Eine Straße mitten im Nirgendwo des kanadischen Waldes. Kleinlaster und schwere LKW donnern vorbei. Ein Gewirr aus Fabrikschloten und Pipelines erstreckt sich bis zum Horizont.
"Da drüben können Sie die Schornsteine der Aufbereitungsanlage und des Upgraders sehen. Und wenn Sie einatmen, riechen Sie das Öl, das hier produziert wird."
Aus den Schornsteinen steigt dunkler Qualm, Gasflammen züngeln und brauner Staub bedeckt Autos, Fabrikgebäude und den Asphalt der Straße. Alle paar Sekunden erschallen Kanonenschüsse.
Im Norden der kanadischen Provinz Alberta erstrecken sich riesige Ölsandfelder. Auf einer Fläche größer als England liegen hier Teervorkommen im Untergrund, aus denen sich Öl gewinnen lässt. Viel Öl. Hochrechnungen zufolge etwa 170 Milliarden Barrel – das sind mehr als 27 Billionen Liter. Nach Saudi Arabien und Venezuela besitzt Kanada damit das drittgrößte Ölvorkommen der Welt. Eine stete Ölquelle in einem politisch stabilen Land.
"Dieser langfristige Vorrat an Öl ist sehr beruhigend, sowohl für die Technologie als auch für die Investoren. Das Öl sprudelt hier zwar nicht so schnell aus dem Boden wie etwa in der Nordsee, aber es lässt sich langsam und stetig abbauen. Sie können sehen, wie viel Öl verfügbar ist, und müssen nicht den Pipelines eines anderen Landes vertrauen."
Seit Ende der 60er-Jahre, erzählt der Ökologe Lee Foote von Universität von Alberta in Edmonton, wird das Öl gefördert. Auf einer Fläche fast so groß wie Hamburg haben die Minengesellschaften den Nadelwald abgeholzt, Moore trockengelegt, den Boden abgetragen und mehr als 70 Meter tiefe Löcher gegraben. Die Gruben nehmen heute schon eine Fläche ein, die sechsmal so groß ist wie der Braunkohlentagebau Garzweiler. Und das ist erst der Anfang. Je stärker der Ölpreis steigt, desto größer wird die Wunde werden - und umso offensichtlicher die ökologische Katastrophe.
Cheryl Robb rüstet ihre Besucherin mit einem Helm und einer Schutzbrille aus. Dann öffnet die Pressesprecherin von Syncrude Canada Ltd. die schwere Tür zu einer Werkshalle im Forschungszentrum des Konzerns, bleibt stehen und lächelt, während sie gegen den Lärm anschreit.
"Das Zeug hier ist der Ölsand. Er besteht aus Sandkörnern, die umgeben sind von einer Schicht aus Wasser und Bitumen, einer Art Teer. Wegen dieser Wasserschicht zwischen dem Sand und dem Bitumen nutzen wir einen Wasserextraktionsprozess, um das Bitumen vom Sand zu trennen."
Um ein Barrel, also 159 Liter Öl zu erzeugen, braucht es zwei Tonnen Ölsande. Die werden mit heißem Wasser zu einer Art Brei vermischt. Die schweren Sandkörner sinken dabei zu Boden, das leichtere Bitumen schwimmt an der Oberfläche. In einer weiteren, "Upgrader" genannten Aufbereitungsanlage werden dann die langen Kohlenstoffketten gespalten, Schwefel und Schwermetalle herausgefischt und das zähe Bitumen so in eine Art flüssiges Rohöl verwandelt. Der ganze Prozess verbraucht gewaltige Mengen Wasser, das viele Male recycelt wird und sich dabei immer stärker mit Schadstoffen und Salzen anreichert, die natürlicherweise in den Ölsanden enthalten sind. Am Ende bleibt eine hochgiftige Brühe übrig. Syncrude und die anderen Firmen suchen nach Wegen, diese unschädlich zu machen. Noch aber wird sie einfach unter freiem Himmel endgelagert.
Etwa 40 Kilometer nördlich der Stadt Fort McMurray ragen die Schlote der größten Ölsandmine der Gegend in den grauen Himmel. Eine gewaltige Industriewüste dort, wo sich bis vor wenigen Jahrzehnten endloser Wald erstreckte. Ein weißer Pickup hält an. Aus dem Auto steigt eine Frau vom Sicherheitsdienst und verlangt die Ausweise. Nathan Lemphers kennt diese Prozedur. Der Spezialist für Ölsande arbeitet beim Pembina Institute, einer privaten Forschungsorganisation, die sich mit Energie- und Klimathemen befasst.
"If you guys want to carry on that would be great we don't want anybody to stop here."
Die Sicherheitsbeamtin protokolliert die Namen, danach folgt ihr Pickup Lemphers noch einige Kilometer, bevor sie abdreht. Neben einem großen See hält Lemphers. An einigen Stellen schimmert es ölig. Trotz der Eiseskälte ist das Wasser nicht gefroren. Am sandigen Ufer stehen krumme Vogelscheuchen in orangenen und gelben Warnwesten.
"Was Sie im Hintergrund hören, sind Lärm-Abschrecksysteme für Zugvögel, die diese Gegend durchfliegen. Die Kanonenschüsse sollen die Vögel verjagen, damit sie nicht auf den riesigen Rückstandsbecken landen, die hier überall angelegt wurden."
In ihnen wabert ein zähflüssiger Giftcocktail aus Ölresten, Naphtensäuren, polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen, Salz, Ammoniak, Arsen, Selen, Quecksilber und anderen Schwermetallen aus der Ölsandproduktion. Alle Rückstandsbecken zusammen nehmen heute schon 170 Quadratkilometer ein. Das entspricht in etwa der Größe der Insel Fehmarn. Und jeden Tag kommen 200 Millionen Liter giftige Brühe hinzu. Brühe, die oft noch warm ist. Im Winter sind die Rückstandsbecken dadurch oft die einzigen offenen Wasserflächen in der Region und damit ein verhängnisvoll verführerisches Ziel für Zugvögel. Viele Rückstandsbecken liegen direkt an den Ufern des Athabasca River, nur durch einen Deich vom Fluss getrennt. Den Ökologieprofessor David Schindler von der Universität von Alberta in Edmonton beunruhigt das sehr.
"All diese Becken stellen eine Gefahr für den Fluss dar, sollte einer der Deiche brechen. Besonders im Winter hätten Sie keine Chance, die giftigen Rückstände wieder aus dem Fluss herauszuholen. Fünf bis sechs Monate im Jahr ist der eisbedeckt. Die Stoffe würden sich stromabwärts verteilen, bis zum Slave River, in den Great Slave Lake und möglicherweise bis in den Mackenzie River. Das wäre ein Desaster für das gesamte System."
