Sie werden unter Führung ihres Kommandanten an einem Kontrollpunkt auf dem Scheitelpunkt eines Weges abgesetzt, der zu beiden Seiten nach unten in den Wald führt. Wen sie von diesem Kontrollpunkt aus beobachten sollen, wissen sie nicht. Wer der Feind ist, wissen Sie auch nicht genau. Aber schließlich sind sie Soldaten, und es ist Krieg. Jedenfalls gehen sie davon aus, dass noch Krieg ist, auch das wissen sie nicht genau. Vielleicht ist der Krieg auch schon vorbei. Kontakt zur Außenwelt können sie bald nicht mehr aufnehmen, denn irgendwann sind alle Handys leer. Das Terrain, auf dem sie sich bewegen, ist ihnen in doppelter Hinsicht nicht vertraut, denn bis auf einen sind sie allesamt Städter.
Das ist die Ausgangssituation, und das Wort von der kafkaesken Situation liegt so nahe, dass der Klappentext nicht darauf verzichten kann. Man muss aber Kafka gar nicht bemühen, wenn man etwa nur an die im letzten Jahr auf deutsch erschienenen Kriegsaufzeichnungen von Julien Gracq aus der Jahren 1939/40 denkt, oder aber an jene versprengten japanischen Soldaten, die irgendwo im pazifischen Dschungel noch jahrzehntelang nach Ende des Zweiten Weltkriegs ausharrten. An sogenannten kafkaesken Situationen herrscht im Krieg niemals Mangel.
Albaharis Roman ist selbstverständlich nicht einem dokumentarischen Realismusbegriff verpflichtet, sondern bewegt sich eher auf der Ebene des Albtraumhaften und des Surrealen. Dasselbe ließ sich aber von Gracqs auf den ersten Blick so realistischen Aufzeichnungen auch sagen. Andererseits ist dieser Roman nicht aus der Zeit gefallen und könnte keineswegs überall und jederzeit spielen.
Die Anklänge an die jugoslawischen Zerfallskriege sind überdeutlich, wie es bei einem Autor nicht anders zu erwarten ist, der 1994 zwar nicht vertrieben wurde, aber aus Trauer um sein untergegangenes Land nach Kanada auswanderte. Die Anspielungen beschränken sich nicht nur auf jugoslawisch klingende Namen und die Tatsache, dass der Feind, wenn er auftaucht, dieselbe Sprache spricht wie die Soldaten, die den Kontrollpunkt verteidigen sollen: Serbokroatisch also darf man vermuten. Berichtet wird auch von Totenschädeln, mit denen man Fußball spielt, von Vergewaltigungen und Orgien, von Misshandlungen von Flüchtlingen, von Misstrauen und Verrat in den eigenen Reihen, schließlich von der systematischen Dezimierung der Truppe.
Dabei bleibt die Erzählposition nebulös. Zwar erzählt eindeutig ein "wir", wie schon der erste Satz klar macht, genauer: eine Stimme aus der Truppe, die aber nie kenntlich gemacht wird und nie "ich" sagt. Zugleich aber spielt die personale Perspektive des Kommandanten eine Rolle, anfangs nur temporär, zum Ende hin ist sie die einzige. Ein gestandener Germanist mag damit seine Probleme haben, den Zeigefinger heben und fragen: Wer erzählt hier denn eigentlich?
Für den Leser bleibt diese erzähltheoretische Fragestellung jedoch völlig unerheblich, weil Albaharis sprachliche Höhe und fiktionale Überzeugungskraft mit dem Schlingern zwischen den Perspektiven nicht nachlassen. Nicht zuletzt liegt das an der Figur des Kommandanten, einem eher zartbesaiteten Gemüt, der zumindest nach eigener Überzeugung schon seit Jahren an einer tiefen Depression leidet und zudem philosophisch veranlagt ist. Mit seinem ausgeprägten Sinn für das Absurde des Lebens im Allgemeinen und des Krieges im Besonderen wäre er würdig, eine Gestalt Samuel Becketts zu sein, und selbstverständlich findet sich Beckett in diesem Roman, wie in anderen Büchern Albaharis auch, als Referenz.
