Archiv

Albert Camus / Maria Casarès
Der Liebeswahn

15 Jahre lang waren Albert Camus und die Schauspielerin Maria Casarès ein Paar. Während dieser Zeit schrieben sie sich fast 800 Briefe, die nun auch auf Deutsch erschienen sind. Darin schillert eine bisher unbekannte Seite des französischen Schriftstellers durch: die des hemmungslos Liebenden.

Von Peter Henning |
Buchcover: Albert Camus / Maria Casarès: „Schreib ohne Furcht und viel. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959“
Albert Camus / Maria Casarès: "Schreib ohne Furcht und viel" (Buchcover: Rowohlt Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
19. März 1944. Paris ist von der Deutschen Wehrmacht besetzt. In der Wohnung des Ethnologen und Schriftstellers Michel Leiris veranstaltet eine illustre Runde eine Szenische Lesung des Picasso-Stückes "Wie man Wünsche beim Schwanz packt".
Zu den Akteuren zählen Albert Camus, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Raymond Queneau – der Fotograf Brassai hält den als symbolischen Akt des Widerstandes gegen das von den Nazis aufgezwungene Stillhalten und Schweigen verstandenen Abend mit seiner Kamera fest. Man feiert hinter verschlossenen Türen das Leben und die Kunst, während draußen Ausgangssperre herrscht und niemand bis zum Sonnenaufgang die Wohnung verlassen darf.
Im Publikum sitzt neben prominenten Zuschauern wie Henri Michaux, George Braque, Jean-Louis Barrault oder Jacques Lacan auch die junge, zu diesem Zeitpunkt gerademal 22 Jahre alte Schauspielerin Maria Casarès, die eben am "Théatre des Mathurins" ihr gefeiertes Debüt in der Hauptrolle von Sygnes "Deirde of the Sorrow" gegeben hat.

Maria Casarès ist gebannt

Vom ersten Moment an hat die aus dem spanischen A Coruna stammende Frau nur Augen für Camus. Er führt an diesem denkwürdigen Abend Regie – und dirigiert dabei schon mal aus einem Wandschrank heraus ein imaginäres Orchester.
Camus, Liebhaber des Theaters und Verfasser des bereits 1938 entstandenen, aufgrund der Kriegswirren aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht uraufgeführten Dramas "Caligula", ist ganz in seinem Element. Er ist brillant, demonstriert sein komödiantisches Talent und bezaubert die Zuschauer – allem voran Maria.
Der Amerikaner Oliver Todd, Verfasser der umfangreichen Camus-Biografie "Albert Camus. Ein Leben", beschreibt die Szene in seinem Buch rückblickend:
"Maria Casarès ist gebannt. Camus' Aussprache und Stimme erscheinen zugleich klar und heiser, abwesend und konzentriert, er hat ein hochmütiges Profil, sein Blick verliert sich in der Ferne, seine Haltung ist von müdem Stolz. Ein Schauspieler, meint sie."

Die Liebe schlug ein wie ein Blitz

Es ist von beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick – ein klassischer "Coup de Foudre", wie es die Franzosen nennen. Dabei verfällt Maria Casarés augenblicklich in jenes "Zittern" sobald er in ihrer Nähe ist, von dem sie ihm später in ihren zahlreichen Briefen wiederkehrend berichten wird. Nachdem der Theaterregisseur Marcel Herrand ihr wenig später die Rolle in Camus' neuem Stück "Le Malentendu" anvertraut, werden sie und der "Dichter des Absurden" während der beginnenden Proben am 6. Juni, dem Tag der Landung der Alliierten in der Normandie, ein Paar.
Camus, der zu diesem Zeitpunkt beim Verlag Gallimard als Lektor arbeitet und zudem als Chefredakteur der Widerstandszeitung "Combat" fungiert, ringt anschließend um Worte, als er das, was mit ihnen beiden geschehen ist, in einem der ersten, nun bisweilen im Ein-Tages-Rhythmus atemlos zwischen ihnen hin und her gehenden Briefe zu beschreiben versucht.
"Es gab einen Blitz, etwas, das durch uns hindurch gegangen ist, ein Blick..."