Ein System, das mit dem Peace-Athabasca-Delta eines der größten Süßwasserdeltas der Welt beherbergt. Zahlreiche Zugvogelrouten kreuzen sich hier und machen die Region zu einem der wichtigsten Brutgebiete Nordamerikas.
"My name is Dr. Kevin Timoney. I am an ecologist and I do a lot of research up in north eastern Alberta on the ecology of the Peace and the Athabasca delta ecosystems."
Mit genau diesen Ökosystemen beschäftigt sich David Schindlers Kollege Kevin Timoney vom unabhängigen Umweltforschungsbüro Treeline Ecological Research. In zahlreichen Studien hat er die Auswirkungen der Ölsandproduktion auf die Umwelt untersucht.
"Ein ganz großes Problem sind die Leckagen in den Rückstandsbecken. Die Firmen versuchen zwar so viel wie möglich von den versickerten Giftstoffen aufzufangen. Und das gelingt ihnen auch zu 99 Prozent. Aber es gibt so viele Leckagen, dass selbst das eine Prozent, das ihnen entgeht, sich über die Jahre zu Hunderten von Millionen Litern giftiger Rückstände aufsummiert, die ins Grundwasser gelangen. Und sobald sie einmal im Grundwasser sind, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie da herauszuholen."
Die Ölsandindustrie gefährdet nicht nur das Grundwasser, sondern auch die Flüsse. An vielen Stellen im Norden Albertas liegen die Ölsandformationen an der Erdoberfläche. Bäche und Flüsse, die durch sie hindurch fließen, waschen Schadstoffe aus und nehmen sie mit. David Schindler:
"Sowohl die Provinzregierung als auch der Interessenverband der Kanadischen Petroleumproduzenten haben deshalb lange Jahre erklärt, diese großen Minen würden keinerlei Schadstoffe emittieren, die dann in den Athabasca River gelangten. Sie behaupten, alle nachgewiesenen Stoffe stammten aus natürlichen Quellen."
Als Beleg dafür führten sie die Ergebnisse ihres Monitoringprogramms an. Doch David Schindler hatte seine Zweifel an der kompletten Unschuld der Industrie. 2007 begann er mit einer eigenen Untersuchung.
"Wir haben die Wassereinzugsgebiete sowohl im Winter als auch im Sommer untersucht und die Schadstoffbelastung des Athabasca Rivers jeweils knapp oberhalb und unterhalb der Ölsandminen miteinander verglichen. Wir konnten zeigen, dass die Industrie einen großen Anteil an der Schadstofflast des Flusses hat."
Stromabwärts der Minen fanden sich deutlich mehr Schadstoffe im Wasser als stromaufwärts. Er und seine Kollegen untersuchten außerdem den Schnee und konnten nachweisen, dass sich in ihm große Mengen an Luftschadstoffen sammeln, die aus den Schornsteinen der Ölaufbereitungsanlagen entweichen. Mit der Schneeschmelze im Frühling werden diese Stoffe in die Flüsse und Seen geschwemmt. Im Wasser des Athabasca Rivers fanden die Forscher polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Nickel, Quecksilber, Thallium, Cadmium, Blei, Zink und viele andere Schwermetalle. Schindler:
"Die Konzentrationen waren relativ gering, da der Athabasca River im Schnitt 700 Kubikmeter pro Sekunde an sauberem Wasser in die Ölsandfelder leitet, so dass die Schadstoffe stark verdünnt werden. In diesen geringen Mengen sind die einzelnen Stoffe nicht schädlich. Allerdings hat sich noch niemand die Wirkung all dieser Stoffe zusammen angeschaut. Für die einzelnen polyzyklischen aromatischen Verbindungen wiederum gibt es keine Toxizitäts-Richtlinien. Sie werden immer in ihrer Gesamtheit betrachtet. Und da haben wir Konzentrationen gefunden, die sich in anderen Studien als toxisch erwiesen hatten."
Es müsse dringend untersucht werden, wie sich die Schadstoffbelastung des Flusses auf die Tiere und Menschen auswirkt, die das Wasser nutzen, fordert David Schindler. Seine Studie sei 2010 veröffentlicht worden. Als Reaktion darauf hätten die Regierungen Albertas und Kanadas genau solche Untersuchungen angekündigt. Geschehen sei bis heute nichts.
Nathan Lemphers steigt eine sandige Böschung hinab zum Athabasca River. Auf dem Fluss knacken Eisschollen aneinander und schieben sich gen Norden. Dort, wo er nicht den Ölsandgruben weichen musste, drängt sich lichter borealer Nadelwald bis an die Ufer.
"Sorgen machen wir uns auch um das kanadische Waldkaribu, eine sowohl in Alberta als auch in ganz Kanada bedrohte Art. Hier in der Region der Ölsande leben 13 Herden. zwölf von ihnen sind akut bedroht. Durch die Ölsandindustrie wird immer mehr Lebensraum entweder komplett zerstört oder durch Straßen und Pipelinetrassen zerteilt."
Den Waldkaribus könnte eine neue Fördertechnik endgültig zum Verhängnis werden. Im Tagebau lassen sich nur Teile der Ölsandvorkommen abbauen. Weit größere Mengen liegen so tief im Untergrund, dass sie sich nur mit Hilfe eines "in situ" genannten Verfahrens gewinnen lassen. Die Bergbaufirmen schicken über Bohrlöcher heiße Flüssigkeit oder Dampf in den Untergrund, erhitzen ihn zwei bis drei Monate lang und pumpen dann das geschmolzene Bitumen an die Oberfläche. Der Sand und mit ihm viele der Schadstoffe bleiben im Untergrund, man braucht keine offenen Rückstandsbecken und keine großen Tagebaugruben. Deshalb galt das in-situ-Verfahren lange Zeit als Hoffnungsträger zur Lösung der Umweltprobleme. David Schindler allerdings fürchtet, dass die nah beieinanderliegenden Bohrlöcher, die Straßen und Pipelinetrassen das Ökosystem so stark zergliedern, dass die Karibus ihre letzten Rückzugsräume verlieren werden. Schindler:
"Das Gebiet ist riesig, in dem das in-situ-Verfahren genutzt werden kann. Größer als England. Im Moment ist der Plan der Regierung und der Industrie, diese Ölsande so schnell wie möglich auszubeuten."
Der Hunger nach Öl hat jetzt schon eine große Wunde in den kanadischen Wald geschlagen. Eine Wunde, die dabei ist, sich weit über die Grenzen Albertas hinaus bemerkbar zu machen. Fünf Prozent der kanadischen Treibhausgasemissionen stammen heute schon aus der Ölsandproduktion. Und dieser Wert wird steigen, prophezeit der Umweltwissenschaftler Nathan Lemphers vom Pembina Institute.
