf dem namenlosen Gipfel führt allen die gigantischen Ausmaße der antarktischen Landschaft vor Augen: Ob Insel, ob Bucht, ob Felswände – von allen Seiten scheinen die Gletschermassen ins Meer zu stürzen.
"Einfach überwältigend"
Auf dem Wasser zersplittert das strömende Weiß dann in zahllose Eisberge. Bei diesem ergreifenden Anblick merkt es kaum jemand, dass die Brise wieder steifer wird und feuchte Schneeflocken durch die Luft wirbeln. "Im Augenblick ist es ein bisschen nebelig. Von daher sieht man nicht ganz so viel. Die Fernsicht, die fehlt halt." "Also, das ist grandios. Manchmal fehlen einem die Worte. Das ist so unglaublich schön. Es ist einfach überwältigend. Mehr kann man da gar nicht sagen."
Schweigend und sichtlich bewegt steigt die Gruppe wieder hinunter zum Meer. Am Ufer wartet schon das Zodiac. Tobias Brehm taucht die Schraube des Außenborders ganz behutsam in die zähe Masse am Bootsheck. Denn das Salzwasser ist bedeckt mit einem Brei aus zermahlenem Eis. Überhaupt: Warum friert die See eigentlich nicht zu?
"Ich gehe mal davon aus, dass das Wasser minus eins oder zwei Grad hat. Das liegt am Salzgehalt. Je mehr Salz im Wasser ist, desto niedriger ist der Gefrierpunkt. Und dem entsprechend kann eben auch unter Null das Wasser noch flüssig sein."
Nur ganz langsam arbeitet sich das Schlauchboot zurück zum Expeditionsschiff. Leise wippend schieben sich die luftgefüllten Gummiwülste über den mehlig wirkenden Eisbrei. Als ob man in einem riesigen Sorbet schwimmt…