Entsprechend bewegt sich der Roman lange Zeit kunstvoll schwebend zwischen Trauerspiel und Hochkomik, zwischen Tiefe und Irrwitz. Leider scheint sich Albahari aber irgendwann dazu entschlossen zu haben, einen Katalog dessen abzuarbeiten, was an Absurditäten, Scheußlichkeiten und plötzlichen Überraschungen in einem Krieg alles möglich ist. Die letzten etwa dreißig Seiten des Buches überdrehen, sie werden zusehends atemlos, ohne dass die Reflexionsebene der action noch folgen könnte, als habe der Autor nun endlich zum Schluss kommen wollen. Das Absurde lebt ja gerade von der unendlichen Variationsbreite bei gleichzeitiger Abwesenheit einer erkennbaren Entwicklung.
Das führt zu einem gewissen Wiederholungszwang, der zwar auf der Bühne bei perfekt gehandhabter Ökonomie zu Meisterstücken wie Warten auf Godot führen kann, in einem erzählerischen Text aber leicht in eine Sackgasse mündet. So ist es hier der Fall, und es rettet die Erzählung auch nicht der kulturkritische Trick, dass sich der Kommandant am Ende in seiner Wohnung wiederfindet und über den Bildschirm mit der Moderatorin einer Art Realityshow spricht, sodass der Leser sich fragen darf, ob hier zuvor wirklich vom Krieg die Rede war. Da vermisst man einfach den Respekt gegenüber dem zuvor Berichteten, anders gesagt: die erzählerische Gerechtigkeit.
Man muss also vermuten, dass Albahari aus der Falle, die er sich selbst (und dem Leser) gestellt hat, nicht mehr so recht herausgefunden hat. Und trotzdem soll hier von der Lektüre keineswegs abgeraten werden, im Gegenteil: Eine andere Gerechtigkeit gebietet es nämlich zu sagen, dass Albaharis Roman auf einem Niveau scheitert, das viele Autoren selbst im Gelingen gar nicht erst erreichen. Ihn noch in seinem Scheitern zu begleiten, kann - ich bitte um Verzeihung angesichts des Sujets des Buches - ein ausgesprochener Genuss sein.
David Albahari: Kontrollpunkt
Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 178 S., geb., 18,95 Euro
Das ist die Ausgangssituation, und das Wort von der kafkaesken Situation liegt so nahe, dass der Klappentext nicht darauf verzichten kann. Man muss aber Kafka gar nicht bemühen, wenn man etwa nur an die im letzten Jahr auf deutsch erschienenen Kriegsaufzeichnungen von Julien Gracq aus der Jahren 1939/40 denkt, oder aber an jene versprengten japanischen Soldaten, die irgendwo im pazifischen Dschungel noch jahrzehntelang nach Ende des Zweiten Weltkriegs ausharrten. An sogenannten kafkaesken Situationen herrscht im Krieg niemals Mangel.
Albaharis Roman ist selbstverständlich nicht einem dokumentarischen Realismusbegriff verpflichtet, sondern bewegt sich eher auf der Ebene des Albtraumhaften und des Surrealen. Dasselbe ließ sich aber von Gracqs auf den ersten Blick so realistischen Aufzeichnungen auch sagen. Andererseits ist dieser Roman nicht aus der Zeit gefallen und könnte keineswegs überall und jederzeit spielen.
Die Anklänge an die jugoslawischen Zerfallskriege sind überdeutlich, wie es bei einem Autor nicht anders zu erwarten ist, der 1994 zwar nicht vertrieben wurde, aber aus Trauer um sein untergegangenes Land nach Kanada auswanderte. Die Anspielungen beschränken sich nicht nur auf jugoslawisch klingende Namen und die Tatsache, dass der Feind, wenn er auftaucht, dieselbe Sprache spricht wie die Soldaten, die den Kontrollpunkt verteidigen sollen: Serbokroatisch also darf man vermuten. Berichtet wird auch von Totenschädeln, mit denen man Fußball spielt, von Vergewaltigungen und Orgien, von Misshandlungen von Flüchtlingen, von Misstrauen und Verrat in den eigenen Reihen, schließlich von der systematischen Dezimierung der Truppe.