"In situ mining is much more energy intensive than mining operations, on a per barrel basis it is 2,5 times more carbon intensive than mining operations."
Das in-situ-Verfahren sei wesentlich energieintensiver als der Tagebau, sagt er. Pro Barrel Öl werden zweieinhalb Mal so viele Treibhausgase freigesetzt. Denn um die nötige Wärme zum Schmelzen des Bitumens im Untergrund zu erzeugen, müssen gewaltige Mengen Erdgas verbrannt werden. Das verwendete Gasgemisch hat darüber hinaus einen hohen Schwefelanteil, so dass bei der in-situ-Produktion mehr als dreimal so viel Schwefeldioxid in die Luft gelangt wie beim Tagebau. Saurer Regen ist die Folge. Das sei ein großes Problem für die Regionen, die im Windschatten der Ölsandindustrie lägen, sagt Nathan Lemphers.
"In der Provinz Saskatchewan wird heute schon eine immer stärkere Versauerung der Seen beobachtet, die wahrscheinlich noch mehr zunimmt, je mehr Bergbaufirmen vom Tagebau auf das in-situ-Verfahren umsteigen. 2015 schon wird das in-situ-Verfahren die Ölsandindustrie dominieren. Dadurch wird der Saure Regen in der Windfahne der Anlagen zunehmen. Das ist besonders problematisch für die Menschen, die für ihren Lebensunterhalt auf die Seen im Norden Saskatchewans angewiesen sind."
Und das ist noch nicht alles. David Schindler, Nathan Lemphers und viele ihrer Kollegen fürchten außerdem, dass sich beim Erhitzen des Untergrunds Schadstoffe aus dem Ölsand lösen und ins Grundwasser gelangen könnten. Die Grundwasserleiter der Gegend sind kaum erforscht, die Folgen unabsehbar.
Fort McKay ist eine kleine, indigene Gemeinde mitten in den Ölsandfeldern. Das Bürgerzentrum ist das einzige zweistöckige Haus des Ortes. In dem großen Veranstaltungssaal hat ein Dutzend Leute auf braunen Holzstühlen Platz genommen. Darunter eine etwa 70-jährige Frau in einem langen Fellmantel, mit tiefschwarzen Haaren und mintgrün lackierten Fingernägeln. Eingeladen hat der Arzt der Gemeinde, John O'Connor. Seit einer Woche warnen die Behörden davor, das Leitungswasser zu trinken. Dort wurden hohe Mengen an Trihalogenmethanen und anderen Stoffen entdeckt, die bei der Desinfektion von Wasser entstehen. Die Dame im Fellmantel will wissen, ob die Ölsandfirmen für das verseuchte Wasser verantwortlich seien. Jeder wüsste doch, dass die nachts irgendwas verklappten. John O'Connor verneint. Solche Stoffe entstünden immer, wenn Wasser mit Chlor versetzt würde, um es keimfrei zu machen. Das werde in jedem Wasserwerk gemacht, aber normalerweise seien die Schadstoffmengen vernachlässigbar klein. Bislang könne niemand sagen, warum ausgerechnet in Fort McKay so hohe Werte aufträten. Es gelingt ihm nicht, das Misstrauen der Dame zu zerstreuen. Dafür sitzt es zu tief. Fast jeder der Anwesenden hat mindestens einen Krebsfall in der Familie. In einigen Gemeinden stromabwärts der Ölsandfelder ist die Situation noch dramatischer. Das weiß John O'Connor sehr genau.
"2006 habe ich als Arzt eine Gemeinde weiter stromabwärts betreut, Fort Chipewyan. Der Ort liegt völlig abgeschieden am Athabasca River. Ich war der einzige Arzt dort und mir fiel auf, dass die Krebsrate in Fort Chipewyan um 30 Prozent höher lag als in vergleichbaren Gemeinden, darunter viele sehr seltene Krebsarten. 2009 dann bestätigte eine Studie des Alberta Cancer Board meine Beobachtungen. Bis heute ist unklar, warum eine so kleine isolierte Gemeinde von 1200 Menschen, von denen 80 Prozent als Jäger, Fischer und Sammler leben, eine so hohe Krebslast hat."
Unter den Krebsfällen in Fort Chipewyan sind Leukämien, Lymphome, Hirntumore und mindestens zwei Fälle von Gallengangskarzinomen, einer extrem seltenen Krankheit, die statistisch gesehen bei einem von 100.000 Menschen auftritt. Die Studie des Alberta Cancer Board konnte genetische Ursachen für die hohen Krebsraten ausschließen. Und die meisten Einwohner ernähren sich als Jäger und Sammler von Wild, Fisch, Beeren und Kräutern. Alles keine Lebensmittel, von denen bekannt wäre, dass sie das Krebsrisiko erhöhen. O'Connor:
"Selbst die Raucherquote ist in Fort Chipewyan niedriger als in Orten vergleichbarer Größe. Vielleicht ist es einfach Pech. Das ist immer eine Möglichkeit. Andererseits klagen die Einwohner von Fort Chipewyan seit etwa 15 Jahren über seltsame Veränderungen in ihrer Umwelt. Das Fleisch frisch erlegter Tiere sei oft schon schlecht, und die Fische die sie fingen, hätten immer öfter Missbildungen und Tumore."
In zahlreichen Untersuchungen wurden Missbildungen und Tumore bei Fischen aus dem Athabasca River nachgewiesen. Die Ursachen dafür sind unklar. David Schindlers Studie belegt, dass die Ölsandindustrie den Athabasca River mit Schadstoffen belastet. Viele dieser Stoffe wirken karzinogen. Aber es gibt bis heute keine wissenschaftlich belastbare Studie, die die Gründe für die Missbildungen oder die hohe Krebsrate untersucht hätte, auch wenn die Gesundheitsbehörden Albertas eine solche Untersuchung seit längerer Zeit ankündigen.
Nathan Lemphers hat den letzten Stopp seiner Tour erreicht. Ein kleiner See, idyllisch gelegen inmitten eines hügeligen Fichtenwaldes. Ein Biber muss vor kurzem hier gewesen sein. Auf dem gefrorenen See liegt ein frisch gefällter Baum.
"Das hier ist Gateway Hill, Syncrudes einziges Stück Land, das den Standards der Regierung entsprechend renaturiert wurde, 104 Hektar. Es ist eine ehemalige Abraumhalde. Hier liegt also der Boden, der anderswo abgetragen wurde, um an die Ölsande darunter zu gelangen. Vor 20, 30 Jahren hat Syncrude hier Bäume gepflanzt und mittlerweile ist sogar der Biber zurückgekommen. Das ist eine wirklich tolle Leistung! Aber es sind eben auch nur 0,15 Prozent der gestörten Flächen. Die Industrie hat also noch einen langen Weg vor sich. Ganz besonders wenn man bedenkt, dass die Renaturierung der Tagebaulöcher und der Rückstandsbecken wesentlich schwieriger sein wird, als die der unbelasteten Abraumhalden."
