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Alan M. Dershowitz: Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag.

In zwei Wochen erscheint in den Staaten ein Buch, in dem der amerikanische Strafrechtler und Rechtsprofessor Alan M. Dershowitz seinen Landsleuten erklärt, warum Terrorismus funktioniert. "Why Terrorism Works" ist das Werk überschrieben, und der auszugsweise Vorabdruck im Guardian liest sich wie ein fundamentalistisches Bekenntnis zur Politik von George Bush. Dershowitz entlarvt die Europäer als "Weicheier", die mit ihrer Nachgiebigkeit vor allem gegenüber palästinensischen Terroristen den 11. September erst möglich gemacht hätten.

Stephan Wehowsky | 16.09.2002
    Über Ursachen des Terrorismus denkt der eifernde Jurist gar nicht erst nach, die PLO verkürzt er zu einer terroristischen Organisation, und Arafat erscheint bei ihm als Vorläufer von Bin Laden. Wo soviel Wirrnis ist, macht es Erstaunen, dass Dershowitz vor dem 11. September ein Buch verfasst hat, das sich durchaus differenziert mit Fundamentalismus auseinandersetzt. Die Europäische Verlagsanstalt hat dieses Werk unter dem Titel "Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Todschlag" auf den deutschsprachigen Markt gebracht.

    Gläubige Menschen lesen die Bibel als göttliche Offenbarung, andere nehmen sie als ein Stück Weltliteratur. Der amerikanische Strafverteidiger und Anwalt Alan M. Dershowitz, der an der Harvard Law School lehrt, bedient sich einer dritten Lesart, die ihre jüdischen Ursprünge nicht verleugnet. Er nimmt die Bibel als Heilige Schrift, klammert aber die Frage aus, ob sie etwa einen übernatürlichen Ursprung hat. Und er fragt auch nicht, wie man sich Gott zu denken hat und in welches Weltbild er passt oder nicht passt. Das Judentum, so stellt er lapidar in seiner Einleitung fest,

    ...ist eine Religion, in der die reine theologische Lehre nicht so wichtig ist wie die Befolgung der Gebote.

    Diese Gebote betrachtet Dershowitz mit den Augen eines Strafverteidigers. Er fragt, wie sie begründet sind und ob sich Gott nicht selbst daran halten muss. Er zerpflückt die vertrauten Geschichten aus dem 1. Buch Moses, der Genesis, wie ein Anwalt die Argumente des Gegners. Dadurch aber legt er den Sinn der Geschichten erst richtig frei. Den halb geschlossenen Augen einer frömmelnden Lesart wiederum entgeht dieser Sinn. Denn eine frömmelnde Lesart versucht alles, was irgendwie in sich widersprüchlich, für den Gottesglauben kompromittierend oder nach jüdischen oder christlichen Moralvorstellungen anstößig ist, wegzuinterpretieren oder umzudeuten. Gershowitz tut das genaue Gegenteil. Er beleuchtet es grell und zeigt es herum. Das geschieht aber nicht aus Respektlosigkeit. Schon als Kind hat er sich sehr ernst mit der Genesis auseinandergesetzt:

    Auch für einen 10-Jährigen bedeutet die Lektüre dieses Buches, Gottes Gerechtigkeitsvorstellungen in Frage zu stellen. Welches Kind würde sich nicht fragen, warum Adam und Eva bestraft werden, wenn sie Gottes Verbot, nicht vom "Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen" zu essen, missachten, wenn sie doch gar nicht wussten, was Gut und Böse war. Welches aufgeweckte Kind könnte ohne Widerspruch Gottes Entschluss akzeptieren, Unschuldige zu vernichten, zuerst durch die Sintflut, später durch Feuer und Schwefel? Wie konnte Abraham dafür gelobt werden, dass er bereit war, seinen Sohn zu opfern? ... Ich las das Buch Genesis als Aufforderung, alles in Frage zu stellen, auch den Glauben selbst. Es lehrte mich, dass der Glaube ein Prozess ist und nicht eine gleich bleibende innere Verfassung. Das Buch Genesis zeigt, dass der Glaube verdient sein will, auch von Gott. Jakob macht seinen Glauben davon abhängig, dass Gott seinen Teil der Abmachung erfüllt.

    Das ist die eine Seite der Betrachtung. Die andere verfolgt die Entstehung des Rechts aus dem Unrecht. Recht, so schreibt Alan M. Dershowitz, ist die Antwort auf ein Fehlverhalten.

    Das Großartige am Buch Genesis ist, dass es die Geschichte der Zivilisationen in der Zeit vor der Entwicklung formeller Rechtssysteme eingehend schildert. Es zeigt uns eine Welt ohne Recht, aber nicht ohne Gesetze. In gewisser Weise ist dieses Buch der Beginn von Recht und Gerechtigkeit. Situationsgebundene Befehle ... bilden die Basis vieler Gebote und Verbote, die in den folgenden Büchern der Bibel kodifiziert werden.