Dabei bleibt die Erzählposition nebulös. Zwar erzählt eindeutig ein "wir", wie schon der erste Satz klar macht, genauer: eine Stimme aus der Truppe, die aber nie kenntlich gemacht wird und nie "ich" sagt. Zugleich aber spielt die personale Perspektive des Kommandanten eine Rolle, anfangs nur temporär, zum Ende hin ist sie die einzige. Ein gestandener Germanist mag damit seine Probleme haben, den Zeigefinger heben und fragen: Wer erzählt hier denn eigentlich?
Für den Leser bleibt diese erzähltheoretische Fragestellung jedoch völlig unerheblich, weil Albaharis sprachliche Höhe und fiktionale Überzeugungskraft mit dem Schlingern zwischen den Perspektiven nicht nachlassen. Nicht zuletzt liegt das an der Figur des Kommandanten, einem eher zartbesaiteten Gemüt, der zumindest nach eigener Überzeugung schon seit Jahren an einer tiefen Depression leidet und zudem philosophisch veranlagt ist. Mit seinem ausgeprägten Sinn für das Absurde des Lebens im Allgemeinen und des Krieges im Besonderen wäre er würdig, eine Gestalt Samuel Becketts zu sein, und selbstverständlich findet sich Beckett in diesem Roman, wie in anderen Büchern Albaharis auch, als Referenz.
Entsprechend bewegt sich der Roman lange Zeit kunstvoll schwebend zwischen Trauerspiel und Hochkomik, zwischen Tiefe und Irrwitz. Leider scheint sich Albahari aber irgendwann dazu entschlossen zu haben, einen Katalog dessen abzuarbeiten, was an Absurditäten, Scheußlichkeiten und plötzlichen Überraschungen in einem Krieg alles möglich ist. Die letzten etwa dreißig Seiten des Buches überdrehen, sie werden zusehends atemlos, ohne dass die Reflexionsebene der action noch folgen könnte, als habe der Autor nun endlich zum Schluss kommen wollen. Das Absurde lebt ja gerade von der unendlichen Variationsbreite bei gleichzeitiger Abwesenheit einer erkennbaren Entwicklung.
Das führt zu einem gewissen Wiederholungszwang, der zwar auf der Bühne bei perfekt gehandhabter Ökonomie zu Meisterstücken wie Warten auf Godot führen kann, in einem erzählerischen Text aber leicht in eine Sackgasse mündet. So ist es hier der Fall, und es rettet die Erzählung auch nicht der kulturkritische Trick, dass sich der Kommandant am Ende in seiner Wohnung wiederfindet und über den Bildschirm mit der Moderatorin einer Art Realityshow spricht, sodass der Leser sich fragen darf, ob hier zuvor wirklich vom Krieg die Rede war. Da vermisst man einfach den Respekt gegenüber dem zuvor Berichteten, anders gesagt: die erzählerische Gerechtigkeit.
Man muss also vermuten, dass Albahari aus der Falle, die er sich selbst (und dem Leser) gestellt hat, nicht mehr so recht herausgefunden hat. Und trotzdem soll hier von der Lektüre keineswegs abgeraten werden, im Gegenteil: Eine andere Gerechtigkeit gebietet es nämlich zu sagen, dass Albaharis Roman auf einem Niveau scheitert, das viele Autoren selbst im Gelingen gar nicht erst erreichen. Ihn noch in seinem Scheitern zu begleiten, kann - ich bitte um Verzeihung angesichts des Sujets des Buches - ein ausgesprochener Genuss sein.
David Albahari: Kontrollpunkt
Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 178 S., geb., 18,95 Euro