Michael Köhler: Menschen sind mit Gedächtnis und Erinnerung ausgestattet. Ohne Gedächtnis könnten sie nicht leben. Ohne Erinnerung wären sie identitätslos. Es gibt aber auch ein nationales, kollektives Gedächtnis. In ihm werden Ereignisse auf- und abgeblendet, jeweils nach historischen Bedürfnissen. Die sind in der deutschen Nachkriegsgeschichte wechselvoll.
Die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat zusammen mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann, in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen bekommen. Sie haben gemeinsam wesentlich zum Thema Kultur und Gedächtnis geforscht.
Zuerst habe ich Aleida Assmann gefragt: Sie haben um 1989 verstärkt begonnen, zu diesem Thema zu publizieren. War das der Moment, in dem die soziale Verfassung des kulturellen Gedächtnisses in ihren Blick kam?
Aleida Assmann: Tatsächlich sind aber die großen historischen Einschnitte, auf die Sie jetzt anspielen, wie die Wende zum Beispiel, nicht auch immer zugleich die Ereignisse, wo sich etwas im Denken verändert. In diesem Fall waren es ganz wenige Jahre vorher, ich würde sagen, drei oder vier Jahre vorher, wo der wirkliche Schnitt passierte, für uns jedenfalls. Ich würde es mal datieren mit der Wiederkehr 40 Jahre Kriegsende und der Weizsäcker-Rede in Bonn. Das war die Rede, in der er die Deutschen sehr intensiv ansprach, und zwar in allen Segmenten der Gesellschaft auch erreichte, und ihnen beibrachte, wie sie über die anders zu denken hätten, nämlich dass sie sich jetzt nicht mehr im Modus des Besiegtseins befinden, sondern in dem der Befreiung. Und diese Rede war in der Tat auch eine Befreiung, aber sie war gekoppelt mit anderen Ereignissen, Turbulenzen. Drei Tage vorher, 5. Mai in Bitburg, trafen sich Kohl und Reagon und wollten einen Schlussstrich über ((unter)) diese Vergangenheit ziehen, was nicht passierte – aus vielen Gründen. Ein Jahr später wurde schon dieser Slogan geprägt, den wir immer noch heute kennen, fast jeder benutzt den, der heißt, "Die Vergangenheit, die nicht vergeht". Und das war ein Satz, der ging auf Ernst Nolte zurück und hat den sogenannten Historikerstreit ein Jahr später, 86, ausgelöst. Das waren nun Ereignisse, die haben sich überstürzt und waren für uns unglaublich wichtig, entscheidend, und die hatten etwas damit zu tun, dass wir uns fragten, was ist denn das für eine Vergangenheit, warum kommt die jetzt gerade wieder. Das war der Einstieg für uns in diese Frage.
Köhler: Frau Assmann, wie hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs diese Erinnerung, über die wir sprechen – sowohl die persönliche als auch die nationale, die individuelle und die kollektive – verändert, denn wir hatten ja eine lange Zeit des Verschweigens. Sie noch mehr als ich vielleicht, der 1961 geboren ist, sind ja mit diesen berühmten Geschichtslügen groß geworden: Einmal muss Schluss sein, es war nicht alles schlecht und davon haben wir nichts gewusst und wie die alle hießen. Und dann, mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess und so weiter, ging es ja erst los, verhältnismäßig spät. Was hat sich da geändert?
Langes Beschweigen
Assmann: Sie haben das genauso beschrieben, wie ich das auch erlebt habe, allerdings muss man natürlich immer lokale und besondere Unterschiede noch in Kauf nehmen oder mit einkalkulieren. Ich bin auf eine Schule gegangen, die von einem Opfer des 20. Juli gegründet wurde, da war natürlich die NS-Zeit permanent auf der Agenda, aber grundsätzlich war es tatsächlich die lange Phase des Beschweigens. Man hatte sich geeinigt, die braunen Biografien nicht mehr zu thematisieren, denn alle wollten sich – und das war ein Konsens – auf eine neue, bessere Zukunft einstellen. Die Zukunft konnte ja nur besser werden, insofern gab es starke Motivation. Aber es gab die Gegenstimmen. Sie haben die Auschwitz-Prozesse schon angesprochen, Fritz Bauer hat die 63 bis 65 dort organisiert in Frankfurt. Er war ein einsamer Kämpfer, und wenn er sagte, verlasse ich mein Büro, betrete ich feindliches Ausland. Er war auch nicht der Held der 68er-Bewegung, die haben sich damals darum noch nicht gekümmert. Sie haben zwar das Schweigen gebrochen in ihren Familien, aber sie haben nicht wirklich sich für die Opfer des Nationalsozialismus interessiert und eingesetzt und die ganze Judenverfolgung aufgearbeitet, wie sie es dann 20 Jahre später durchaus getan haben.