Ein schwärmerischer Ton

Am Ende sind es knapp 800 Briefe, die Albert Camus und Maria Casarès – mit einer Unterbrechung von 48 Monaten - in den 15 Jahren wechselnd werden, die ihre Beziehung dauern wird, um darin immer neu und nicht selten atemlos in Tempo und Ausdruck gemeinsam das zu beschwören, was ihre Liebe für sie so einmalig macht.
Als mitreißendes Dokument einer der großen Liebesgeschichten des 20. Jahrhunderts liegt ihre Korrespondenz nun in einer glänzenden deutschen Übertragung gesammelt vor.
Allem voran Camus, der sich bis zu diesem Zeitpunkt in keinem seiner Bücher je einen auch nur ansatzweise schwärmerischen Ton gestattete, zeigt sich in seiner Korrespondenz mit "L' Unique", "Der Einzigen" - wie er die Geliebte wiederkehrend nennt -, von einer so noch nie offenbarten Seite, nämlich: wild und zügellos, fordernd und ungeduldig, ja, bisweilen auf eine geradezu Bittsteller-hafte Weise um Nähe und Liebe bettelnd, als ginge es um nichts weniger als alles. In geradezu inflationärer Häufung verwendet er dabei das Wort "Liebe".

Nie "Der Fremde" gelesen

Der Dichter des Maßhaltens, als welchen er sich selbst gerne sieht und bezeichnet, ist innerlich in Aufruhr: er schreit förmlich nach der Erwiderung seiner Gefühle:
"Du musst mich lieben! Liebe mich, denk viel an mich. Schreib oft und viel, lass mich nicht allein.
Ich werde so lange auf Dich warten, wie es sein muss.
Ich spüre in mir eine unendliche Geduld für alles, was Dich betrifft. Aber zugleich habe ich eine Ungeduld im Blut, die mir weh tut, ein Verlangen, alles zu verbrennen und alles zu verschlingen, das ist meine Liebe zu Dir!"
Der Schriftsteller Uwe Timm, dessen kenntnisreiches Vorwort den Briefwechsel einleitet, kommentiert seine Verwunderung über die gänzliche neue Tonlage, in der Camus sich uns als Liebesbrief-Schreiber präsentiert, ebenso treffend wie lakonisch, wenn er bemerkt:
"Die Briefe lesen sich wie von jemandem, der nie ‚Der Fremde‘ gelesen hat!"

Fernab zärtlicher Gleichgültigkeit

Tatsächlich aber ist es genau dieser Widerspruch, der den Briefwechsel so spannend macht. Denn völlig anders als sein wohl berühmtestes literarisches Geschöpf Meursault - diese pflanzenhaft agierende Adam-Figur, die in seinem Kurzroman "Der Fremde" umfangen von einer "zärtlichen Gleichgültigkeit" keine Fragen stellt und im Rhythmus von Meer und Sonne lebt -, zeigt Camus selbst sich in seinen Briefen als verletzliches Geschöpf, das sich alles andere als gleichgültig den Verläufen des Schicksals überlässt. Schon gar nicht in der Liebe.
So muss er, der Aufgewühlte, immer wieder betonen, wie neu und außergewöhnlich diese ihre Liebe für ihn ist; wie unvergleichlich, ja, einzigartig im Vergleich zu all seinen früheren Amouren:
"Du hast nicht gemerkt, dass ich plötzlich eine Leidenschaftsstärke auf einen einzigen Menschen konzentriert habe, die ich zuvor hier und da, ganz zufällig und bei allen Gelegenheiten verbreitet habe."
Ohne sie, die Angerufene, so scheint es ihm, kann, ja, will er nicht mehr leben. Im September 1944 spricht er gar von Selbstmord, nach dem Maria sich nach etwas mehr als zwei Monaten von ihm abwendet – und damit offenbar das Ende ihrer Liebe besiegelt. Tatsächlich hatte er selbst ihre Amour fou von Anfang an als zeitlich begrenzt betrachtet – mit Ende des Krieges sollte sie enden. Nun aber ist er untröstlich.

