Gjovalin Tusha steht am Hafenkai von Shengjin und blickt auf die Adria, die an diesem Juli-Morgen türkis-blau schimmert. Es ist heiß, und nur ein paar hundert Meter südlich der Hafenanlage sonnen sich Urlauber am Strand des 8.000-Einwohner-Städtchens Shengjin. Gjovalin Tusha trägt Schlips und Kragen, doch das ist nicht sein Problem an diesem Sommertag. Tusha ist Direktor des Hafens, berichtet von großen Fähr- und Containerschiffen, die seit dem Ausbau des Hafengebiets hier anlegen können. Nur ist davon nichts zu sehen, lediglich ein paar Fischtrawler und eine kleine Militärfregatte liegen im Hafen vor Anker.
"Heute haben wir keine Schiffe hier, morgen aber kommen drei Frachter. Einer bringt Zement nach Italien, nach Bari. Und wir erwarten Eisen- und Öllieferungen aus Griechenland. Nach acht Jahren Unterbrechung legt die Fähre nach Brindisi wieder ab. Bari soll folgen, später auch Fähren nach Korfu und Kroatien."
EU-Gelder für Hafenausbau
Insgesamt 3,6 Millionen Euro sind in den Hafenausbau geflossen, der Großteil des Geldes kommt aus Brüssel. Das seien keine Riesensummen, vor allem im europäischen Vergleich, räumt Hafenchef Tusha ein. Doch die EU-Gelder seien eben die Initialzündung gewesen für den Ausbau des Hafens in Shengjin vor einem Jahr. Ein österreichisch-slowakisches Konsortium will laut Tusha weitere 5,5 Millionen Euro in Anlegestellen für größere Fähren investieren.
Der Hafen von Shengjin ist ein gutes Beispiel dafür, wie es um Albanien steht - ein Jahr nachdem Tirana den Stempel "Beitrittskandidat" aus Brüssel erhalten hat. Die Bevölkerung ist jung - Durchschnittsalter 29 - Albanien ist dynamisch und will vor allem eins: näher an Europa heran, näher an die EU, auch wenn der Weg dahin noch weit ist.
Das betont auch Edi Rama. Der 51-Jährige ist seit 2013 albanischer Premierminister, ein Enfant terrible unter den europäischen Regierungschefs: Er ist immer noch Künstler und war Basketball-Nationalspieler, einer, der gerne Klartext redet, von politischer Korrektheit und Konsens-Kultur nicht viel hält. Der Brite Tony Blair ist sein politisches Vorbild. Hinsichtlich des EU-Beitritts Albaniens und anderer Balkan-Länder gibt sich Edi Rama selbstbewusst:
"Meiner Meinung nach braucht Europa den Balkan sogar mehr als umgekehrt, zumindest begegnen wir uns da auf Augenhöhe. Vor zehn Jahren war das völlig anders, da war das eine Einbahnstraße von uns in Richtung EU. Und wissen Sie, ich habe selten etwas Dümmeres gehört als diese Leute, die sagen: Lasst uns die Grenzen Europas dicht machen als Schutz vor dem Islamismus. Das ist verrückt: Es leben doch so viele Moslems in Frankreich, Deutschland, überall."
"Europa ist für die Menschen auf dem Balkan ein Stern, dem sie folgen"
Auch in Albanien: Fast 60 Prozent der Bevölkerung sind muslimisch, nur 17 Prozent Christen. Probleme zwischen den Religionsgemeinschaften aber gebe es nicht, betont Edi Rama. Er selbst ist katholisch, seine Frau muslimisch.
"Wie sieht wohl ein Jugendlicher aus dem Nordirak heute seine Zukunft? Und wie sehen das junge Albaner, die ja auch zu einem großen Teil Moslems sind? Die jungen Albaner denken an Europa, Europa ist für die Menschen auf dem Balkan ein Stern, dem sie folgen. Hier ist Europa ein Segen - Europa wird aber zum Fluch, wenn sich die Erwartungen der Menschen nicht erfüllen. Denn dann entsteht ein immenser Raum für einen radikalen Islam."
Die Europa-Perspektive Albaniens und anderer Balkan-Länder wie Serbien oder Montenegro wird auch im Zentrum der Gespräche mit Angela Merkel in Tirana stehen. Wenn er, der Premierminister und Künstler Edi Rama, für die Bundeskanzlerin ein Bild seiner Heimat malen müsste, dann wäre das jedenfalls ein sehr farbenfrohes, kein allzu deutsches Gemälde.