Porto Romano ist eigentlich nur ein Vorort von Durrës, der zweitgrößten Stadt Albaniens. Ein Schotterweg führt an Feldern vorbei. Am Wegesrand suhlen sich Schweine im Sickerwasser. Je weiter man geht, desto unerträglicher riecht es nach Verdorbenem. Die Sonne brennt auf Berge von Plastiktüten, Kartons und Möbeln. Möwen und Kühe wühlen neben den Schweinen in den Abfallresten. Ein hagerer junger Mann sucht ebenfalls im Müll. Er hat kurze schwarze Haare, trägt eine blaue Shorts. Auf seinem T-Shirt steht "Believe" - Glaube.
"Dort kommt Plastik hin und dort. Ein Lkw bringt es. Keine halbe Stunde von hier entfernt gibt es eine Fabrik, dort können wir dann unser Material abgeben."
Zef heißt der junge Mann, der auf Albaniens größter wilder Müllkippe Abfall sammelt. Die Müllwagen der Hafenstadt Durrës laden hier ihre gesamte Fracht ab. Gut 100 Menschen, überwiegend junge Männer, suchen darin nach verwertbarem Material. Zef ist 21 Jahre alt. Seit 15 Jahren arbeitet er auf der Müllkippe. Er sagt, er habe nie etwas anderes getan.
"Das ist meine Arbeit hier, hier habe ich einen Job, meine ganze Familie arbeitet hier. Ich bin nicht zur Schule gegangen. Ich habe keinen richtigen Beruf."
Zusammen mit seiner Familie wohnt Zef in einem Haus unweit der Müllhalde. Bei ihm sind seine Mutter Vera, Schwester Zana und Bruder Mark. Vor 16 Jahren sind sie aus dem Norden Albaniens nach Porto Romano gekommen. Seither sammelt die ganze Familie auf der Anlage Müll, sagt die Mutter.
"Wir gehen jetzt am Nachmittag dorthin, um vier oder fünf, und sind dann bis acht Uhr morgens dort. Dann schlafen wir. Wir wechseln uns ab, meistens bleiben wir aber zehn bis zwölf Stunden. Ich, Zef, Mark und Zana. Wenn wir zurückkommen, desinfizieren wir uns mit Raki und waschen uns mit Wasser ab."
Die Familie sammelt Papier, Plastik und Aluminium. Das Material fahren sie zu einer nahegelegenen Fabrik. Die kann es wiederverwerten. Am Tag schaffen sie ungefähr 70 Kilo – das bringt gut acht Euro. Der Familie gehören auch zwanzig Schweine. Wenn es im Winter weniger Müll gibt, verkaufen sie die Tiere - oder essen sie selbst.
Wilde Müllkippen - eines der größten Probleme des Landes
"Fast alle Familien arbeiten dort. Es gibt keine andere Möglichkeit. Jedenfalls nicht für die Leute, die nicht studiert oder wenigstens eine Schule besucht haben."
Porto Romano ist zu einem Synonym für Albaniens Umweltprobleme geworden. Über einen Kanal gelangt der Müll ins Abwasser und von dort ins Mittelmeer. Im Sommer 2018 geriet die Situation außer Kontrolle: An mehreren Stellen brannten Abfälle. Die Stadt Durrës erklärte den Umweltnotstand für das ganze Gebiet. Selbst der albanische Premierminister Edi Rama kam nach Porto Romano.
"Seit 30 Jahren sieht es hier aus wie in dem Film Apocalypse Now. Regierung und Stadt müssen noch enger kooperieren, um dieses diese Müllhalde zu schließen und das Feld in einen großen Stadtpark zu verwandeln."
Ein sogenannter Eco-Park sollte in Porto Romano entstehen. Mit Sport- und Spielplätzen und der größten Kletterwand des Balkan. All das sollte ursprünglich Ende 2019 fertig sein. Dann verschob man den Baubeginn auf den Herbst dieses Jahres. Passiert ist bislang nichts.
Der Umgang mit der Müllkippe in Porto Romano steht sinnbildlich für Albaniens Versuche, sein Abfallproblem zu lösen. An Verbesserungs-Versprechen mangelt es nicht. Auch sind die Gesetze, die eine geregelte Abfallwirtschaft ermöglichen sollen, längst in Kraft - doch werden sie kaum umgesetzt.
Albanien will in die Europäische Union. Über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen haben sich die EU-Staaten bisher nicht einigen können - insbesondere Frankreich sprach sich dagegen aus.
Viele Experten glauben, dass kaum irgendwo albanischer Anspruch und albanische Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen wie in der Abfallwirtschaft. Die wilden Müllkippen gehören zu den größten Problemen des Landes. Das sieht auch die stellvertretende albanische Umweltministerin Ornela Çuçi so.