Köhler: Sie legen wert drauf, die Metaphorik der alten Raumbilder, also der Tafel, der Wachstafel, der Schiefertafel, des Magazins, des Archivs – wir könnten so weitermachen – zu erweitern, nämlich Ihnen ist, glaube ich, wichtig, das von der räumlichen auch in die zeitliche Dimension zu erweitern. Wie meinen Sie das?
Ruf der Vergangenheit
Assmann: Damit meine ich, dass nicht immer alles, was in der Vergangenheit hinter uns liegt und auch vor uns ist, dass wir das überschauen könnten. Es sind immer nur einige Brocken dieser Vergangenheit zugänglich, und das hängt davon ab – um es mal mit Walter Benjamin zu sagen, ob uns der Ruf aus der Vergangenheit erreicht. Er dachte damit an das Unerledigte und die Stimmen der Geknechteten und der Verlierer, in dem Fall natürlich auch der Opfer. Er ist heute eigentlich der wichtigste Denker, der uns daran erinnert, dass die Gegenwart sich nicht nur bedient an der Vergangenheit, indem sie immer wieder einen Sockel aufbaut mit allem, was uns größer und stärker und schöner und stolzer macht, sondern dass es auch so etwas gibt wie eine ethische Dimension des Erinnerns, und das ist die Frage, ob man diesen Ruf in der Gegenwart vernimmt. Das hat eben in Deutschland doch ziemlich lange gedauert, wie wir gerade gesagt haben, eigentlich vier Jahrzehnte, bis die jüdische Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg, nämlich auf den Holocaust – der Zweite Weltkrieg hat den Holocaust ermöglicht –, bis diese Perspektive wirklich freigelegt wurde.
Köhler: Kann es sein, dass wir in Deutschland so geschichtsversessen sind, also Holocaust-Mahnmal, Deutsches Historisches Museum, Haus der Geschichte der Bundesrepublik, Neue Wache, Gedenkstättenpolitik und so weiter und so weiter, weil wir so geschichtsvergessen waren?
Assmann: Ich würde sagen, da gab's noch ziemliche Kämpfe. Sie haben die Neue Wache erwähnt. Die Neue Wache ist für mich ein Denkmal, das einen Schlussstrich ziehen wollte. Das war der letzte Versuch der Adenauer-Politik, Geschichtspolitik, also da ist alles zu einem Ende zu bringen – zu einem Ende in einer ganz inklusiven Opferformel. Die heißt, und das steht dort so geschrieben: "den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft". Das ist eine unglaublich inklusive Opferformel, in der nicht nur alle deutschen Befindlichkeiten aufgehen, sondern auch noch die Opfer des NS und die Juden auch noch miteinbezogen sind. Und das heißt natürlich, es gibt überhaupt keine Täter mehr, es gibt gar keine spezifischen Umstände dieser Verfolgung und dieser Gewalt. Und tatsächlich hat diese Neue Wache dann auch den Anstoß für das Gegendenkmal, möchte ich mal sagen, das Holocaust-Denkmal gelegt, denn Kohl und Ignatz Bubis, damals Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Deutschland, der hat gesagt: Wenn du die Neue Wache bekommst, dann wird aber darauf als eine Antwort oder als eine Ergänzung, sagen wir mal, das Holocaust-Denkmal möglich.
Selektive Erinnerung
Köhler: Frau Assmann, mit Erinnerung und auch mit seiner Vermeidung, mit der Vermeidung von Erinnerung, wird Politik gemacht, Geschichtspolitik. Wir haben das schon erwähnt, vom Holocaust-Mahnmal über die Wache bis zur Einheitswippe. Nach Jahrzehnten doch vorbildlicher Erinnerungskultur vielleicht in Deutschland, die auch heftig diskutiert wurde – Sie haben gerade einige Dinge genannt –, weht jetzt doch in Teilen so ein gewisser geschichtsrevisionistischer Wind. Ich will jetzt nicht von der unsäglichen Rede vom Vogelschiss der NS-Zeit reden, aber könnte es sein, dass die Erinnerung immer wieder auch gefährdet ist?
