Die Absage des kanadischen Ministerpräsidenten Justin Trudeau sei keinesfalls ein Affront, erklärte Lambsdorff im Deutschlandfunk. Man könne ihm und seinen Experten nicht zumuten, über den Atlantik zu fliegen und freundliche Gespräche beim Kaffee zu führen, statt das zu erreichen, was sich alle vorgenommen hätten - nämlich nach sieben Jahren der Verhandlungen ein Abkommen zu unterzeichnen. Den Affront käme von der sozialdemokratischen Seite der Wallonie. Die Forderungen, noch einmal den gesamten Vertragstext zu öffnen, seien unrealistisch gewesen.
Ferner kritisierte der Vizepräsident des Europaparlaments das gesamte Verfahren der Verhandlungen. Die Europäische Union habe ihre Handlungsunfähigkeit gezeigt, weil 42 nationale und regionale Parlamente einem solchen Vertrag zustimmen müssen. Das Ergebnis all dessen sei die Blamage Europas.
Weil sich die Wallonie weigert, dem Freihandelsabkommen Ceta zuzustimmen, wurde die für heute geplante Unterzeichnung im Rahmen des EU-Kanada-Gipfels abgesagt.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Den Vertrag allein in Brüssel beraten zu wollen, das sei unglaublich töricht. So hat der deutsche Wirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel im Sommer gepoltert, als EU-Kommissionspräsident Juncker seine Einschätzung öffentlich gemacht hat, das umstrittene Freihandelsabkommen CETA falle allein in die Kompetenz der EU und die Parlamente der Mitgliedsländer, die müssten da gar nicht gefragt werden. Angesichts der breiten Empörung schwenkte die Kommission um und was man in der Europäischen Union davon hat, wenn man alle fragt, das lässt sich seit gut einer Woche ganz wunderbar studieren.
Mitgehört hat der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff. Schönen guten Morgen.
Alexander Graf Lambsdorff: Ja, guten Morgen.
Schulz: Jetzt haben die Wallonen ja seit dem Wochenende gesagt, immer schön mit der Ruhe, ein guter Zeitpunkt, CETA zu besiegeln, das wäre so das Jahresende. So wird es jetzt möglicherweise auch kommen. Was ist daran denn falsch?
Graf Lambsdorff: Na ja, falsch - es ist nicht die Frage, ob wir im Oktober oder Dezember die Unterschrift unter das Abkommen setzen. Falsch ist das gesamte Verfahren, mit dem die Europäische Union sich als internationaler Verhandlungspartner völlig unmöglich gemacht hat. Und da muss man ganz klar sagen, so wie Sie eben den Beitrag eingeleitet haben: Das Gepolter des Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel und seines französischen Kollegen Matthias Fekl, die haben hier maßgeblich dazu beigetragen, einen der wichtigsten Erfolge der europäischen Politik der letzten Jahrzehnte kaputt zu machen, nämlich die gemeinsame Handelspolitik. Wir sehen, was dabei herauskommt, und ich glaube, das ist wirklich etwas, wo sich alle noch einmal ganz ruhig hinsetzen müssen und überlegen, ob man so eine Europäische Union wirklich gestalten kann.
"Ich sehe hier nicht den Affront auf der kanadischen Seite"
Schulz: Das haben Sie ja auch schon kritisiert. Darauf würde ich auch gerne gleich noch mal kommen. Jetzt würde ich gerne noch mal bei dem spektakulären Akt aus der Nacht bleiben, bei der Absage Kanadas. Gestern Abend war ja noch der Stand, dass viele Einschätzungen so waren, das wird morgen wahrscheinlich noch nicht unterschriftsreif sein, aber als freundschaftliche Geste wird der kanadische Ministerpräsident möglicherweise doch kommen. Es gibt ja auch immer Themen zu besprechen zwischen Kanada und der EU. Ist das jetzt nicht eigentlich von kanadischer Seite auch durchaus ein Affront?
Graf Lambsdorff: Nein, das sehe ich nicht so. Ich meine, Sie muten dann dem kanadischen Premierminister und seinen Kabinettsmitgliedern, seinen Experten zu, über den Atlantik zu fliegen, nach Brüssel zu kommen, im Grunde dann für eine Reihe freundlicher Gespräche beim Kaffee, statt das zu erreichen, was alle sich vorgenommen haben, nach diesen siebenjährigen Verhandlungen jetzt ein maßgebliches, ein wichtiges Abkommen zu unterschreiben. Ich sehe hier nicht den Affront auf der kanadischen Seite; ich sehe ihn eher auf der sozialdemokratischen Seite. Wir dürfen nicht vergessen: Es handelt sich hierbei wirklich um ein in allererster Linie sozialdemokratisches Problem. Paul Magnette, der Premierminister der Wallonie, ist der Vorsitzende der Sozialdemokraten dort. Wir haben die wallonischen Sozialdemokraten auch im Europäischen Parlament. Ich habe gestern mit ihnen gesprochen und die Forderungen sind einfach so unrealistisch gewesen. Noch einmal den gesamten Vertragstext zu öffnen nach sieben Jahren Verhandlungen, das ist so unrealistisch, dass sogar die geduldigen Kanadier dann abgesagt haben, und ich glaube, das ist das, was da passiert ist. Ich kann das verstehen, was da in Kanada entschieden worden ist.