"In den letzten Jahren haben wir viel mit Ingenieuren und Experten zusammengearbeitet. Wir haben 199 wilde Mülldeponien in ganz Albanien identifiziert. 130 befinden sich in der Nähe von Flüssen, 44 in der Nähe von Naturschutzgebieten. Unser Ziel ist es nun, diese Umweltkatastrophe zu beseitigen."
Besonders an den Flüssen ist die Lage dramatisch: Anwohner entsorgen ihren Müll an den Ufern. Sobald das Wasser im Frühjahr ansteigt, wird er ins Meer gespült. Die Meeresströmung treibt ihn an die Küsten Kroatiens und Italiens.
Dabei ist der wilde Müll nur die vielleicht sichtbarste Ausprägung der grundlegenden Probleme in der albanischen Abfallwirtschaft. Die sogenannte Abfall-Pyramide, nach der Müll möglichst vermieden, wiederverwertet oder recycelt werden soll, funktioniert in Albanien noch viel weniger als anderswo. Diese Pyramide ist in der EU-Abfallrahmenrichtlinie festgeschrieben und eigentlich auch in Albanien Gesetz.
Dass sie nicht beachtet wird, hat nicht zuletzt historische Gründe. Bis 1990 war Albanien vom internationalen Handel so gut wie abgeschnitten. Unter dem Diktator Enver Hoxha war die Versorgungslage prekär. Das änderte sich nach dem Ende des Kommunismus, erklärt der Umweltaktivist Lavdosh Ferruni.
"Vor 1990 hat Albanien sehr wenig Müll produziert. Nach dem Ende des Kommunismus haben die Leute den Lebensstil der entwickelten Länder kopiert und angefangen, viele Verpackungen und vor allem Plastik zu nutzen. Sie haben sich dem Konsumenten-Lebensstil angenähert. Weil die Regierung kein Bewusstsein für die Situation hatte, wurde das Müllaufkommen immer kritischer."
Korruption weit verbreitet bei öffentlichen Bauvorhaben
Fünf Millionen Plastiktüten werden jeden Tag in Albanien verbraucht - von kaum drei Millionen Einwohnern. Erst in den letzten Jahren ist im Land eine Art Umweltbewusstsein entstanden - und die Regierung erkennt inzwischen Handlungsbedarf. Nur: Was genau zu tun ist, darüber besteht noch wenig Einigkeit.
So setzt die albanische Regierung auf Müllverbrennungsanlagen. In Elbasan, der drittgrößten Stadt des Landes, wurde 2017 die erste von drei geplanten Anlagen eröffnet. Der Verbrennungsofen wurde in diesem Mai von der EU-Kommission in ihrem Albanien-Bericht kritisiert: Er entspreche nicht den EU-Vorgaben und könne allenfalls die letzte Möglichkeit für eine geordnete Abfallwirtschaft bilden. Auch Umweltaktivist Lavdosh Ferruni sagt, die Anlage in Elbasan arbeite gar nicht richtig.
"Ich habe vor ein paar Monaten einen Artikel geschrieben: Ich dachte mir, entweder ist die Investition in Elbasan eine naive Entscheidung der Regierung, des Premierministers, oder es ist Korruption im Spiel. Ich glaube, dass es sich um Korruption handelt. Die Propaganda war, dass wir Müllöfen bauen, die auch den Energiebedarf der Städte decken können. Aber das funktioniert in Elbasan seit zwei Jahren nicht."
Korruption ist bei öffentlichen Bauvorhaben in Albanien ein ständiger Begleiter. Das Land belegt auf dem Korruptionsindex von Transparency International Platz 98. Eine Müllmafia wie in Italien gebe es zwar nicht, meint Aktivist Ferruni. Aber für vergleichbare Anlagen werde üblicherweise das Dreifache gezahlt. Und da die umliegenden Kommunen verpflichtet wurden, ihren Müll zur Müllverbrennungsanlage zu fahren, sei es naheliegend, dass jemand daran verdiene.
Dies deute auch darauf hin, dass die Technik nicht den EU-Normen entspreche. Sollte sie jemals funktionieren, hätte das Gesundheitsprobleme für die Bevölkerung zur Folge, so Ferruni. Ob seine Vorwürfe stimmen, lässt sich nicht überprüfen. Die Betreiberfirma ließ eine Anfrage unbeantwortet. Nach Ansicht der Vize-Umweltministerin Ornela Çuçi arbeitet die Anlage nach EU-Standards. Müllverbrennungsanlagen seien alternativlos für Albanien.
"Wir passen unsere Gesetzgebung den EU-Standards an. Die lassen nur zehn Prozent an wilden Mülldeponien zu. Wir müssen unsere Abfallwirtschaft ändern. Wir investieren, aber wir müssen korrekt investieren. Ich denke, unsere Investitionen in die Müllverbrennungsanlagen müssen mit der EU-Gesetzgebung übereinstimmen."
