Unter den breiten Reifen unseres Geländewagens knirscht der Schotter. Die Asphaltstraße war schon kurz hinter dem Fähranleger unten am Komansee zu Ende. Das ist ein wichtiger Knotenpunkt im abgelegenen bergigen Norden Albaniens - mehr als fünf Auto- und Schiffsstunden entfernt von der Hauptstadt Tirana. Von hier aus erstreckt sich der Nationalpark Nikaj Mërtur bis an die Grenzen zu Montenegro und dem Kosovo.
Unser Ziel ist das Turaj-Tal – erreichbar nur noch mit geländegängigen Fahrzeugen. Im Winter leben hier gerade einmal zwei Bauernfamilien, im Sommer sind es noch ein paar mehr - darunter die von Jiric Kolbuchaj:
"Wir sind elf Personen in unserer Familie. Meine Eltern, drei Schwestern, Schwager, meine Frau und die Kinder. Die tägliche Arbeit teilen wir uns. Einige von uns arbeiten auf dem Feld. Da haben wir vor allem Mais, Kartoffeln und Bohnen. Die anderen kümmern sich um das Vieh. Die Schafe müssen wir jeden Tag woanders hinbringen - bis zu drei Stunden entfernt vom Hof."
Das kleine Gehöft der Kolbuchajs liegt auf etwa 600 Metern Höhe. Wie viele andere Gebäude in den albanischen Bergen wirkt das Haupthaus eher wie ein Turm – die typische und traditionelle Bauweise, erklärt Ndoz Mulaj. Er lebt in der Region und ist selbst begeisterter Bergwanderer:
"In diesen Turmhäusern stecken Kultur und Tradition von Generationen. Als die Menschen hierher kamen, gab es als Baumaterialien ja nur Steine und Holz. Diese Türme wurden auch so gebaut, um sich vor Feinden zu verteidigen. Die Fenster waren ganz klein und dahinter war immer Platz für ein Gewehr. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Fenster etwas größer. Aber ihren Stil haben die Häuser behalten – auch aus Tradition."
Abgeschiedenheit in grandioser Berglandschaft
Der Blick vom Hof schweift über eine grandiose Berglandschaft. Wälder und Wiesen soweit das Auge reicht. Keine Spur von Nachbarn weit und breit. Es könnten schon einmal zwei Wochen vergehen, ohne dass er jemanden sehe, der nicht zur Familie gehört, sagt der Bauer Jiric Kolbuchaj:
"Es ist manchmal schon schwierig, in einem Ort ohne Nachbarn zu leben. Wir sind ja von allem so weit entfernt. Aber meinem Vater hat es hier oben immer gefallen und mir eigentlich auch. Für die Kinder ist es nicht gut, denn die Schule ist einfach zu weit weg. Aber hier oben sind wir unabhängig und können mit unseren Fähigkeiten Geld verdienen."
Schafs- und Ziegenkäse, der auch in Albanien Feta heißt, ist eine der Haupteinnahmequellen des Hofes. Daneben lebt die Familie von ihren bescheidenen Ackererträgen. Ihre Hoffnungen richten sich jetzt aber auch auf den Tourismus. Stolz zeigt Familienoberhaupt Jiric sein erstes Gästezimmer: vier Betten, ein Schrank – mehr nicht. Oben unter dem Dach will der 34-Jährige noch einmal ein oder zwei kleine Zimmer einrichten:
"Ich habe mir das angehört, was die Leute von der GIZ gesagt haben. Sie haben uns gezeigt, wie man Gäste bekocht und wie wir das Essen servieren sollen. Und wie die Zimmer sein sollten. Und dass wir eine Innentoilette brauchen. Dann hab‘ ich mir gesagt, ok ich versuch’s eben mal mit dem Tourismus. Ich investiere noch etwas und ich hoffe, in Zukunft kommen auch mehr Gäste."
