20 Jahre nach Beginn des Irak-Kriegs
Welche Krisen den Irak heute blockieren

Zwei Jahrzehnte nach dem Krieg der USA-geführten "Koalition der Willigen" gegen den Irak hat das Land noch immer keine dauerhafte Stabilität gefunden. Das liegt auch daran, dass der Irak heute so viele Krisen und Konflikte gleichzeitig bewältigen muss.

Von Felix Wellisch |
    Menschen stehen mit grellen Westen und Fahnen in der Nähe des Zentralbankgebäudes in der irakischen Hauptstadt Baghdad auf der Strasse.
    Immer wieder gibt es im Irak Proteste, hier im Januar 2023. (Anadolu Agency via Getty Images / Anadolu Agency)
    Die Bevölkerung des Irak hat in den vergangenen Jahrzehnten viel aushalten müssen: Kriege und Fremdbestimmung, Korruption und gesellschaftliche Spaltung, die Schreckensherrschaft des IS und die Auswirkungen von Wassermangel und Klimawandel. Obwohl keine der Krisen für sich genommen unüberwindbar wäre, stehen die Iraker heute vor so vielen Problemen gleichzeitig, dass selbst eine funktionierende Regierung es schwer hätte, die Herausforderungen zu bewältigen. Stattdessen aber steckt das Land auch politisch in der Sackgasse. Ein Überblick über die drängendsten Probleme.

    Korruption und Regierungskrise im Irak

    Im Oktober 2022 gab es einen Moment des Aufatmens im Irak: Ein Jahr lang war es nach der Parlamentswahl 2021 keiner Fraktion gelungen, eine tragfähige Koalition zu bilden. Erst nachdem die 73 Abgeordneten der eigentlich siegreichen Bewegung des radikalen geistlichen Schiiten-Politikers Muqtada al-Sadr sich im vergangenen Juni geschlossen aus dem Parlament zurückzogen, bekam das Land im Oktober wieder eine Regierung. Der neue Regierungschef Mohammed al-Sudani versprach, gegen Korruption vorzugehen und zeitnah Neuwahlen vorzubereiten. Doch knapp ein halbes Jahr später ist kaum etwas passiert und es wird zunehmend deutlich: Der politische Neuanfang und ein Ende der Klientelpolitik sind auch von al-Sudani nicht zu erwarten.
    Porträt des irakischen Ministerpräsidenten Mohammed Schia al-Sudani bei einer Pressekonferenz. Im Hintergrund die Flagge des Irak.
    Der irakische Ministerpräsident Mohammed Schia al-Sudani (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Das politische System des Landes steckt in der Krise. Bereits 2019 zogen deswegen massenhaft vor allem junge Iraker auf die Straßen: Die Teilnehmer der sogenannten Tischrin-Bewegung forderten ein Ende der Einmischung aus dem Ausland und eine Abschaffung des sogenannten Muhasasa-Systems, demzufolge politische Macht nach einem ethnisch-konfessionellen Schlüssel verteilt wird. Diese ungeschriebenen Regelungen hatten in der Zeit nach dem Sturz Saddam Husseins Unterdrückung zwischen ethnischen Gruppen verhindern sollen.
    Heute aber zementieren sie in den Augen vieler Kritiker die Spaltung der Gesellschaft. Politische Parteien konkurrieren weniger um Inhalte als vielmehr darum, politische Macht und Gelder möglichst an Mitglieder der eigenen Gemeinschaft zu vergeben. Entsprechend wenige Menschen gingen bei der Wahl 2021 überhaupt noch an die Urnen. Die Wahlbeteiligung lag bei 41 Prozent, dem niedrigsten Wert seit 2005.
    Dem von Korruption geschwächten Staat und der aufgeblähten Verwaltung gelingt es teilweise nicht einmal, ausreichend öffentliche Dienstleistungen wie Strom und Wasser zur Verfügung zu stellen, geschweige denn die vielen drängenden Probleme des Landes anzugehen. Die Proteste 2019 hingegen wurden von Sicherheitskräften und pro-iranischen Milizen gewaltsam unterdrückt. Mehr als 600 Demonstranten wurden dabei getötet.
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    Die Spaltung der irakischen Gesellschaft

    Die Segregation der irakischen Gesellschaft geht jedoch weit über die Politik hinaus. Bis 2003 lebten beispielsweise in der irakischen Hauptstadt Bagdad vielerorts Schiiten, Sunniten und Christen nebeneinander. Gewaltsame Machtkämpfe zwischen verschiedenen Gruppen, besonders zwischen der schiitischen Mehrheit und der sunnitischen Minderheit nach dem Sturz Saddam Husseins sowie zahlreiche Terroranschläge in vielen Teilen des Landes haben die Gräben in der irakischen Gesellschaft vertieft. Heute ist Bagdad weitgehend nach Religionen aufgeteilt, gemischte Stadtviertel gibt es nur noch wenige.