Wenn der letzte Ölsandbrocken aus einer Grube herausgeholt und das letzte Bohrloch erschöpft ist, sind die Minenbetreiber verpflichtet, das Gebiet zu renaturieren, also eine neue Landschaft zu schaffen, die ähnliche ökologische Funktionen erfüllt, wie die zuvor zerstörte.
Die Universität von Alberta in Edmonton liegt südlich der Innenstadt, eingekeilt zwischen zwei Ausfallstraßen. In dem braunen, achtstöckigen Gebäude der Biowissenschaften liegt Rebecca Rooneys Büro am Ende eines verwinkelten Ganges: ein fensterloser kleiner Raum voller Aktenordner und Bücher.
"Ich habe in meiner Doktorarbeit natürliche Feuchtgebiete mit solchen verglichen, die die Bergbaufirmen versuchsweise schon angelegt haben."
Feuchtgebiete sind ein sehr bedeutender Teil des borealen Ökosystems im Norden Albertas. Sie durchsetzen die lichten Fichten- und Lärchenwälder und speichern große Wassermengen in dem niederschlagsarmen System. Moore stellen 65 Prozent der ursprünglichen Vegetation in dieser Region.
"Drei Viertel dieser Gebiete werden von einer oder zwei Pflanzengesellschaften dominiert, die typisch sind für diese Region. Aber in keinem einzigen der künstlichen Feuchtgebiete kam auch nur eine dieser Pflanzengesellschaften vor. Was sie da erschaffen ist etwas völlig Neues und Anderes."
Das wäre im Prinzip nicht schlimm, solange die neuen Feuchtgebiete die gleichen ökologischen Funktionen erfüllen wie die alten.
"Die Schnecken, Würmer, Insekten, Spinnen, Fische und Vögel sind an diese natürlichen Feuchtgebiete angepasst. Die Pflanzen dort dienen ihnen als Lebensraum, als Nahrung oder als Zuflucht vor Feinden. Wenn sie in einem solchen System die Pflanzen durch völlig andere ersetzen, verändert sich der Lebensraum, so dass er für viele Tiere nicht mehr geeignet ist."
Die Pflanzen sind andere, weil sie mit widrige Umweltbedingungen zurechtkommen müssen. Die Böden sind belastet mit Rückständen aus der Ölsandproduktion: Schwermetallen, polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen, Naphtensäuren und vor allem Salz. Die kanadischen Ölsande lagen lange Zeit unter einem urzeitlichen Ozean, dessen Salz in die Teerlagen wanderte. Beim Herauswaschen des Öls wird auch das Salz frei und reichert sich an. Mit den hohen Salzgehalten aber können die alteingesessenen Pflanzen nicht umgehen. Deswegen müssen sie durch salzwassertolerante Arten ersetzt werden. Und auch für Amphibien und Fische seien die neugeschaffenen Feuchtgebiete wenig reizvoll, sagt der Ökologe Lee Foote von der Universität von Alberta in Edmonton.
"Die werden erstmal nicht wiederkommen, bis das Wasser wirklich sauber geworden ist. Amphibien absorbieren sehr viele Schadstoffe über ihre Haut und die heimischen Fische haben massive Probleme mit ihren Kiemen, die vom Salz und den Naphtensäuren angegriffen werden."
In der neu geschaffenen Landschaft wird Wasser sowieso ein knappes Gut sein. Denn die Industrie braucht viel Wasser, unter anderem um ihr größtes Problem in den Griff zu bekommen. Rebecca Rooney:
"Die Firmen wollen die flüssigen Rückstände am Ende in verlassene Tagebaulöcher kippen und darauf eine Schicht Frischwasser geben, um die Giftstoffe von der Umwelt zu trennen. Diese Wasserdecke muss immer wieder nachgefüllt werden, damit diese Seen nicht umkippen. Und das Wasser muss ja irgendwoher kommen. Es ist eine trockene Gegend, deshalb werden sie viel Oberflächenwasser in die Seen leiten müssen."
In einem ersten See wird das Verfahren bereits getestet. Ob es funktioniert, ob also die Giftstoffe am Boden der Grube bleiben und nicht den gesamten See verseuchen, ist noch nicht bestätigt. Trotzdem sind schon 27 solcher "End Pit Lakes" geplant. Die Abraumhalden und Tagebaulöcher wiederum wollen die Bergbaufirmen zu einer Landschaft modellieren, in der Feuchtgebieten angelegt und Wälder gepflanzt werden. Das wird dort am einfachsten sein, wo das in-situ-Verfahren betrieben wurde und die Oberfläche kaum gestört ist. Dennoch ist Kevin Timoney von Treeline Ecological Research skeptisch, dass es den Firmen gelingen wird, die Wunde, die sie ins Land reißen, wieder zu schließen.
"Zu unseren Lebzeiten definitiv nicht. Ich denke diese Wunde wird noch Jahrhunderte lang da sein. Und dass ein Gelände strukturiert und bepflanzt worden ist, heißt noch nicht, dass es gesund ist."
Nur ein gesundes Ökosystem aber kann auf lange Sicht funktionieren. Ein solches zu schaffen, sei eine große Aufgabe für den Menschen. Timoney:
"Natürliche Landschaften sind perfekt angepasst an das Klima und die Böden ihrer Region. Alles passt zusammen. Sobald Sie anfangen, Teile aus diesem System herauszunehmen und durch exotische Dinge zu ersetzen, kann alles Mögliche passieren. Sie spielen mit dem Ökosystem. Dabei geraten ganz besonders in Zeiten des Klimawandels jede Menge unberechenbarer Elemente ins System, und wir haben keine Ahnung wo das enden wird."
Der Norden Albertas ist bis heute überwiegend von Ureinwohnern besiedelt, die einen großen Teil ihrer Nahrung jagen, fischen und sammeln. Sie könnten die großen Verlierer des kanadischen Ölrauschs werden, befürchtet David Schindler von der Universität von Alberta.
"Die Bergbaufirmen pachten Land, das den Ureinwohnern vertraglich garantiert worden war und verwandeln es in große Tagebaugruben. Dieses Land wird den Fischen und Wildtieren auf lange Sicht keinen Lebensraum mehr bieten, die die Menschen für ihren traditionellen Lebensstil brauchen."
Im Norden Kanadas klafft eine immer größer werdende Wunde. Pflanzen und Tiere verlieren ihren Lebensraum, Wasser wird vergiftet, Boden zerstört und Menschen gefährdet. Und daran wird sich solange nichts ändern, wie die Welt nach Öl schreit. Die Bergbaufirmen würden das Öl nicht produzieren, wenn sie es nicht verkaufen könnten.
