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Albrecht Selge: "Fliegen"
Zartes Porträt einer Zugnomadin

Die Bahncard 100 als Ersatz für den Mietvertrag: Albrecht Selge lässt in seinem dritten Roman “Fliegen” eine ältere Frau ein Leben im Zug-Waggon führen. Dabei zeichnet er das zarte Porträt eines traurigen Menschen, der sich von allem und am Ende auch von sich selbst lossagt.

Von Andrej Klahn |
Zu sehen ist der Autor Albrecht Selge und das Cover seines Romans "Fliegen".
Albrecht Selge hat einen Roman über eine Zugnomadin geschrieben (Autorenfoto: Sven Meissner / Cover: Rowohlt Berlin)
Albrecht Selge hat in jedem seiner Romane ein bisschen mehr aufs Tempo gedrückt. In "Wach", seinem Debüt, ließ er den chronisch schlaflosen Protagonisten August Kreutzer nachts durch eine Großstadt streifen: zu Fuß. In seinem zweiten Roman "Die trunkene Fahrt" schickte er vier Männer auf große Reise über die Alpen: im klapprigen Fiat Panda. In "Fliegen" ist der 1975 geborene Schriftsteller nun geradezu rasend schnell unterwegs. Seine Heldin quartiert sich in wechselnden Bahnwaggons ein. Im ICE, IC oder Regionalexpress. Immer in Bewegung, ohne je irgendwo anzukommen.
Weil sie die Miete nicht zahlen kann, wohnt sie in Zügen
Die Frau im Rentenalter (ihren Namen erfahren wir nicht) führt eine Existenz auf der Schiene. Ihre Wohnung wurde ihr vor anderthalb Jahren gekündigt. Seitdem überweist sie keine Miete mehr. Stattdessen zahlt sie für die Bahncard 100. Die Behindertentoilette im ICE dient ihr als Badezimmer, Tag und Nacht verbringt sie in Großraumabteilen mit Ausblick auf die Bodenständigkeit der anderen:
"Ferne Häuser mit klitzekleinen, sperrangelweiten Fenstern. Wie wurde darin wohl gelebt: zufrieden, entmutigt? Unbeteiligt am eigenen Leben? In diesem oder jenem Haus ein ungewöhnlich großer Schmerz, eine außergewöhnliche Freude? Nicht übel, von ferne in Häuser zu schauen, ohne je etwas aus ihnen erfahren zu werden. Überall wurden ja neue Häuser gebaut. Feste Behausungen, traute Heime, Glücke alleine, sichere Zuhauses. In den Zeitungen stand, es würde viel zu wenig gebaut, außer Luxussegment. Aber wurde doch überall gebaut. Nicht für sie. Ich möchte lieber nicht."
In den Zug eingestiegen, um auszusteigen
"Ich möchte lieber nicht": Der bekannte Satz, mit dem sich Herman Melvilles Schreiber Bartleby die Welt vom Leib hält, echot wiederholt durch die Gedanken von Selges Protagonistin. Sie ist eingestiegen, um auszusteigen aus dem behausten Leben. Wie das vorher aussah, deutet der Erzähler nur bruchstückhaft an: Klavierunterricht in der Jugend, ein abgebrochenes Studium und unglückliche Jahre in einer mittelgroßen Stadt, verheiratet mit einem "Ehevollstrecker", der es zum Professor gebracht hat: Opern-Abonnement, Affäre, Scheidung. Im Reisebüro hat sie gearbeitet, aber zu kurz, um mehr als nur eine Rente am Rande des Existenzminimums zu bekommen.

Wie der idealtypische Lebenslauf einer Pfandflaschensammlerin liest sich das aber nicht. Aber "Fliegen" will auch kein Sozialdrama sein. Und es liegt keineswegs nur an der finanziellen Not von Selges Heldin, dass sie ein Zugnomaden-Dasein führt. Sie hat ihr Schicksal selbst gewählt. Die Hilfe der besten Freundin hatte sie vorher bewusst ausgeschlagen und ist davongefahren. Neben ein paar Klamotten findet sich auch ein Buch in der Reisetasche: eine Sammlung romantischer Lyrik.
Im Gepäck: Fernweh-Verse der deutschen Romantiker
Immer wieder montiert Selge Zitatfetzen aus diesen Gedichten in den Roman. Dann schneidet er fern-wehe Verse von Hölderlin, Novalis und Eichendorff gegen die prosaische Unbehaustheit seiner tragischen Heldin. Und um ja keine falsche Sehnsuchtsstimmung aufkommen zu lassen, kommentiert der Erzähler solche Ausflüge auch schon mal mit einem knappen "Auweia":

"Entvölkerte Landstriche, aufquellende Städte.
Mehr Land als Stadt.
Wände, Wälle, Dämme.
Tunnel rein, Tunnel raus, als flöge man ins schwarze Maul eins Tiers, hört den Körper des Tiers laut rauschen. Oder das Schwarz des Tunnels, das schlagartig losdröhnt.
Tunnel raus. Und anders lautes Rauschen, wenn ein Zug entgegen vorbeifährt, ein Wirbel von zwei Tieren im Kampf.