Zärtlichkeit und Verzweiflung

"Niemals war ein Menschenherz so voller Zärtlichkeit und Verzweiflung. Wohin ich mich wende, sehe ich nur Nacht. Mit Dir oder ohne Dich, alles ist verloren. Und ohne Dich habe ich meine Kraft nicht mehr. Ich glaube, ich möchte sterben. Ich habe nicht mehr genug Kraft, um gegen die Dinge und gegen mich selbst zu kämpfen.
Ich werde versuchen, Paris zu verlassen und so weit weg zu fahren wie möglich.
Ich habe Dir eines Tages aus tiefem Herzen alles gegeben, alles, was ich besitze, und alles, was ich bin. Du wirst es bewahren, bis ich diese seltsame Welt verlasse, die anfängt, mich zu ermüden. Meine Hoffnung ist nur, dass Du eines Tages erkennen wirst, wie sehr ich Dich geliebt habe. Adieu, meine liebste Liebste. Ich küsse Dein geliebtes Gesicht mit all dem Schmerz und der schrecklichen Liebe, die ich im Herzen habe. A."

Nach der Ouvertüre

Anschließend werden vier Jahre vergehen, bis die beiden sich - so besagt es die Legende - am 6. Juni 1948 per Zufall auf dem Boulevard Saint-Germain wieder über den Weg laufen - und von nun an "ernst" miteinander machen: die 1944 jäh beendete Ouvertüre ihrer Beziehung geht zum Hauptteil über. Und es ist ein exquisiter Genuss, die sich nun in Form von Hunderten hin und her gehender Briefe vor uns abrollende Beziehung der auf gewisse Weise "Wiedervermählten" lesend nachzuverfolgen.
Zur Besonderheit dieses nun auf mehr als 1500 Buchseiten gedruckten, von Camus` Tochter Catherine herausgegebenen Briefwechsels gehört es, dass Maria Casarès erst ab dem Juni 1948 als "Stimme" vernehmbar in diesem brieflichen Dialog wird, so dass vieles von dem, was sie zu Beginn ihrer Beziehung dachte und fühlte, unterschlagen wird. So hätte man beispielweise gerne gewusst, was sie zu dem Entschluss führte, im Spätherbst 1944 die Verbindung mit Camus zu lösen – und wie sie ihrerseits damit umging. Es heißt, der frühe Teil ihrer Korrespondenz, der darüber Aufschluss geben könnte, sei verloren gegangen.

Tod seiner Einzigen

In Camus` "Tagebüchern" jener Jahre finden sich Andeutungen, die die Vermutung nahelegen, dass der Grund für die Trennung die Rückkehr von Camus` Frau Francine aus Algerien nach Paris gewesen ist; zumal der Schriftsteller zu keiner Zeit seines Verhältnisses zu Casarès mit dem Gedanken spielte, seine Frau zu verlassen, die inzwischen die gemeinsamen Zwillinge Jean und Catherine zur Welt gebracht hatte.
Überhaupt spielt die in Oran geborene Mathematiklehrerin Francine Faure nur eine untergeordnete Rolle in dem Briefwechsel, was überrascht. Einmal nennt er sie gar "dieses Gespenst aus der Vergangenheit"; tatsächlich aber blieb sie bis zu seinem Tod die verlässliche Konstante in seinem Leben.
Sie ist im Dezember 1957 bei der Entgegennahme des Literatur-Nobelpreises in Stockholm an seiner Seite. Und sie ist es auch, die am 4. Januar 1960 hinter seinem Sarg hergeht, während Maria Casarès mit der trauernden Menge, unter denen sich mehrere ehemalige Geliebte des Schriftstellers befinden, in gebührendem Abstand folgt.
Der bevorzugte Platz in seinem Herzen aber gehörte bis zu seinem Tod seiner "Einzigen", auch wenn Camus sich zeitweise der jungen Amerikanerin Patricia Blake zuwendet, als Maria sich nach Francine Faures Rückkehr nach Paris kurz zurückzieht.