Wenn erst die zwei weiteren geplanten Müllverbrennungsanlagen in Fier und Tirana gebaut sind, sollen so 100 Prozent des in Zentralalbanien produzierten Mülls entsorgt werden. Die mit 17 Prozent ohnehin schon niedrige Recyclingquote werde dann noch weiter sinken, befürchtet Umweltaktivist Ferruni.
"Nach EU-Vorgaben muss Albanien bis zu 40 Prozent seines Abfalls recyceln. Wenn diese Menge tatsächlich recycelt würde, hätten die Müllverbrennungsanlagen nicht genug Material zum Arbeiten. Wenn man als Kommune weniger Müll abliefert als vereinbart, wenn man also versuchen will, weniger Müll zu produzieren, kann man das nicht, denn dann muss man Strafe zahlen. Das ist ein Paradox."
Der Gjiri i Lalzit ist einer der wenigen unberührten Sandstrände Albaniens. Sieben junge Menschen suchen im Sand nach Müll. Auf ihren T-Shirts steht "Lasst uns grün werden!". Sie gehören zur Nichtregierungsorganisation "Green Line Albania". Einer von ihnen ist der 23-jährige Rrahim Jata:
"Das ist einer der letzten Strände, die noch nicht zugebaut sind. Er ist fast so naturbelassen, wie es sein sollte. Leider werden die öffentlichen Teile verschmutzt. Die Leute werfen einfach ihren Müll weg. Deshalb räumen wir heute auf. Wir wollen die Bewegung bekannter machen und auch private Unternehmen und Bürger sensibilisieren. Wir müssen ihnen zeigen, dass dieser Strand von einer Schönheit ist, die bewahrt werden sollte."
Ein Drittel des Mülls wird nicht abgeholt
"Green Line Albania" besucht Schulen und veranstaltet am jährlichen "World Cleanup Day" Aufräumaktionen.
"Es wird dauern, selbst für albanische Verhältnisse. Der erste Schritt sollte sein, nicht alles wegzuwerfen. Wir müssen den Menschen das beibringen. Wenn wir das schaffen, können wir auch besser recyceln und trennen. Dann können wir eine komplett neue Abfallwirtschaft erreichen. Man muss den Leuten zeigen, was auf der Welt passiert, wie verschmutzt die Ozeane sind, was passieren wird, wenn wir weitermachen wie bisher."
In Sachen Plastiktüten haben NGOs wie "Green Line Albania" bereits Erfolge zu vermelden: Nach einem Verbot von Einwegplastiktüten im vergangenen Jahr will die Regierung kommendes Jahr alle Plastiktüten und Einwegplastik-Produkte aus den Supermärkten verbannen.
Doch sind dies abfallpolitisch kleine Schritte: Knapp die Hälfte der drei Millionen Albaner lebt immer noch auf dem Land, teilweise im schwer zugänglichen Gebirge. Häufig lohnt es sich für Unternehmen nicht, den Müll auch in Bergdörfern abzuholen, oft bringen die Müllgebühren den Kommunen zu wenig ein.
Und so wird ein Drittel des Mülls in Albanien nicht abgeholt. Zudem mangelt es an Infrastruktur, etwa Umlade- und Zwischenlagerstationen oder Recycling- und Kompostieranlagen. Um dies zu beheben, hat sich die albanische Regierung fremde Hilfe ins Land geholt, berichtet die Vize-Umweltministerin Çuçi.
"Wir haben unser Land in Regionen aufgeteilt: Die Schweizer Botschaft arbeitet mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Berat zusammen. Eine Europäische Delegation arbeitet in Kukës und Gjirokastra. Die KfW arbeitet in Korça und Vlora. Wir sprechen hier über große Investitionen. Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit arbeitet an unserer nationalen Strategie für Abfallwirtschaft und gibt uns technische Unterstützung. So haben wir unser Land unter verschiedenen Geldgebern aufgeteilt."
Allein die deutschen Entwicklungshelfer von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ, betreiben in Albanien derzeit 17 Projekte mit einem Volumen von 70 Millionen Euro. Darunter: Wanderwege in den albanischen Alpen und ein Migrationsberatungszentrum. Für das Projekt "Integrierte Abfallwirtschaft" - hierfür flossen zuletzt drei Millionen Euro in drei Jahren – ist Hermann Plumm zuständig:
"Albanien hat in der Tat unter vielen Experten, nicht nur im Abfallsektor, den Ruf, dass sie sehr schnell sind mit der Übertragung von europäischen Rahmenrichtlinien oder Direktiven in albanisches Recht. Aber dann die Umsetzung dazu, die wird oft sehr teuer. Eine modernisierte Abfallwirtschaft, die den europäischen Standards entspricht, finden wir auch in manchen EU-Mitgliedsstaaten nicht so. Und in Albanien ist es einfacher, ein Gesetz dazu zu erlassen, als zum Beispiel, die ganzen Kommunen in die Lage zu versetzen, dass sie das auch finanzieren können."