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    Hinzu kommt die hohe Zahl von Schusswaffen im Irak. Nach der Invasion 2003 gerieten zahlreiche Waffen aus Armeebeständen in Umlauf.
    Ein US-Panzer steht in karger irakischer Wüstenlandschaft. Auf dem Lauf steht "Bye Bye Bagdad".
    Krieg im Irak nach der Invasion 2003 (Getty Images / Lynsey Addario)
    Die USA trugen dazu noch bei, weil sie zehntausende Waffen an sympathisierende Milizen und neu geschaffene Sicherheitskräfte ausgaben, erklärte der ehemalige BBC-Journalist und Gründer der Organisation “Action on Armed Violence” Ian Overton gegenüber Deutschlandfunk Kultur: “Wenn man in einer höchst instabilen Situation, von deren Komplexität man kaum eine Ahnung hat, meint, dass man einfach nur den Guten eine Waffe in die Hand drücken müsse, dann endet das zwangsläufig im absoluten Chaos.”
    Laut einem 2007 vom US-Verteidigungsministerium herausgegebenen Bericht waren nur vier Jahre später 110.000 ausgegebene Maschinengewehre und 80.000 Pistolen nicht mehr auffindbar. Daten der Organisation Small Arms Survey zufolge kamen 2018 im Irak rund 7,6 Millionen Waffen in privatem Besitz auf rund 40 Millionen Einwohner.

    Bewaffnete Milizen und der IS im Irak

    Das Machtvakuum im Land ist nach 2003 vielerorts von bewaffneten Milizen gefüllt worden. Seit dem Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) 2014 gehören viele von ihnen zu den Volksmobilmachungskräften Al-Haschd asch-Scha’bi (PMF), die heute offiziell Teil der irakischen Streitkräfte sind. Tatsächlich aber ist die Loyalität vieler Gruppen gegenüber dem Staat schwach. Ein großer Teil hält enge Verbindungen zum Nachbarland Iran. Seit die irakische Regierung 2017 offiziell den Sieg über den IS verkündete, haben die PMF ihren Einfluss auch in Wirtschaft und Politik übertragen.
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    Der IS stellt indes auch nach seiner militärischen Niederlage eine Bedrohung dar, weil die Gruppe sich im Untergrund restrukturieren konnte. Die Vereinten Nationen gehen heute von bis zu 10.000 Kämpfern in Syrien und dem Irak aus, die sich vor allem in ländliche Gegenden zurückgezogen haben. In regelmäßigen Abständen kommt es zu Anschlägen der Dschihadistenmiliz im Irak.

    Zerstörung, Traumatisierung und Vertreibung durch den Krieg

    Mit dem Ende der Kampfhandlungen war der Schrecken des IS für viele Menschen im Irak nicht vorbei. Weite Teile Mossuls, von wo aus der ehemalige IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi 2014 sein Kalifat ausgerufen hatte, und andere Orte lagen in Trümmern. Fast fünf Millionen Menschen konnten seitdem zu ihren Häusern zurückkehren, doch noch immer leben dem UN-Flüchtlingshilfswerk zufolge fast 1,2 Millionen Menschen als Binnenvertriebene. Rückkehrer finden zudem oft ihre gesamte Lebensgrundlage zerstört. Es fehlt an Arbeit, Wohnraum und Zugang zu grundlegender Versorgung.
    Über die psychischen Folgen der Kriege und Krisen wird dabei selten gesprochen. Eine Studie zu psychischen Störungen unter jungen Irakern fand laut "New York Times Magazine" 2016 bei 56 Prozent der Befragten Anzeichen für eine posttraumatische Belastungsstörung und bei mehr als 60 Prozent Symptome einer Depression. Anlaufstellen gibt es für sie jedoch kaum: 2019 gab das irakische Gesundheitsministerium die Zahl der Psychiater im Land mit 138 an - etwa einer für fast 300.000 Menschen.

    Klimakrise und Wasserknappheit im Irak

    Wasserknappheit und die Auswirkungen der Klimakrise sind in den vergangenen Jahren immer deutlicher sichtbar geworden. Aus dem Iran fließt heute nur noch ein Zehntel der früheren Wassermenge ins Land, aus der Türkei nur noch ein Drittel. Das hat zwar neben Dürren vor allem mit zahlreichen Staudammprojekten jenseits der Grenzen zu tun, ändert aber nichts an den Prognosen, denen zufolge die Temperaturen im Irak in den kommenden 30 Jahren zwei- bis siebenmal schneller steigen sollen als im globalen Durchschnitt.
    Ein rötliches Boot liegt in einer trockenen Wüstenlandschaft. Wasser ist weit und breit keines zu sehen.
    Trockenheit und Klimawandel machen dem Irak zu schaffen. (Getty Images / SOPA Images)
    2022 fegten Dutzende Sandstürme über das Land, die wegen der Ausbreitung der Wüsten und der zurückgehenden Vegetation heftiger und zahlreicher werden. Die Anpassung kritischer Infrastruktur könnte hier einen großen Unterschied machen. Korruption und Misswirtschaft führen aber dazu, dass bei Weitem nicht genug unternommen wird.

    Stagnation in Kurdistan

    Die autonome Region Kurdistan im Nordirak, die in den vergangenen Jahren ein sicherer Hafen für hunderttausende Binnenvertriebene und Geflüchtete aus Syrien geworden ist, steht vor ähnlich großen Herausforderungen. Kamen nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 zahlreiche Kurden aus dem Exil zurück und trugen zu einem Wirtschaftsboom in der Region bei, herrscht heute Ernüchterung. Die strauchelnde Wirtschaft beruht noch immer vor allem auf dem Öl-Export, was sie krisenanfällig macht.
    Doch verhindern Korruption und Klientelismus auch hier notwendige Reformen, weil die politische Macht de facto auf zwei große Familienverbände namens Barzani und Talabani aufgeteilt ist. Regierungskritische Proteste führten in den vergangenen Jahren besonders im von den Barzanis kontrollierten Norden der Region, aber auch im Süden zu einer zunehmenden Einschränkung der Meinungsfreiheit. Eigentlich fällige Wahlen zum kurdischen Regionalparlament wurden vergangenen Oktober verschoben.
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