Folge treu dem alten Gleise,
wähle keine Heimat nicht."

Mit Friedrich Schlegel fährt die Reisende hier in die Dämmerung ein. Und eben nicht in die Dunkelheit einer erhaben bestirnten Nacht, sondern bloß in einen Zugtunnel. Selge ist weit davon entfernt, das Umherziehen seiner haltlosen Heldin romantisch zu verklären. Denn deren Unterwegssein verliert spätestens dann jeden Zauber, wenn sie es Flaschenpfandgeld braucht, um die Netzkarte zu bezahlen. Zugleich ist Selge aber auch interessiert genug an seiner Protagonistin, um diese Geschichte vom rasenden Stillstand nicht als plumpe Allegorie auf unser Hamsterrad-Dasein zu missbrauchen.
Sie sammelt Flaschengeld für die nächste Netzkarte
In "Fliegen" geht eine Frau auf Distanz zur Welt, die hinter den Zugscheiben an ihr vorüberzieht. Sie fährt vorbei an mittleren und großen Städten, in denen sie einst lebte, in denen ihre Mutter oder ihr Bruder begraben liegen:

"Am Anfang ihres Zuglebens hatte sie in all diesen Städten nur zur anderen Seite aus dem Fenster geschaut, zur Sicherheit. Hatte schon beim Einsteigen darauf geachtet, auf der anderen Seite zu sitzen. Merkte aber bald, das tut ja nicht weh hinauszublicken. Auch Erinnerungen sind geheimnisvoll und gleichgültig. Ein Teil der Welt, zu der sie weder gehört noch passt: ihr eigenes Leben. Mein Leben, das klingt fast so unheimlich und lächerlich wie Seele. Auch so schön? Wie sie auch balancierte und kippelte am Rand dieses ihres Lebens, sie würde schon nicht hineinfallen.
Höchstens ganz raus. Aber wär das schlimm?"
Hier und da erzählen die Schlagzeilen wechselnder Tageszeitungen von den Ereignissen draußen. Das Rebhuhn stirbt aus. In Frankreich sind Badelatschen mit Sportsocken ein neuer Modetrend. Insektensterben, Tornados. All das geht Selges Zug-Nomadin nichts mehr an. Montags steigt auf ihrer Strecke ein Arzt im Ruhestand zu, dienstags eine Bankerin, die sie im Stillen "die schmale Jungfrau" nennt, freitags steht eine Runde Backgammon mit einem Lehrer auf ihrem ereignisarmen Programm. Eine "gesellige Alleinige" nennt der Erzähler sie:

"Aber das hieß nicht, dass sie sich niemals zurück oder wohin auch immer sehnte. In das Phantasieland, in das jeder Mensch sich zurück oder wie auch immer hin sehnt. Sehnsucht nach der Kindheit, Sehnsucht nach dem All. Aber es ging sie doch nichts an? Sie sehnte sich nach da, wo nichts sie anging."
Ihr Leben rauscht am Zugfenster vorbei wie die Landschaft
Als Erzähler ist Albrecht Selge nie ein Geschwindigkeitsfanatiker gewesen. Obwohl er seine Figuren dauernd in Bewegung versetzt, sind seine Romane wunderbare Lektionen in Langsamkeit. Auch wenn er seine gebrochene Aussteigerin jetzt mit 220 ICE-km/h durch die Gegend donnern lässt, ist "Fliegen" doch zuallererst eine sehr feine Zustandsbeschreibung. Oder altmodisch formuliert: Eine sich in immer neuen Anläufen voran tastende, eigenwillige Seelenerkundung. Das zarte Porträt einer traurigen Frau, die sich von allem und am Ende auch von sich selbst lossagt. Ihre Fahrt im Kreisverkehr kennt nur eine Endstation. Die Bahn nennt ein solches Ende bürokratisch "Unfall mit Personenschaden". Bei Albrecht Selge aber wird daraus die berührende Geschichte eines beschädigten Lebens.
Albrecht Selge: "Fliegen"
Verlag Rowohlt Berlin, Berlin. 176 Seiten, 20 Euro