Der Geist der Geschichte ist ein putziges, weibliches Wesen mit wippenden Straußenfedern auf dem Kopf und futuristisch anmutendem Strickpulli. Die Schauspielerin Carina Braunschmidt zieht zu Beginn ein mit Farn und Moos bewachsenes Tonbandgerät auf die Bühne des Baseler Theaters. Janina Audick hat sie mit dunkler Spiegelfolie ausgelegt und auch Fragmente einer Frauenskulptur darauf verteilt. Auf der weißen Mauer im Hintergrund erscheinen Videosequenzen von Chris Kondek. Darin mischen sich Naturaufnahmen mit Bildern von Orten, Personen und erklärende Texte. Dazu ertönt Nonos außergewöhnliche Musik, bei der es um die Ausschöpfung aller klanglichen Möglichkeiten geht. Der Komponist folgte dem Ideal des Belcanto für die Solostimmen.
Virtuose Geschichtsstunde und politisches Statement
Die Frauenpartien der Revolutionärinnen in "Al gran sole" fordern von den Sopranistinnen höchste Virtuosität in höchster Lage über weit gespannte Phrasen. Rainelle Krause fasziniert als verängstigte, sterbende Tania Bunke, ihre Kolleginnen Sara Hershkowitz, Cathrin Lange, Sarah Brady und Kristina Stanek verleihen als homogenes, facettenreiches Kollektiv den anderen Frauenfiguren der einzelnen Episoden ihre Stimme. Die Chöre tun es für die aufgebrachten Massen mehrerer Revolutionsereignisse. Für Nono galt definitiv "Prima la Musica, poi le Parole" Klang vor Wort, denn die zumeist italienisch gesungenen Texte sind häufig fragmentiert oder überlagern sich so, dass sich der Inhalt der Worte nur durch das Mitlesen der Übertitel erschließt. Der Titel "Al gran sole carico d’amore" ist ein Zitat von Arthur Rimbaud und beschreibt die Hände der Kommunardin Jeanne Marie als "unter der großen Sonne, von Liebe beladen". Es ist kein bequemes Werk, sondern fordert auch das Publikum aufs Äußerste. Man erlebt eine in Klang umgesetzte Geschichtsstunde, politisches Statement, Anklage und Aufforderung zum Hinsehen. Für den Baseler Operndirektor Pavel Jiracek genau deswegen das Werk seiner Wahl, um diese Spielzeit in Basel zu eröffnen. Pavel Jiracek:
"Ich glaube, dass dieses Werk eines der absolut wichtigsten des 20. Jahrhunderts ist. Weil wir in einer Zeit leben, wo es so eine Kälte gibt in der Gesellschaft, wo es so viel Hass, so viel Hetze gibt, und ich glaube, es ist einfach notwendig, damit sich nicht eine Vergletscherung der Gesellschaft anbahnt, dass wir dagegen aufbegehren, dagegen kämpfen, dass wir Zeichen setzen, das es auch Menschenliebe gibt. Und da ist dieser Nono, der von einer Utopie spricht, von der großen Sonne, unter der wir uns befinden, von Liebe beladen, einfach ein großer Leitstern. Ich habe dieses Werk kennengelernt, als ich ein junger Student war, und dieses Werk ist mir ins Mark gefahren. Es hat mich politisiert, es hat mich verändert, seitdem weiß ich, dass ich Oper machen möchte, weil die Oper eben mehr ist als nur schöne Töne, sondern etwas wichtiges zu sagen hat in der Gesellschaft. Deswegen war es mir wichtig, gleich damit in der ersten Spielzeit der Operndirektion hier mit zu beginnen. Es ist wirklich eines der schwersten Werke überhaupt, das man stemmen kann. Das hat damit zu tun, dass es ein riesiges Ensemble braucht. Man hat zwei Chöre, die in den höchsten Tönen singen, sehr komplexe Musik. Gleichzeitig ist es ein Werk, das einen so unmittelbar anspricht auch als Darstellender, als Sängerin, als Sänger, dass man damit glaube ich auch seine Freude haben kann. Und das habe ich gemerkt bei diesem Probenprozess: es hat alle wirklich an den Rand des Äußersten gebracht, wir waren alle so fertig, aber gleichzeitig so erfüllt. Das war dann doch für uns alle eine ganz intensive, schöne Zeit."
Musiktheater an der Schmerzgrenze
Regisseur Sebastian Baumgarten hält sich sehr genau an die Darstellung der historischen Ereignisse: als Pariser Kommunarden tragen die Choristen rote Mützen, als kubanische Revolutionäre den roten Stern auf schwarzer Kappe, als italienische Fabrikarbeiter der Turiner Fiat-Werke graue Overalls. Dass sie beim Einpacken von Ware in Päckchen dabei auch Mitarbeiter von Amazon sein könnten, schlägt den zeitlichen Bogen ins Heute. Ein sich aus dem Schnürboden absenkender Mauerriese, der alle zu erdrücken droht, kann nur unter größter gemeinsamer Anstrengung abgewehrt werden. Als Mutter, die ihren ermordeten Sohn beweint und für mehr Menschlichkeit appelliert, ähnelt die Altistin Noa Frenkel einer gealterten Greta Thunberg. Hochkonzentriert und alle musikalischen Extreme ausleuchtend spielt das Sinfonieorchester Basel, teilweise zu den von Nono vorgegebenen Tonbandeinspielungen. Am Ende entschweben die von Dirigent Jonathan Stockhammer immer wieder bis an die Schmerzgrenze malmend und gleißend heraufbeschworenen Klangwolken hauchzart in den Äther. Der Geist der Geschichte pflanzt ein Hoffnungsbäumchen, und es bleiben dem Zuschauer Gefühle zwischen Erlösung und Verpflichtung. Dieses Stück ist wie ein sehr scharfes Bonbon mit befreiender Wirkung: Ist es zu stark, bist Du zu schwach!