Sie will einschüchtern

Während des Bürgerskriegs hat "Vitolina", wie ihre engsten Freunde Maria nennen, in einem Hospital gearbeitet. Ihr Vater Santiago Casarès Quiroga war in seiner Heimat während der "Zweiten Spanischen Republik" Ministerpräsident – und später Kriegsminister.
Mit Beginn des Bürgerkriegs fliehen die Casarès nach Frankreich, wo Maria Schauspielunterricht erhält. Sie liest und liebt Claudel, weil der sie lehrt, dass,
"...Selbstbeherrschung das Gegenteil von Abgeklärtheit ist."
Camus, der ebenfalls spanische Wurzeln mütterlicherseits besitzt, ist von Beginn an fasziniert von Marias "spanischem, gleichsam selbstbeherrschtem Wesen", wie er es nennt. Er fühlt, dass sie sich ähneln. Zugleich ist er angezogen von ihrem Verlangen, ihn und andere herauszufordern. Oliver Todd beschreibt das in seinem Buch so:
"Sie will einschüchtern, herausfordern, die Kräfte messen, provozieren, wenn nicht sogar "Verrücktheiten" begehen."
Jean-Paul Sartre und Albert Camus - Fremd in der Welt und frei im Leben
Während der NS-Zensur in Paris der 1940er-Jahre entsteht im schatten der Hakenkreuzfahnen eine neue Philosophie der Freiheit, der Existenzialismus. Die zentralen Protagonisten Sartre und Camus brechen gemeinsam in die Zukunft auf – und scheiden dann im Streit.

Bittere Phasen des Getrenntseins

Schnell werden sie zu Pariser Berühmtheiten. Das Paar trifft sich regelmäßig in dem Apartment in der Rue Vaneau Nr.1 bis im 7. Arrondissement, das Camus von Andre Gide gemietet hat. Maria lernt ihre Rollen (bitte überall die Striche checken) er arbeitet an seinen Werken. Doch immer wieder gibt es längere, ja manchmal monatelange Phasen des Getrenntseins, auf die insbesondere Maria gereizt, ja, wütend reagiert – und ihm deswegen wiederholt Vorwürfe macht: Mal ist er "ihr Gott", dann "ihr lieber Irrer." Er nennt sie im Gegenzeug sein "Krieg und Frieden".
Die einzige Form, in der sie in diesen Zeiten die Verbindung halten können, sind die Brief-Botschaften, die sie sich von nun an in rascher Folge schicken. Und so lesen wir im August 1948 endlich den ersten, von Maria Casarès an Camus geschriebene Brief, womit ihr am Ende fast vierzehn Jahre währendes briefliches Zwiegespräch nachprüfbar eröffnet ist. Selbstbewusst skizziert sie ihm, wie sie sich ihren Briefwechsel vorstellt:
"Am liebsten würde ich dir unablässig schreiben, weil mich alles, was ich sehe, alles, was ich empfinde, zu Dir trägt. Doch ich muss mich mäßigen.
Folgendes habe ich mir vorgestellt: Ich werde ich Dir jeden Tag ein, zwei, zehn Seiten oder ein Wort schreiben und sie bei mir behalten. Wenn du das dringende Bedürfnis hast, sie zu lesen, gibst Du mir ein Zeichen, und ich schicke Dir sogleich alles, Willst du das?"

