Das erste, was auffällt bei "All Melody", dem neuen Album von Nils Frahm, ist das Echo. Fast alle zwölf Stücke arbeiten mit verzögertem Klang.
"Echo und Reverb, genau, das ist für mich wie ein Instrument", erklärt Nils Frahm auf dem Weg zum Ursprungsport dieses Effekts: Die Echokammer im ehemaligen DDR-Funkhaus in Berlin, wo Frahm seit zwei Jahren sein Studio betreibt.
"Der Raum ist das Kleid der Musik. Und somit ist Hall im Prinzip, oder jeder Raum, jede Räumlichkeit essenziell, um einen Klang auszustatten. Deswegen gucken wir uns jetzt mal den Hall an."
"Jeder Ton ist gleichmäßig verhallt"
Frahm hat bereits als Kind klassisches Klavier gelernt, in Bands gespielt und ist schließlich zur elektronischen Musik gekommen. Heute nutzt er beides: Piano und Synthesizer. Und eben: Hall.
"Und hier hast du wirklich einen total ausgewogenen Hall. Weil kein Ton klingt besonders laut oder leiser als der andere. Jeder Ton ist gleichmäßig verhallt. Das ist wirklich das Schönste, was ich je gehört habe, als Hall."
Die Hallkammer im 50er-Jahre-Ambiente des Funkhauses – vielleicht Frahms wichtigstes Instrument. Durch sie wirkt seine Musik flächig, es gibt keine Brüche, man kann sie angenehm im Hintergrund hören. Auf Streamingdiensten wird seine Musik millionenfach abgespielt. Häufig als Gebrauchsmusik, in populären Playlists wie "Piano in the background" oder "Peaceful Piano". Für Frahm kein Problem.
"Ich kann das nicht ändern. Ich kann nur darauf bauen, dass die Menschen einfach eine gesunde Intuition haben, dass sie sich mit dem versorgen, was sie glücklich macht. Und wenn sie jetzt auf Spotify eine Connaisseur-artige Piano-Playlist benötigen, um sich besonders gut zu fühlen, dann wäre ich der letzte, der sich dagegen auflehnt."
"All Melody" ist anders als alles, was Frahm bislang gemacht hat. Viele der Stücke taugen dann eben doch nicht als Funktionsmusik. Sie verlangen genaues Hinhören, immer wieder entdeckt man neue Sounds. Zwar gibt es auch die obligatorischen, extrem leise aufgenommenen Klavierstücke. Interessanter sind aber Tracks wie "Sunson", die fast schon im Club laufen könnten.
Der alte Judo-Trick
Bislang waren Frahms Alben Lösungen zu Problemen, die er hatte. 2011, bei "Felt", ein Album voll Piano-Solos, musste er ganz leise spielen, und sein Klavier mit Filz auspolstern, weil sich seine Nachbarn über Lärm beschwert hatten. 2012, bei "Screws", hatte er einen Finger gebrochen. Das Problem bei "All Melody": Es gab keins - was viel komplizierter war, meint Frahm.
"Weil man nicht das Gewicht des Gegners nutzen kann. Der alte Judo-Trick. Bei den anderen Alben hatte ich wirklich immer so einen ziemlich weisen Judo-Trick benutzt, und habe mit sehr wenig mechanischem Aufwand, und zeitlichem Aufwand Alben gemacht, die trotzdem sich wie ein Album anfühlen. Und das ist jetzt bei dem Album, was ich jetzt hier gemacht habe, auch nicht anders, nur dass es halt ungefähr zehn bis fünfzig Mal so lange gedauert hat."
Frahm ist ein ungewöhnlicher Musiker. Denn er vermischt das reine Wasser eines Produzenten mit dem eines virtuosen Klavierspielers. Sein Klang: differenziert und extrem populär. Seine Tournee, die ihn unter anderem in die Hamburger Elbphilharmonie und die Londoner Barbican Hall führt, ist fast komplett ausverkauft. Auf der Bühne hechtet er wie ein Klabautermann zwischen Klavieren, Synthesizern und Effektgeräten hin und her.
Doch "All Melody" bleibt ein Mysterium. Es fällt schwer, es richtig gut zu finden, gleichzeitig ist es klangästhetisch höchst interessant. Aber reicht das? Vermutlich ist Frahms Perfektionismus an einigen Stellen zu sehr zu spüren. Was bleibt, ist instrumentelle Musik, aufgelockert mit einigen Choreinlagen, in der man sich wunderbar verlieren kann. Sie funktioniert universell: live, auf Streamingplattformen, für Vinyl-Nerds. Die vermeintliche Nische, Klaviermusik mit elektronischen Sounds, Frahm wird sie mit diesem Album endgültig zum weltweiten Erfolgsmodell machen.