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Alarmstufe Rot

Falls Nicole Kidman, Julia Roberts oder Boris Becker eines Tages operiert werden müssten, wird der Chirurg wahrscheinlich erschauern. Weniger wegen der Prominenz als wegen der Haarfarbe der Patienten. Rote Haare gelten im OP als ein Warnsignal für Chirurgen und Anästhesisten.

Von Marieke Degen |
    Jonathan Barry operiert Übergewichtige in einer Klinik in Swansea in Wales. Es ist ein gefährliches Pflaster für Chirurgen, sie lauern hier praktisch überall. Menschen mit grünen Augen, zarten Sommersprossen im Gesicht und roten Haaren.

    "Wir haben hier ziemlich viele Rothaarige. In anderen Teilen der Welt sind ein bis zwei Prozent der Bevölkerung von Natur aus rothaarig, aber bei uns in Wales sind es bis zu sechs Prozent."

    Jonathan Barrys Schwiegermutter: ein Rotschopf. Seine jüngste Tochter: ein Rotschopf. Jeder zwanzigste, der auf seinem OP-Tisch landet: ein Rotschopf. Und jeder Chirurg weiß, was das heißt. Schon der Gedanke treibt so manchem die Schweißperlen auf die Stirn.

    "Ich habe schon seit Jahren den Eindruck, dass rothaarige Patienten mehr bluten, und zwar unabhängig davon, ob sie blutstillende Medikamente bekommen oder nicht. Und ich hatte schon eine Menge Patienten, die immer wieder Leistenbrüche bekommen haben - und die ebenfalls rote Haare hatten. Außerdem sind die Anästhesisten, mit denen ich zusammenarbeite, der Ansicht, dass Rothaarige anders auf Narkosemittel reagieren."

    Doch was ist tatsächlich dran an der Mär vom komplizierten Verhalten rothaariger Patienten im OP? Jon Barry wollte ein für allemal Fakten, endlich Gewissheit für sich und seine Kollegen. Und so hat er sich an seinen Computer gesetzt und die Suchbegriffe "Rote Haare" und "Operation" bei Google eingegeben.

    "Ich habe Zehntausende Studien mit Rothaarigen im Netz gefunden. Aber die meisten davon waren alles andere als wissenschaftlich. Aber ich habe mir dann 40, 50 seriöse Studien angeschaut, die sich mit den genetischen Ursachen der Rothaarigkeit befasst haben - und damit, wie Rothaarige im Operationssaal reagieren."

    Zugegeben: Ein paar schräge Studien waren schon darunter, zum Beispiel diese hier aus den USA.

    "Die Forscher dort haben sich knapp 600 Kinder angeschaut, die die Mandeln herausgenommen bekommen haben. Sie wollten wissen, ob rothaarige Kinder und Kinder, die bei Vollmond oder an einem Freitag den 13. operiert worden sind, häufiger Nachblutungen haben als andere. Aber das war nicht der Fall."

    Keine der mehr als 40 Studien, die Jon Barry durchgesehen hat, konnte irgendwie nachweisen, dass Rothaarige stärker bluten oder mehr Leistenbrüche haben als andere. Wenn ein Chirurg eine Blutung nicht in den Griff bekommt, müsste er sich schon eine andere Ausrede einfallen lassen, sagt Jon Barry. Anders sieht das bei den Anästhesisten aus: Denn tatsächlich scheinen Rothaarige anders auf Narkosemittel zu reagieren.

    "Zwei Studien aus Kentucky haben gezeigt: Rothaarige brauchen mehr Narkosemittel als braunhaarige und blonde Patienten - egal, ob sie eine Vollnarkose oder eine örtliche Betäubung bekommen."

    Im klinischen Alltag sei das nicht weiter schlimm, Anästhesisten können jeden Rotschopf problemlos in einen tiefen Schlummer versetzen. Bleibt aber die Frage: Warum brauchen sie mehr Narkosemittel? Forscher vermuten, dass das Gen, das für die roten Haare verantwortlich ist, auch das Schmerzempfinden beeinflusst. Aber wie genau, das weiß noch keiner. Es sind also längst noch nicht alle Rätsel um die Rothaarigen gelöst. Aber eines ist klar. Angst müssen Ärzte definitiv nicht vor ihnen haben, sagt Jon Barry.

    "Not at all. Maybe for their supposed fiery tempers but nothing whatsoever."

    Höchstens vor ihrem angeblich so feurigen Temperament.