Bis ins Grab

Natürlich will er! Was sich im Folgenden in Briefform vor uns aufblättert ist die faszinierende Doppelbiographie zweier Verliebter, die sich in ihren Schwüren und ihrer Liebes-Rhetorik bisweilen geradezu zu überbieten versuchen.
So spricht er davon, ihr "Schritt um Schritt bis ins Grab zu folgen" und von "einem schrecklichen Durst", den er nach ihr verspüre. Sie beschreibt sich ihm im Juni 1948 daraufhin als
"...überfordert von der mal süßen, mal wilden Inbrunst, die mich jeden Tag erfüllt und fortreißt... Denn, oh ja, jetzt weiß ich besser denn je, wie, wie sehr ich Dich liebe. Endlich kenne ich diese Liebe, die das Maß von zwei Menschen übersteigt und in sich allen Reichtum und alles Elend des Universums einschließt. Hör zu. Ich habe geliebt, ich bin sicher, dass ich geliebt habe, aber niemals, niemals habe ich mehr geben..."

Frappierendes Tonlagengefälle

In dieser erregten, sich dabei immer neu am Anderen berauschenden Tonlage geht es über Hunderte von Buchseiten hin und her – und das über die Dauer von zwölf Jahren.
Seltsamerweise verraten die Briefe wenig über ihren geistigen Austausch. Sie konzentrieren sich ganz auf den Austausch ihrer Gefühle. Und man kann gar nicht genug bekommen von dieser süffigen "Sprache der Liebe", die die beiden darüber für sich erfinden. Wie selbstverständlich schließen sie die sich ungeachtet dessen weiterdrehende Welt aus ihren Bekenntnissen aus, so, als existierte sie gar nicht mehr für sie.
Man kann nur staunen, wie selbstverständlich Camus in der Manier eines Multi-Instrumentalisten, der routiniert vom einen zum anderen wechselt, zu seinem kargen, von manchem Kritiker zurecht als kristallin beschriebenen Stil zurückfindet, sobald er an seinen Romanen und Essays schreibt. Das Tonlagen-Gefälle zwischen der des Romanciers und jener des Liebesbriefschreibers ist frappierend!
Frauen haben in seinem erzählerischen oder dramatischen Werk nie eine herausgehobene Rolle gespielt – und werden dies auch weiterhin nicht tun. Ganz im Gegensatz zu seinem Privatleben.

Liebe mich vor allem

Seine zweite Frau Francine, mit der er nach einer ersten gescheiterten Ehe mit Simone Hie, die an der Morphium-Sucht der jungen Frau zerbricht, seit 1940 verheiratet ist, kann ihr Lied davon singen. Denn immer wieder beginnt Camus Affären, die er nicht einmal vor ihr zu verbergen sucht. Auf dem Höhepunkt der dadurch erlittenen Demütigungen unternimmt sie zwei Selbstmordversuche.
Ungeachtet dessen aber ist Camus weiter auf der Suche nach Glück – und er greift danach, wann immer er es in dieser oder jener Frau zu erkennen glaubt.
Und nun, da er es in Person der jungen Frau aus A Coruna auf immer gefunden zu haben glaubt, gibt er alle sich bislang auferlegten Beschränkungen auf – um sich als von seinen Gefühlen und Sehnsüchten geleiteter Schwärmer zu gebärden, der ohne die Erwiderung seiner Gefühle verloren scheint.
Vor allem nach längeren Treffen mit ihr gelingt es ihm manchmal kaum noch, an seinen Schreibtisch zurückzukehren, so sehr verzehrt er sich nach ihr.
"Ach, Liebste, ich ersticke so fern von Dir, ich ersticke in diesem Moment. Ich schreibe Dir, um zu atmen.
Liebe mich. Liebe mich vor allem.
Wenn ich mir manchmal vorstelle, dass mir das ermangeln könnte, setzt mein Herz aus. Aber nein, du liebst mich, wie ich Dich liebe, nicht wahr?
Schreib, damit ich bis zu dem Tag überlebe, an dem ich Dich berühren kann. Ich liebe Dich, ich liebe Dich so sehr. Ich küsse Deinen Hals, Deine Hände, Deinen lieben Mund.
Ich liebe Dich."