"Da drüben können Sie die Schornsteine der Aufbereitungsanlage und des Upgraders sehen. Und wenn Sie einatmen, riechen Sie das Öl, das hier produziert wird."
Aus den Schornsteinen steigt dunkler Qualm, Gasflammen züngeln und brauner Staub bedeckt Autos, Fabrikgebäude und den Asphalt der Straße. Alle paar Sekunden erschallen Kanonenschüsse.
Im Norden der kanadischen Provinz Alberta erstrecken sich riesige Ölsandfelder. Auf einer Fläche größer als England liegen hier Teervorkommen im Untergrund, aus denen sich Öl gewinnen lässt. Viel Öl. Hochrechnungen zufolge etwa 170 Milliarden Barrel – das sind mehr als 27 Billionen Liter. Nach Saudi Arabien und Venezuela besitzt Kanada damit das drittgrößte Ölvorkommen der Welt. Eine stete Ölquelle in einem politisch stabilen Land.
"Dieser langfristige Vorrat an Öl ist sehr beruhigend, sowohl für die Technologie als auch für die Investoren. Das Öl sprudelt hier zwar nicht so schnell aus dem Boden wie etwa in der Nordsee, aber es lässt sich langsam und stetig abbauen. Sie können sehen, wie viel Öl verfügbar ist, und müssen nicht den Pipelines eines anderen Landes vertrauen."
Seit Ende der 60er-Jahre, erzählt der Ökologe Lee Foote von Universität von Alberta in Edmonton, wird das Öl gefördert. Auf einer Fläche fast so groß wie Hamburg haben die Minengesellschaften den Nadelwald abgeholzt, Moore trockengelegt, den Boden abgetragen und mehr als 70 Meter tiefe Löcher gegraben. Die Gruben nehmen heute schon eine Fläche ein, die sechsmal so groß ist wie der Braunkohlentagebau Garzweiler. Und das ist erst der Anfang. Je stärker der Ölpreis steigt, desto größer wird die Wunde werden - und umso offensichtlicher die ökologische Katastrophe.
Cheryl Robb rüstet ihre Besucherin mit einem Helm und einer Schutzbrille aus. Dann öffnet die Pressesprecherin von Syncrude Canada Ltd. die schwere Tür zu einer Werkshalle im Forschungszentrum des Konzerns, bleibt stehen und lächelt, während sie gegen den Lärm anschreit.
"Das Zeug hier ist der Ölsand. Er besteht aus Sandkörnern, die umgeben sind von einer Schicht aus Wasser und Bitumen, einer Art Teer. Wegen dieser Wasserschicht zwischen dem Sand und dem Bitumen nutzen wir einen Wasserextraktionsprozess, um das Bitumen vom Sand zu trennen."
Um ein Barrel, also 159 Liter Öl zu erzeugen, braucht es zwei Tonnen Ölsande. Die werden mit heißem Wasser zu einer Art Brei vermischt. Die schweren Sandkörner sinken dabei zu Boden, das leichtere Bitumen schwimmt an der Oberfläche. In einer weiteren, "Upgrader" genannten Aufbereitungsanlage werden dann die langen Kohlenstoffketten gespalten, Schwefel und Schwermetalle herausgefischt und das zähe Bitumen so in eine Art flüssiges Rohöl verwandelt. Der ganze Prozess verbraucht gewaltige Mengen Wasser, das viele Male recycelt wird und sich dabei immer stärker mit Schadstoffen und Salzen anreichert, die natürlicherweise in den Ölsanden enthalten sind. Am Ende bleibt eine hochgiftige Brühe übrig. Syncrude und die anderen Firmen suchen nach Wegen, diese unschädlich zu machen. Noch aber wird sie einfach unter freiem Himmel endgelagert.
Etwa 40 Kilometer nördlich der Stadt Fort McMurray ragen die Schlote der größten Ölsandmine der Gegend in den grauen Himmel. Eine gewaltige Industriewüste dort, wo sich bis vor wenigen Jahrzehnten endloser Wald erstreckte. Ein weißer Pickup hält an. Aus dem Auto steigt eine Frau vom Sicherheitsdienst und verlangt die Ausweise. Nathan Lemphers kennt diese Prozedur. Der Spezialist für Ölsande arbeitet beim Pembina Institute, einer privaten Forschungsorganisation, die sich mit Energie- und Klimathemen befasst.
"If you guys want to carry on that would be great we don't want anybody to stop here."
Die Sicherheitsbeamtin protokolliert die Namen, danach folgt ihr Pickup Lemphers noch einige Kilometer, bevor sie abdreht. Neben einem großen See hält Lemphers. An einigen Stellen schimmert es ölig. Trotz der Eiseskälte ist das Wasser nicht gefroren. Am sandigen Ufer stehen krumme Vogelscheuchen in orangenen und gelben Warnwesten.
"Was Sie im Hintergrund hören, sind Lärm-Abschrecksysteme für Zugvögel, die diese Gegend durchfliegen. Die Kanonenschüsse sollen die Vögel verjagen, damit sie nicht auf den riesigen Rückstandsbecken landen, die hier überall angelegt wurden."
In ihnen wabert ein zähflüssiger Giftcocktail aus Ölresten, Naphtensäuren, polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen, Salz, Ammoniak, Arsen, Selen, Quecksilber und anderen Schwermetallen aus der Ölsandproduktion. Alle Rückstandsbecken zusammen nehmen heute schon 170 Quadratkilometer ein. Das entspricht in etwa der Größe der Insel Fehmarn. Und jeden Tag kommen 200 Millionen Liter giftige Brühe hinzu. Brühe, die oft noch warm ist. Im Winter sind die Rückstandsbecken dadurch oft die einzigen offenen Wasserflächen in der Region und damit ein verhängnisvoll verführerisches Ziel für Zugvögel. Viele Rückstandsbecken liegen direkt an den Ufern des Athabasca River, nur durch einen Deich vom Fluss getrennt. Den Ökologieprofessor David Schindler von der Universität von Alberta in Edmonton beunruhigt das sehr.
"All diese Becken stellen eine Gefahr für den Fluss dar, sollte einer der Deiche brechen. Besonders im Winter hätten Sie keine Chance, die giftigen Rückstände wieder aus dem Fluss herauszuholen. Fünf bis sechs Monate im Jahr ist der eisbedeckt. Die Stoffe würden sich stromabwärts verteilen, bis zum Slave River, in den Great Slave Lake und möglicherweise bis in den Mackenzie River. Das wäre ein Desaster für das gesamte System."