Die deutsche Entwicklungshilfe stellt den Bauern die Ausstattung als Sachleistung zur Verfügung - also Betten, Bettwäsche oder den Einbau einer Dusche. Dazu gibt es Solarmodule zur Heißwasseraufbereitung und Kurse im Umgang mit Besuchern. Im vergangenen Jahr kamen schon einige Italiener und Tschechen an dem abgelegenen Hof vorbei. Diesen Sommer ein paar Einzelwanderer und jetzt wir, die Deutschen.
Von Haus zu Haus gegangen, um Bauern vom Tourismus zu überzeugen
Unser Wanderbegleiter Nodz Mulaj schüttelt nur den Kopf. Den Menschen hier oben sei meist gar nicht klar, in welch reizvoller Umgebung sie lebten. Der 48-Jährige hat es mit einem Callcenter zu Wohlstand gebracht. Jetzt will er helfen, seine Heimat zu entwickeln und unterstützt die GIZ mit Kontakten zur lokalen Bevölkerung:
"Wir haben uns zunächst einmal die Region genau angeschaut, die Wanderwege, die Höhlen. Was gibt es an Natursehenswürdigkeiten? Die Wasserfälle zum Beispiel oder die Gipfel der Berge. Hier stehen auch hunderte Jahre alte Kastanienbäume. Die ganze Region hier um den Koman-See ist ideal zum Bergwandern. 2014 haben wir angefangen und sind von Haus zu Haus gegangen, um die Bergbauern zu überzeugen, sich für den Tourismus zu öffnen. Aber das war ziemlich schwer. Denn es ist hier einfach nie üblich gewesen, von einem Übernachtungsgast Geld zu bekommen. In dieser Region gibt es eine Willkommenskultur, die sagt, das Haus ist für Gott und die Gäste da."
Auch unser Gastgeber Jiric Kolbuchaj tut sich nach seinen ersten Erfahrungen im Tourismus noch etwas schwer damit, dass die Fremden für das Dach über dem Kopf bezahlen. 25 Euro kostet die Übernachtung auf seinem Hof - drei Mahlzeiten eingeschlossen, bei denen die Bauersfrauen zeigen, was sie können: Ambash zum Beispiel, eine dicke Mais-Suppe mit kleinen Ziegenfleisch-Stückchen. Zu jedem Essen Gurken, Tomaten, Oliven, der selbst gemachte Käse natürlich: Feta und ein Ricotta-ähnlicher Frischkäse. Ziegen oder Schaf werden gegrillt, Blätterteig mit Nena gefüllt, einer Art Wildspinat. Wie man hier eben immer seine Gäste bewirtet hat:
"Es ist schon etwas seltsam mit dem Geld. Wir hatten vorher nie Gäste, die bezahlt haben - nur Familie der Freunde. Und ich spreche ja nur Albanisch. Auch das ist schwierig. Aber die Touristen kommen mit Wörterbüchern oder sie haben einheimische Begleiter. Dann kann man sich wenigstens ein bisschen unterhalten."
Herzlicher Empfang von Bauer Lek Kortejshe
Drei Wanderstunden später endet dieser Tag dann in so einem deutsch-englisch-albanischen Kauderwelsch - auf einem anderen Bergbauernhof. Dem von Lek Kortejshe. Der Empfang ist mehr als herzlich. Der 85-Jährige bietet gleich seinen starken Tabak zum Selbstdrehen an. Schon der erste Zug treibt mir die Tränen in die Augen. Das Wohnzimmer der Familie wird nach dem Abendessen blitzschnell umfunktioniert zum Nachtlager für die männlichen Gäste – die vier roten Sofas umgeklappt oder zumindest mit bestickten Plüschdecken so ausgepolstert, dass man irgendwie darauf schlafen kann:
"Dieser Raum steht immer offen für Gäste. Das ist kein Problem für mich, dieses Zimmer herzugeben. Und das andere oben auch. Wir schlafen wo anders. Und zwei Gästezimmer brauchen wir eben, denn wir müssen ja trennen nach Frauen und Männern."