Ein jähes und absurdes Ende einer Liebe

All das lesen wir wie mit angehaltenem Atem – aber auch mit einer bald immer stärker einsetzenden Wehmut, steht uns bei der fesselnden Lektüre all dieser Briefe doch mit jeder Zeile der am Horizont heraufdämmernde Unfalltod Camus' am 4. Januar des Jahres 1960 vor Augen, auf den diese Korrespondenz ebenso unbewusst wie unaufhaltsam zustrebt – und der allem ein ebenso jähes wie absurdes Ende bereiten wird.
Mit seinem Tod hinterlässt Camus, der davon ausging, "dass mein Werk noch nicht begonnen hat", den unvollendeten Roman "Der erste Mensch" - sowie eine Handvoll trauernder "Witwen", die gemeinsam an seinem Grab in Lourmarin stehen.
Sieben in Leder gebundene Buchrücken alter Klassiker wie Charles Dickens "Christmas Stories" in einem Regal stehend in Nahaufnahme.
Endlich mal erklärt - Wozu noch Klassiker lesen?
"Des Pudels Kern", "Sein oder Nichtsein", viele Redewendungen kann man nicht verstehen, ohne ein gewisses Verständnis für literarische Klassiker. Auch wenn ihnen zuweilen Langatmigkeit nachgesagt wird, können Klassiker wie "Die Pest" überzeitliche Antworten auf aktuelle Fragen geben.
Lange bewegte Camus' Schaffen sich in einem größeren Rahmen, als allgemein bekannt war: Zeitungsartikel, Vorworte, Essays, Vorträge, Bühnenstücke, Erzählungen und Romane fügten sich zu seinem viel bewunderten, nach außen hin aber vergleichsweise spärlich anmutenden Gesamtwerk. Tatsächlich aber wuchs im Hintergrund ein weitaus umfangreicheres Schattenwerk im Zeichen der Liebe, das sich nun als erhellender Post-Kommentar zu Leben und Werk des Autors lesen lässt – und von dem "Gesamtkomplex Camus" eine völlig neue Seite offenbart.
"Ein Mensch stirbt, und durch ein lebendes Antlitz, Gebärden, Taten, Erinnerungen hindurch jagen wir einem auf immer ausgelöschten Bild nach.
Ein Schriftsteller stirbt, und wir untersuchen sein Werk, jedes einzelne seiner Bücher, wir sinnen über das Band nach, das eines mit dem anderen verknüpft, und wir versuchen, in unserer Bewertung den inneren, so jäh unterbrochenen Schwung zu bemessen."

Kinder des Olymp

Dies schrieb der italienische Kritiker Nicola Chiaromonte in seinem 1960 in der französischen Zeitschrift "Preuves" erschienenen Nachruf auf den kurz zuvor gerademal 47-jährig verstorbenen Freund.
Die nun vorliegenden Briefe veranschaulichen jenen besonderen, jäh unterbrochenen "Schwung", aus dem heraus Camus bis zuletzt agierte, noch einmal auf solch plastische Weise, dass man während der Lektüre dieses hymnischen, ja, überreichen Traum-und Liebesbuches wünscht, er möge niemals enden.
Maria Casarès, die ein Jahr nach Camus' Tod einen Schauspielerkollegen heiratete und mit Filmen wie Marcel Carnés "Kinder des Olymp" oder Jean Cocteaus "Orpheus" zur international gefeierten Tragödin aufstieg, bestach in ihrem Spiel durch eine geradezu ätherische Klarheit, die sich auf vielen der von ihr kursierenden Fotos wiederspiegelt. In ihren Briefen hat sie ihr bleibenden Ausdruck verliehen. Dem Dahingegangenen ruft sie am Ende dankbar nach:
"‘Du hast aus mir eine Frau gemacht, während ich nur ein Kind war, einen Menschen, während ich nur ein kleines Tier war. Dafür danke ich Dir!‘ M."
Albert Camus/ Maria Casarès: "Schreib ohne Furcht und viel. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959"
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Andrea Spingler, Tobias Scheffel
Rowohlt Verlag, Hambur., 1568 Seiten, 50 Euro.