Ein System, das mit dem Peace-Athabasca-Delta eines der größten Süßwasserdeltas der Welt beherbergt. Zahlreiche Zugvogelrouten kreuzen sich hier und machen die Region zu einem der wichtigsten Brutgebiete Nordamerikas.
"My name is Dr. Kevin Timoney. I am an ecologist and I do a lot of research up in north eastern Alberta on the ecology of the Peace and the Athabasca delta ecosystems."
Mit genau diesen Ökosystemen beschäftigt sich David Schindlers Kollege Kevin Timoney vom unabhängigen Umweltforschungsbüro Treeline Ecological Research. In zahlreichen Studien hat er die Auswirkungen der Ölsandproduktion auf die Umwelt untersucht.
"Ein ganz großes Problem sind die Leckagen in den Rückstandsbecken. Die Firmen versuchen zwar so viel wie möglich von den versickerten Giftstoffen aufzufangen. Und das gelingt ihnen auch zu 99 Prozent. Aber es gibt so viele Leckagen, dass selbst das eine Prozent, das ihnen entgeht, sich über die Jahre zu Hunderten von Millionen Litern giftiger Rückstände aufsummiert, die ins Grundwasser gelangen. Und sobald sie einmal im Grundwasser sind, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie da herauszuholen."
Die Ölsandindustrie gefährdet nicht nur das Grundwasser, sondern auch die Flüsse. An vielen Stellen im Norden Albertas liegen die Ölsandformationen an der Erdoberfläche. Bäche und Flüsse, die durch sie hindurch fließen, waschen Schadstoffe aus und nehmen sie mit. David Schindler:
"Sowohl die Provinzregierung als auch der Interessenverband der Kanadischen Petroleumproduzenten haben deshalb lange Jahre erklärt, diese großen Minen würden keinerlei Schadstoffe emittieren, die dann in den Athabasca River gelangten. Sie behaupten, alle nachgewiesenen Stoffe stammten aus natürlichen Quellen."
Als Beleg dafür führten sie die Ergebnisse ihres Monitoringprogramms an. Doch David Schindler hatte seine Zweifel an der kompletten Unschuld der Industrie. 2007 begann er mit einer eigenen Untersuchung.
"Wir haben die Wassereinzugsgebiete sowohl im Winter als auch im Sommer untersucht und die Schadstoffbelastung des Athabasca Rivers jeweils knapp oberhalb und unterhalb der Ölsandminen miteinander verglichen. Wir konnten zeigen, dass die Industrie einen großen Anteil an der Schadstofflast des Flusses hat."
Stromabwärts der Minen fanden sich deutlich mehr Schadstoffe im Wasser als stromaufwärts. Er und seine Kollegen untersuchten außerdem den Schnee und konnten nachweisen, dass sich in ihm große Mengen an Luftschadstoffen sammeln, die aus den Schornsteinen der Ölaufbereitungsanlagen entweichen. Mit der Schneeschmelze im Frühling werden diese Stoffe in die Flüsse und Seen geschwemmt. Im Wasser des Athabasca Rivers fanden die Forscher polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Nickel, Quecksilber, Thallium, Cadmium, Blei, Zink und viele andere Schwermetalle. Schindler:
"Die Konzentrationen waren relativ gering, da der Athabasca River im Schnitt 700 Kubikmeter pro Sekunde an sauberem Wasser in die Ölsandfelder leitet, so dass die Schadstoffe stark verdünnt werden. In diesen geringen Mengen sind die einzelnen Stoffe nicht schädlich. Allerdings hat sich noch niemand die Wirkung all dieser Stoffe zusammen angeschaut. Für die einzelnen polyzyklischen aromatischen Verbindungen wiederum gibt es keine Toxizitäts-Richtlinien. Sie werden immer in ihrer Gesamtheit betrachtet. Und da haben wir Konzentrationen gefunden, die sich in anderen Studien als toxisch erwiesen hatten."
Es müsse dringend untersucht werden, wie sich die Schadstoffbelastung des Flusses auf die Tiere und Menschen auswirkt, die das Wasser nutzen, fordert David Schindler. Seine Studie sei 2010 veröffentlicht worden. Als Reaktion darauf hätten die Regierungen Albertas und Kanadas genau solche Untersuchungen angekündigt. Geschehen sei bis heute nichts.
Nathan Lemphers steigt eine sandige Böschung hinab zum Athabasca River. Auf dem Fluss knacken Eisschollen aneinander und schieben sich gen Norden. Dort, wo er nicht den Ölsandgruben weichen musste, drängt sich lichter borealer Nadelwald bis an die Ufer.
"Sorgen machen wir uns auch um das kanadische Waldkaribu, eine sowohl in Alberta als auch in ganz Kanada bedrohte Art. Hier in der Region der Ölsande leben 13 Herden. zwölf von ihnen sind akut bedroht. Durch die Ölsandindustrie wird immer mehr Lebensraum entweder komplett zerstört oder durch Straßen und Pipelinetrassen zerteilt."
Den Waldkaribus könnte eine neue Fördertechnik endgültig zum Verhängnis werden. Im Tagebau lassen sich nur Teile der Ölsandvorkommen abbauen. Weit größere Mengen liegen so tief im Untergrund, dass sie sich nur mit Hilfe eines "in situ" genannten Verfahrens gewinnen lassen. Die Bergbaufirmen schicken über Bohrlöcher heiße Flüssigkeit oder Dampf in den Untergrund, erhitzen ihn zwei bis drei Monate lang und pumpen dann das geschmolzene Bitumen an die Oberfläche. Der Sand und mit ihm viele der Schadstoffe bleiben im Untergrund, man braucht keine offenen Rückstandsbecken und keine großen Tagebaugruben. Deshalb galt das in-situ-Verfahren lange Zeit als Hoffnungsträger zur Lösung der Umweltprobleme. David Schindler allerdings fürchtet, dass die nah beieinanderliegenden Bohrlöcher, die Straßen und Pipelinetrassen das Ökosystem so stark zergliedern, dass die Karibus ihre letzten Rückzugsräume verlieren werden. Schindler:
"Das Gebiet ist riesig, in dem das in-situ-Verfahren genutzt werden kann. Größer als England. Im Moment ist der Plan der Regierung und der Industrie, diese Ölsande so schnell wie möglich auszubeuten."
Der Hunger nach Öl hat jetzt schon eine große Wunde in den kanadischen Wald geschlagen. Eine Wunde, die dabei ist, sich weit über die Grenzen Albertas hinaus bemerkbar zu machen. Fünf Prozent der kanadischen Treibhausgasemissionen stammen heute schon aus der Ölsandproduktion. Und dieser Wert wird steigen, prophezeit der Umweltwissenschaftler Nathan Lemphers vom Pembina Institute.
"In situ mining is much more energy intensive than mining operations, on a per barrel basis it is 2,5 times more carbon intensive than mining operations."