    Deswegen enthält die Genesis, die als Gesetzbuch gilt, Erzählungen. Diese Erzählungen liefern in den Augen des Autors die Begründungen für die Gesetze. In seiner rechtsphilosophischen Sichtweise beruhen Gesetze nicht auf Logik, sondern auf Erfahrungen. Sie sind Reaktionen auf erlebte Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeit wiederum ist für Dershowitz das größte Problem überhaupt, ein Problem, an dem selbst Gott scheitert. In seiner Auseinandersetzung mit dem Buch Hiob stellt Dershowitz lapidar fest:

    Es ist leichter, ein Universum zu schaffen, als für Gerechtigkeit zu sorgen.

    Dershowitz analysiert zehn bekannte Berichte, vom Sündenfall über Kain und Abel, die Sintflut bis zu späteren Episoden wie der Josephsgeschichte. Die Ungereimtheiten, die er beschreibt, deuten darauf hin, dass Gott überfordert ist. So schickt er die Sintflut, erkennt aber danach, dass er damit selbst Unrecht getan hat. Deswegen verpflichtet er sich, eine solche Kollektivstrafe künftig nicht mehr zu verhängen. Als er es dann aber doch wieder tun und den Untergang der Städte Sodom und Gomorra herbeiführen will, stellt sich ihm Abraham in den Weg. Er fragt Gott, ob er die Städte nicht wegen der in ihnen lebenden wenigen Gerechten verschonen will, um nicht die Ungerechten mit den Gerechten zusammen zu vernichten. Gott lässt sich auf diesen Disput ein. Ganz im Gegensatz dazu steht die Hiobsgeschichte. Hier wird Gott zum Terroristen, der Hiob insofern zum Fundamentalisten machen will, als dieser noch die Untaten Gottes kritik- und letztlich würdelos für gut befinden soll:

    Es ist aufschlussreich, den lernenden Gott Abrahams mit dem herrischen Gott Hiobs zu vergleichen... Es lässt sich kaum eine größere Ungerechtigkeit vorstellen als die, dass ein allmächtiges Wesen unschuldige Kinder tötet und dann die Frage zurückweist, ob sein Tun moralisch zu rechtfertigen sei. Wenn die klassische Definition von >Chuzpe< darin besteht, dass jemand seine eigenen Eltern umbringt und dann um Gnade bittet, weil er nun Waise ist, dann besteht die klassische Definition von Tyrannei darin, die Kinder eines Mannes umzubringen und dann zu fordern, er solle diese Ungerechtigkeit demütig als gerecht hinnehmen. ... Der Gott, der Hiob tadelt, weil dieser eine offenkundige Ungerechtigkeit nicht versteht, fördert einen gedankenlosen Fundamentalismus. Eine der Schönheiten der Bibel besteht darin, dass sogar Gott mir verschiedenen Stimmen sprechen kann.

    Fundamentalismus bedeutet für Dershowitz den Verzicht auf das eigene Urteil nach dem Motto: Was Gott getan, ist wohl getan. Der Autor besteht darauf, dass der Mensch sich seine eigene Meinung über Gut und Böse bilden muss. Geradezu stolz verweist er darauf, dass das Buch Genesis die erste Gesetzessammlung ist, in der Regeln und Gesetze begründet werden. In krassem Gegensatz dazu stehen in der Genesis jene Befehle, die willkürlich gegeben werden. Das berühmteste Beispiel dafür ist der Befehl an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern. Gott ist eben nicht nur gut. Das Denken stößt bei dem Versuch, das Übel der Ungerechtigkeit zu deuten, an Grenzen. Deswegen sind Dershowitz die verschlungenen Pfade des Buches Genesis so wichtig. Was man nicht denken kann, lässt sich wenigstens zum Teil in Erzählungen kleiden. Dershowitz beschränkt sich in seiner Untersuchung auf dieses erste Buch des Alten Testaments. Hier an der Wurzel von Recht und Gerechtigkeit brechen jene Paradoxien auf, die auch im Laufe der Jahrtausende nicht aufgelöst werden konnten. Es liegt an der Unlösbarkeit der Frage nach der Gerechtigkeit, dass Gott selber scheitert und lernt:

    Da Gott der oberste Gesetzgeber ist – die Quelle allen Rechts und aller Gerechtigkeit – und da im Buch Genesis erstmals Rechts- und Gesetzesvorschriften aufgestellt werden, ist der Gott des Buches Genesis ein sich entwickelnder Gott – ein Gott, der Fehler macht, der seine Fehler erkennt und durch Versuch und Irrtum lernt, so wie es auch in den frühen Rechtssystemen der Fall war. Der Gott der späteren heiligen Bücher – der christlichen Bibel und des Korans – ist ein vollkommenerer Gott, dessen Gesetze und Helden ebenfalls vollkommener sind.

    Im Sinne des Paartherapeuten Jürg Willi könnte man von Koevolution sprechen. Alan M. Dershowitz zeigt, dass nur eine sich entwickelnde Religion zu Vernunft und Humanität findet – und das gilt auch für das Recht.

    Alan M. Dershowitz, Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag. EVA, Hamburg, 264 Seiten, 24 Euro.