Zunächst hat die GIZ in drei Kommunen gemeinsam mit den Behörden Abfallwirtschaftspläne erstellt, große Müllbehälter am Straßenrand aufgestellt, und etwa eine Kompostierungsanlage finanziert. Die Bilanz falle gemischt aus, sagt Plumm. Zwar funktioniere das Mülltrennen in den Kommunen gut, aber:
"Wir haben viel mit Jugendgruppen gemacht, Reinigungsaktionen in Feldern, an den Flüssen. Das geht. Nur muss man dann feststellen: Im nächsten Jahr liegt doch wieder sehr viel Müll an den Flussufern. Zu einer nachhaltigen Verbesserung zu kommen, gelingt nicht immer beim ersten Anlauf."
Sammeln und Verkaufen von Müll seit 2016 illegal
Maliq im Südosten. Am Ende der kleinen Stadt liegt Albaniens modernste Mülldeponie. Ein Lastwagen fährt vorbei an großen kiesbestreuten Flächen. Er lädt seinen Müll ab. Ein Radlader fährt darüber hinweg. Der Umweltingenieur Orhan Boran schaut zu.
"Wir haben einen Plan ausgearbeitet, wie wir das Gelände schrittweise entwickeln. Danach wird der Müll zunächst in diesem Gebiet hier ausgebreitet. Ein Radlader macht das Material erst einmal platt, dann kommt die Müllpresse. Anschließend wird es mit Erde bedeckt."
Boran hat die Anlage im Auftrag der deutschen Entwicklungs- und Förderbank KfW mitentwickelt, die zehn Millionen Euro dafür zahlte. Es sei die erste nach EU-Standards errichtete Mülldeponie im Land, sagt der Ingenieur. Ein Jahr nach Inbetriebnahme fahren aber nur vier von sechs eigentlich beteiligten Kommunen ihren Müll nach Maliq. In den anderen wird er weiterhin wild gelagert.
Der Bürgermeister von Korça, Sotiraq Filo, lässt den Müll seiner Stadt auch nach Maliq karren. Gefragt, was das für die Müllsammler auf seiner früheren wilden Müllkippe bedeutet, reagiert er unwillig.
"Wir müssen mit diesen Leuten nicht reden. Es ist illegal, was sie tun. Warum müssen wir sie fragen? Was tun wir, wenn sie sagen, sie wollen nicht, dass die Müllanlage geschlossen wird?"
Offiziell ist das Sammeln und Verkaufen von Müll in Albanien seit 2016 illegal. Dennoch gibt es über 30.000 Müllsammler im ganzen Land. Sie sammeln nicht nur auf den wilden Deponien, sondern auch in Müllcontainern am Straßenrand. Sollte es bald weniger Müllkippen geben, fällt für viele eine Existenzgrundlage weg. Die stellvertretende Umweltministerin Ornela Çuçi verweist auf das Beispiel Eco Tirana. Das halbstaatliche Unternehmen stelle die ehemaligen Müllsammler Tiranas an.
"Die Personen, die auf der Straße Müll gesammelt haben, arbeiten nun für Eco Tirana. Neunzig Prozent der Menschen sind jetzt im lokalen Unternehmen für Abfallwirtschaft beschäftigt. Das sind diese Leute. Sie sammeln und verkaufen den Müll auf legalem Wege."
Ihr schwebe so etwas für das ganze Land vor. Was sie verschweigt: Bei Eco Tirana wurden im vergangenen Jahr 50 ehemalige Müllsammler angestellt. Sie erhielten einen Vertrag über acht Monate, anschließend sollen sie einen festen Job bekommen. Die "Lösung" ist also nur ein Versuchsprojekt, das zudem beschränkt ist auf Angehörige der Sinti und Roma.
In Porto Romano, wo etwa 100 Menschen Müll sammeln, seien keine Sinti und Roma, sagt die Müllsammlerin Vera. Die Stadt habe bereits mit den Familien gesprochen. Sollten sie die Müllkippe schließen, wäre das für sie eine Katastrophe.
"Der ehemalige Bürgermeister war da und hat gesagt, sie bauen dort eine grüne Anlage. Sie haben gesagt, dann werden sie es schließen, aber wenn sie es schließen, wo werden wir arbeiten? Wir haben keine andere Möglichkeit. Was machen wir? Nur Gott weiß es."