Das in-situ-Verfahren sei wesentlich energieintensiver als der Tagebau, sagt er. Pro Barrel Öl werden zweieinhalb Mal so viele Treibhausgase freigesetzt. Denn um die nötige Wärme zum Schmelzen des Bitumens im Untergrund zu erzeugen, müssen gewaltige Mengen Erdgas verbrannt werden. Das verwendete Gasgemisch hat darüber hinaus einen hohen Schwefelanteil, so dass bei der in-situ-Produktion mehr als dreimal so viel Schwefeldioxid in die Luft gelangt wie beim Tagebau. Saurer Regen ist die Folge. Das sei ein großes Problem für die Regionen, die im Windschatten der Ölsandindustrie lägen, sagt Nathan Lemphers.
"In der Provinz Saskatchewan wird heute schon eine immer stärkere Versauerung der Seen beobachtet, die wahrscheinlich noch mehr zunimmt, je mehr Bergbaufirmen vom Tagebau auf das in-situ-Verfahren umsteigen. 2015 schon wird das in-situ-Verfahren die Ölsandindustrie dominieren. Dadurch wird der Saure Regen in der Windfahne der Anlagen zunehmen. Das ist besonders problematisch für die Menschen, die für ihren Lebensunterhalt auf die Seen im Norden Saskatchewans angewiesen sind."
Und das ist noch nicht alles. David Schindler, Nathan Lemphers und viele ihrer Kollegen fürchten außerdem, dass sich beim Erhitzen des Untergrunds Schadstoffe aus dem Ölsand lösen und ins Grundwasser gelangen könnten. Die Grundwasserleiter der Gegend sind kaum erforscht, die Folgen unabsehbar.
Fort McKay ist eine kleine, indigene Gemeinde mitten in den Ölsandfeldern. Das Bürgerzentrum ist das einzige zweistöckige Haus des Ortes. In dem großen Veranstaltungssaal hat ein Dutzend Leute auf braunen Holzstühlen Platz genommen. Darunter eine etwa 70-jährige Frau in einem langen Fellmantel, mit tiefschwarzen Haaren und mintgrün lackierten Fingernägeln. Eingeladen hat der Arzt der Gemeinde, John O'Connor. Seit einer Woche warnen die Behörden davor, das Leitungswasser zu trinken. Dort wurden hohe Mengen an Trihalogenmethanen und anderen Stoffen entdeckt, die bei der Desinfektion von Wasser entstehen. Die Dame im Fellmantel will wissen, ob die Ölsandfirmen für das verseuchte Wasser verantwortlich seien. Jeder wüsste doch, dass die nachts irgendwas verklappten. John O'Connor verneint. Solche Stoffe entstünden immer, wenn Wasser mit Chlor versetzt würde, um es keimfrei zu machen. Das werde in jedem Wasserwerk gemacht, aber normalerweise seien die Schadstoffmengen vernachlässigbar klein. Bislang könne niemand sagen, warum ausgerechnet in Fort McKay so hohe Werte aufträten. Es gelingt ihm nicht, das Misstrauen der Dame zu zerstreuen. Dafür sitzt es zu tief. Fast jeder der Anwesenden hat mindestens einen Krebsfall in der Familie. In einigen Gemeinden stromabwärts der Ölsandfelder ist die Situation noch dramatischer. Das weiß John O'Connor sehr genau.
"2006 habe ich als Arzt eine Gemeinde weiter stromabwärts betreut, Fort Chipewyan. Der Ort liegt völlig abgeschieden am Athabasca River. Ich war der einzige Arzt dort und mir fiel auf, dass die Krebsrate in Fort Chipewyan um 30 Prozent höher lag als in vergleichbaren Gemeinden, darunter viele sehr seltene Krebsarten. 2009 dann bestätigte eine Studie des Alberta Cancer Board meine Beobachtungen. Bis heute ist unklar, warum eine so kleine isolierte Gemeinde von 1200 Menschen, von denen 80 Prozent als Jäger, Fischer und Sammler leben, eine so hohe Krebslast hat."
Unter den Krebsfällen in Fort Chipewyan sind Leukämien, Lymphome, Hirntumore und mindestens zwei Fälle von Gallengangskarzinomen, einer extrem seltenen Krankheit, die statistisch gesehen bei einem von 100.000 Menschen auftritt. Die Studie des Alberta Cancer Board konnte genetische Ursachen für die hohen Krebsraten ausschließen. Und die meisten Einwohner ernähren sich als Jäger und Sammler von Wild, Fisch, Beeren und Kräutern. Alles keine Lebensmittel, von denen bekannt wäre, dass sie das Krebsrisiko erhöhen. O'Connor:
"Selbst die Raucherquote ist in Fort Chipewyan niedriger als in Orten vergleichbarer Größe. Vielleicht ist es einfach Pech. Das ist immer eine Möglichkeit. Andererseits klagen die Einwohner von Fort Chipewyan seit etwa 15 Jahren über seltsame Veränderungen in ihrer Umwelt. Das Fleisch frisch erlegter Tiere sei oft schon schlecht, und die Fische die sie fingen, hätten immer öfter Missbildungen und Tumore."
In zahlreichen Untersuchungen wurden Missbildungen und Tumore bei Fischen aus dem Athabasca River nachgewiesen. Die Ursachen dafür sind unklar. David Schindlers Studie belegt, dass die Ölsandindustrie den Athabasca River mit Schadstoffen belastet. Viele dieser Stoffe wirken karzinogen. Aber es gibt bis heute keine wissenschaftlich belastbare Studie, die die Gründe für die Missbildungen oder die hohe Krebsrate untersucht hätte, auch wenn die Gesundheitsbehörden Albertas eine solche Untersuchung seit längerer Zeit ankündigen.
Nathan Lemphers hat den letzten Stopp seiner Tour erreicht. Ein kleiner See, idyllisch gelegen inmitten eines hügeligen Fichtenwaldes. Ein Biber muss vor kurzem hier gewesen sein. Auf dem gefrorenen See liegt ein frisch gefällter Baum.
"Das hier ist Gateway Hill, Syncrudes einziges Stück Land, das den Standards der Regierung entsprechend renaturiert wurde, 104 Hektar. Es ist eine ehemalige Abraumhalde. Hier liegt also der Boden, der anderswo abgetragen wurde, um an die Ölsande darunter zu gelangen. Vor 20, 30 Jahren hat Syncrude hier Bäume gepflanzt und mittlerweile ist sogar der Biber zurückgekommen. Das ist eine wirklich tolle Leistung! Aber es sind eben auch nur 0,15 Prozent der gestörten Flächen. Die Industrie hat also noch einen langen Weg vor sich. Ganz besonders wenn man bedenkt, dass die Renaturierung der Tagebaulöcher und der Rückstandsbecken wesentlich schwieriger sein wird, als die der unbelasteten Abraumhalden."