Der alte Bauer und seine Frau, Sohn, Schwiegertochter und zwei Enkel strahlen eine solche Gastfreundschaft aus, dass sich jeder in der kleinen Gruppe hier sofort wohlfühlt. Wenn schon kein Tabak, dann doch wenigstens ein kleiner Raki, lockt unser Gastgeber:
"Es ist so schön, dass wir jetzt Gäste haben - deutsche Gäste. Ihr sitzt jetzt hier. Im Zweiten Weltkrieg waren ja auch viele Deutsche hier in den albanischen Bergen - Soldaten. Das war nicht so schön. Jetzt sitzen wir aber zusammen und vertragen uns. Nur wenn ich die Unterhaltungen der Gäste höre, tut es mir leid, dass ich mich nicht daran beteiligen kann. Aber mir geht es gut, wenn ich sehe, wie sie reden und lachen – und das in meinem Haus. Hauptsache, meine Enkel bekommen viel davon mit. So erfahren sie auch andere Dinge. Nicht nur das, was sie von uns lernen."
Traditionelle Pfade kartieren
Schon zwischen zwei Generationen liegen in Albanien heute oft Welten. Andrej Djima ist 31. Das Ende jahrzehntelanger Abschottung des Landes während der kommunistischen Diktatur hat er 1990 noch als kleiner Junge erlebt. Englisch zu lernen und ins Ausland zu reisen, war für ihn dann aber ganz normal. Auch er ist in das deutsche Entwicklungshilfeprojekt eingebunden. Andrej Djima sucht alte Wege zwischen den Dörfern, um sie als Wanderrouten zu kartieren. Angefangen hat er damit zunächst im Süden Albaniens im Hinterland der Adriaküste um die Stadt Himarë:
"In der Regel schaue ich zuerst im Computer und auf Landkarten. Meistens habe ich auch schon eine Idee, welcher Weg besonders schön sein könnte. Dann spreche ich mit den Menschen in den Dörfern und frage sie nach ihren traditionellen Pfaden, vor allem nach Pferdewegen. Denn wenn die Einheimischen dort mit ihren Pferden unterwegs waren, sind die Wege besser im Schuss und müssen nicht erst wieder hergerichtet werden."
13 Wege in dieser Region sind inzwischen auf Wanderkarten verzeichnet. Einige von ihnen geben den Blick frei auf die ionische Küste, andere verlaufen in den Bergen. Alle führen von einem Dorf ins nächste. So lerne ich Kuς kennen. Ein paar Häuser an den Hang geklebt. Nur noch etwa 140 meist ältere Menschen leben in dem Ort. Aber hier trifft man inzwischen häufiger ausländische Wanderer als im Norden. Und schon lange bevor die GIZ kam, hat Lindida Balilaj in ihrem Haus am Dorfrand von Kuς zwei einfache Zimmer zum Vermieten eingerichtet:
"Am Anfang war es sehr schwer. So ab und zu kamen einmal zwei Gäste zum Übernachten. Später lief es ein wenig besser. Dann kam auch schon einmal eine Vierergruppe. Aber das Geld reicht noch nicht. Ich will ja noch investieren, dass ich auch Platz habe für größere Gruppen. Einmal hatten wir sieben Personen. Da wussten wir selbst nicht, wo wir wohnen sollten. Und Dusche und Toilette haben dann alleine den Gästen gehört."
"Immer sagen, was man tut"
Dass Ausländer gerade zum Wandern hierher kommen, habe auch sie anfangs nur schwer verstanden, sagt die 51 Jahre alte Wirtin. Schließlich sei jeder Einheimische froh, wenn er sich ein Auto leisten könne und nicht mehr laufen müsse. Und Wegescout Andrej Djima grinst, wenn er daran denkt, was er auf seinen Touren durch die Dörfer erlebt:
"Manchmal denken die Menschen, ich suche nach Gold, denn sie haben ja noch keine Wanderer gesehen. Aber ich versuche immer, allen zu erklären, was ich mache. Und außerdem ist die albanische Landbevölkerung sehr neugierig und die Leute freuen sich, wenn sie andere Menschen kennenlernen. Aber man muss ihnen immer sagen, was man tut."