Assmann: Ja, aber sie ist gerade eben durch diese Vogelschiss-Rede sehr gefährdet, und deswegen will ich sie auch noch mal aufgreifen. Also, die Vogelschiss-Rede ist ja in einer Kontinuität mit anderen Reden, etwa Björn Höcke, 180-Grad-Wende der deutschen Erinnerungskultur, und …
Köhler: Denkmal der Schande, davon sprach er.
Assmann: Ja, genau, das Denkmal der Schande, da sind wir an dem Begriff. Also die denken in den Kategorien Ehre und Schande. Die Ehre ist der Gegenbegriff. Zu Schande: Man muss all das kleinhalten, vernachlässigen, am besten auch vergessen, überspringen, was mit Schande zu tun haben könnte, und sich ausschließlich selektiv – ist Erinnerung immer –, ausschließlich nun auf Ehre konzentrieren und das, was einen nationalen Stolz ausmachen könnte. Und das ist tatsächlich nichts anderes als ein Sprung zurück ins 19. Jahrhundert. So hat im 19. Jahrhundert, im zweiten Kaiserreich zum Beispiel, auch die deutsche Geschichtspolitik funktioniert. Jede Nation, muss man hinzufügen, hat sich nur immer einen Sockel des Stolzes gebaut, wenn es darum ging, was erinnert man aus der Geschichte. Niederlagen hat man natürlich nicht ausgesucht. In diesem Sinne kann es eben keine Tätergeschichte mehr geben, wenn man dies unter dem Vorzeichen der Schande betrachtet. Schande ist das, was man vergessen muss. Und in diesem Sinne hatten schon in der Nachkriegszeit sich die Deutschen in Westdeutschland gewehrt gegen ein Begehen des 8. Mai, weil sie sagten, Niederlage und Schande verdienen keine Würdigung. Also man wollte diesen 8. Mai auch vergessen. Man war immer noch in diesem Modus der Schande begriffen, den Herr Walser dann auch noch mal aufgelegt hat. Aber es ist genau diese Gegenerinnerung, das alles unter das Vorzeichen der Schande zu stellen statt unter das Vorzeichen der Verantwortung. Und was die übersehen, ist, dass ja gerade in diesem Modus der Wiederaneignung dieser Geschichte, im Modus der Verantwortung die Deutschen überhaupt erst zu so etwas wie einer auch Anerkennung der anderen Staaten gekommen sind. Die Anerkennung der Deutschen hängt inzwischen sehr stark auch an dieser deutschen Erinnerungskultur.
Täter und Opfer nennen
Köhler: Wie sieht denn die Zukunft des Erinnerns aus? Könnte es sein, dass es ja manchmal auch – und das wissen wir aus der Psychoanalyse ganz gut –, dass wenn man vergisst, das hat es ja lange gegeben, nach dem 30-jährigen Krieg glaubte man, amnesia es substantia pacis, Vergessen sei die Grundlage jedes künftigen Friedens, das stimmt so nicht, das hat als Entschuldigungsformel gedient, und doch gibt es manchmal historische Momente, wo vielleicht eine Wahrheitskommission befriedender ist als alles andere, könnte das sein?
Assmann: Wenn Sie die Wahrheitskommission jetzt nennen, dann ist das ja eine Kommission, die erst mal erinnert, bevor man dann zum Vergessen übergeht. Schauen Sie, das ist genau der Punkt. Erst mal muss man sich der historischen Wahrheit stellen, und man muss auch die Opfer anerkennen und auch die Verbrechen nennen. Und erst, wenn die Täter, die Verbrechen und die Opfer genannt sind, dann kann eine Gesellschaft in der Tat und muss sie auch wieder zusammenfinden, denn es ist ja dieselbe Bevölkerung, die einer Gesellschaft zusammenlebt. Und diese Wunden und Spaltungen können nur heilen, wenn eine gemeinsame Geschichte dieser Vergangenheit gefunden wurde, die von allen anerkannt wird.
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