Wenn der letzte Ölsandbrocken aus einer Grube herausgeholt und das letzte Bohrloch erschöpft ist, sind die Minenbetreiber verpflichtet, das Gebiet zu renaturieren, also eine neue Landschaft zu schaffen, die ähnliche ökologische Funktionen erfüllt, wie die zuvor zerstörte.
Die Universität von Alberta in Edmonton liegt südlich der Innenstadt, eingekeilt zwischen zwei Ausfallstraßen. In dem braunen, achtstöckigen Gebäude der Biowissenschaften liegt Rebecca Rooneys Büro am Ende eines verwinkelten Ganges: ein fensterloser kleiner Raum voller Aktenordner und Bücher.
"Ich habe in meiner Doktorarbeit natürliche Feuchtgebiete mit solchen verglichen, die die Bergbaufirmen versuchsweise schon angelegt haben."
Feuchtgebiete sind ein sehr bedeutender Teil des borealen Ökosystems im Norden Albertas. Sie durchsetzen die lichten Fichten- und Lärchenwälder und speichern große Wassermengen in dem niederschlagsarmen System. Moore stellen 65 Prozent der ursprünglichen Vegetation in dieser Region.
"Drei Viertel dieser Gebiete werden von einer oder zwei Pflanzengesellschaften dominiert, die typisch sind für diese Region. Aber in keinem einzigen der künstlichen Feuchtgebiete kam auch nur eine dieser Pflanzengesellschaften vor. Was sie da erschaffen ist etwas völlig Neues und Anderes."
Das wäre im Prinzip nicht schlimm, solange die neuen Feuchtgebiete die gleichen ökologischen Funktionen erfüllen wie die alten.
"Die Schnecken, Würmer, Insekten, Spinnen, Fische und Vögel sind an diese natürlichen Feuchtgebiete angepasst. Die Pflanzen dort dienen ihnen als Lebensraum, als Nahrung oder als Zuflucht vor Feinden. Wenn sie in einem solchen System die Pflanzen durch völlig andere ersetzen, verändert sich der Lebensraum, so dass er für viele Tiere nicht mehr geeignet ist."
Die Pflanzen sind andere, weil sie mit widrige Umweltbedingungen zurechtkommen müssen. Die Böden sind belastet mit Rückständen aus der Ölsandproduktion: Schwermetallen, polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen, Naphtensäuren und vor allem Salz. Die kanadischen Ölsande lagen lange Zeit unter einem urzeitlichen Ozean, dessen Salz in die Teerlagen wanderte. Beim Herauswaschen des Öls wird auch das Salz frei und reichert sich an. Mit den hohen Salzgehalten aber können die alteingesessenen Pflanzen nicht umgehen. Deswegen müssen sie durch salzwassertolerante Arten ersetzt werden. Und auch für Amphibien und Fische seien die neugeschaffenen Feuchtgebiete wenig reizvoll, sagt der Ökologe Lee Foote von der Universität von Alberta in Edmonton.
"Die werden erstmal nicht wiederkommen, bis das Wasser wirklich sauber geworden ist. Amphibien absorbieren sehr viele Schadstoffe über ihre Haut und die heimischen Fische haben massive Probleme mit ihren Kiemen, die vom Salz und den Naphtensäuren angegriffen werden."
In der neu geschaffenen Landschaft wird Wasser sowieso ein knappes Gut sein. Denn die Industrie braucht viel Wasser, unter anderem um ihr größtes Problem in den Griff zu bekommen. Rebecca Rooney:
"Die Firmen wollen die flüssigen Rückstände am Ende in verlassene Tagebaulöcher kippen und darauf eine Schicht Frischwasser geben, um die Giftstoffe von der Umwelt zu trennen. Diese Wasserdecke muss immer wieder nachgefüllt werden, damit diese Seen nicht umkippen. Und das Wasser muss ja irgendwoher kommen. Es ist eine trockene Gegend, deshalb werden sie viel Oberflächenwasser in die Seen leiten müssen."
In einem ersten See wird das Verfahren bereits getestet. Ob es funktioniert, ob also die Giftstoffe am Boden der Grube bleiben und nicht den gesamten See verseuchen, ist noch nicht bestätigt. Trotzdem sind schon 27 solcher "End Pit Lakes" geplant. Die Abraumhalden und Tagebaulöcher wiederum wollen die Bergbaufirmen zu einer Landschaft modellieren, in der Feuchtgebieten angelegt und Wälder gepflanzt werden. Das wird dort am einfachsten sein, wo das in-situ-Verfahren betrieben wurde und die Oberfläche kaum gestört ist. Dennoch ist Kevin Timoney von Treeline Ecological Research skeptisch, dass es den Firmen gelingen wird, die Wunde, die sie ins Land reißen, wieder zu schließen.
"Zu unseren Lebzeiten definitiv nicht. Ich denke diese Wunde wird noch Jahrhunderte lang da sein. Und dass ein Gelände strukturiert und bepflanzt worden ist, heißt noch nicht, dass es gesund ist."
Nur ein gesundes Ökosystem aber kann auf lange Sicht funktionieren. Ein solches zu schaffen, sei eine große Aufgabe für den Menschen. Timoney:
"Natürliche Landschaften sind perfekt angepasst an das Klima und die Böden ihrer Region. Alles passt zusammen. Sobald Sie anfangen, Teile aus diesem System herauszunehmen und durch exotische Dinge zu ersetzen, kann alles Mögliche passieren. Sie spielen mit dem Ökosystem. Dabei geraten ganz besonders in Zeiten des Klimawandels jede Menge unberechenbarer Elemente ins System, und wir haben keine Ahnung wo das enden wird."
Der Norden Albertas ist bis heute überwiegend von Ureinwohnern besiedelt, die einen großen Teil ihrer Nahrung jagen, fischen und sammeln. Sie könnten die großen Verlierer des kanadischen Ölrauschs werden, befürchtet David Schindler von der Universität von Alberta.
"Die Bergbaufirmen pachten Land, das den Ureinwohnern vertraglich garantiert worden war und verwandeln es in große Tagebaugruben. Dieses Land wird den Fischen und Wildtieren auf lange Sicht keinen Lebensraum mehr bieten, die die Menschen für ihren traditionellen Lebensstil brauchen."
Im Norden Kanadas klafft eine immer größer werdende Wunde. Pflanzen und Tiere verlieren ihren Lebensraum, Wasser wird vergiftet, Boden zerstört und Menschen gefährdet. Und daran wird sich solange nichts ändern, wie die Welt nach Öl schreit. Die Bergbaufirmen würden das Öl nicht produzieren, wenn sie es nicht verkaufen könnten.