"Blockade der Wallonie ist antieuropäisch"
Schulz: Herr Lambsdorff, Sie stellen das jetzt so dar, als wäre das alles ganz klar, diese rechtlichen Einschätzungen, ob das ein gemischtes Abkommen war oder ein sogenanntes EU only Papier. Da sind die Abstimmungen und Einschätzungen ja durchaus von juristischen Feinheiten abhängig und auch nicht ganz so eindeutig. Jetzt hatten wir im Sommer die Situation, dass massenhaft die Menschen gegen CETA auf die Straßen gegangen sind, dass durch die Nachverhandlungen, die es gegeben hat, aus der Sicht vieler die Abkommen ja auch verbessert wurden. Kann man dieses Verfahren jetzt, auch diese Öffnung, dieses demokratische Zugeständnis, kann man das jetzt so in Bausch und Bogen verurteilen?
Graf Lambsdorff: Ich betrachte es einerseits vom Ergebnis her. Das haben wir jetzt gerade besprochen. Das Ergebnis ist natürlich die Blamage Europas, ein Affront gegen einen engen Verbündeten wie Kanada und die Demonstration der Handlungsunfähigkeit einer Europäischen Union, in der 42 regionale und nationale Parlamente einem solchen Abkommen zustimmen müssen. Die andere Frage, das ist die Frage nach dem gemischten Abkommen. Ich glaube, es gibt einige Punkte, die in der Tat die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten berühren. Die sind allerdings sehr, sehr spärlich. Das ist das eine. Und das zweite ist: Hier ging es ja zunächst einmal nur darum, den Teil des Abkommens vorläufig anzuwenden, der europäische Zuständigkeit ist. In diesem Stadium ging es noch gar nicht um die Dinge, die die Mitgliedsstaaten berühren. Hier ging es wirklich ausschließlich um die EU only Dinge bei der vorläufigen Anwendung. Das sagt ja übrigens auch der Vorsitzende des Handelsausschusses hier im Europäischen Parlament, Bernd Lange. Der sagt ganz klar, man kann alles diskutieren, aber diese Blockade der Wallonie jetzt, die ist antieuropäisch, und das, glaube ich, ist eine Feststellung, die ist einfach zutreffend.
Was die Demonstrationen angeht: Ich glaube, wir sollten ein bisschen unterscheiden zwischen denjenigen, die die Kampagne betreiben, und den Menschen, die durch die Kampagne verunsichert worden sind. Die Verunsicherung muss man ernst nehmen, aber die Kampagne hat zum Teil auch ganz deutlich auf Unwahrheiten gesetzt. Das muss man einfach auch so klar sagen.
"Demokratie muss organisiert sein"
Schulz: Wie glücklich ist es denn jetzt, auf dieses, was ja EU-weit praktiziert wird, Wallonen-Bashing jetzt aufzuspringen? Wir haben auch in Deutschland die Situation, dass das Bundesverfassungsgericht große Fragezeichen und Vorbehalte an die endgültige Fassung gemacht hat. So gesehen kommen aus Deutschland allermindestens genauso viele Unsicherheiten wie aus Belgien. Was bringt es da, eine Region, die auf ihre demokratischen Rechte pocht, so in die Ecke zu drängen?
Graf Lambsdorff: Das tue ich ja nicht. Es geht hier nicht darum, dass die Wallonie gebasht werden würde, wie Sie das gerade gesagt haben, sondern es geht am Beispiel Wallonie darum zu zeigen, dass eine Union von 28 Mitgliedsstaaten solche Abkommen nicht schließen kann, wenn tatsächlich auch noch regionale Parlamente befragt werden. Demokratie muss organisiert sein. Wir haben ein Mehr-Ebenen-System in Deutschland und in Europa. Wenn der Deutsche Bundestag eine Rentenreform verabschiedet, dann wird auch nicht der Gemeinderat von Biberach befragt, wie Kommissar Oettinger das gesagt hat, und trotzdem ist das demokratisch. Genauso wenn Landtage bildungspolitische Entscheidungen treffen, dann bleiben der Bundestag und das Europaparlament außen vor. Auch das ist demokratisch.
Wir haben eine demokratische Organisation, die in der Handelspolitik über Jahrzehnte erfolgreich diese Dinge europäische bearbeitet, diskutiert und entschieden hat. Ich halte es für völlig in Ordnung, dass man mit so einer Entscheidung dann nicht zufrieden ist, dass man auch demonstriert. Man kann bei der nächsten Europawahl sein Kreuz an anderer Stelle machen. Aber wenn wir anfangen, alle Ebenen bei allen Entscheidungen miteinander zu vermischen, dann lähmt sich die Politik insgesamt. Das ist nicht ein Bashing der Wallonie, sondern es ist die ernsthafte Frage danach, wie organisieren wir auf unserem Kontinent die Demokratie auf dem so wichtigen Feld der Handelspolitik.
Schulz: Sie sprechen von einer Blamage mit Blick auf diesen abgesagten Gipfel. Welche Perspektive sehen Sie jetzt für CETA? Wann wird es unter Dach und Fach sein?
Graf Lambsdorff: Nach meinen Gesprächen mit meinen wallonischen Kollegen gestern von den Sozialisten hoffe ich, dass die von der Palme, auf die sie geklettert sind, wieder herunterkommen und dass sie bereit sind, diese Auslegungsvereinbarung, die es ja gibt, die die Kommissarin Malmström mit ihnen ausgehandelt hat, die innerbelgisch diskutiert worden ist, dass sie bereit sind, die zu akzeptieren. Sie wird dann als rechtsverbindlich erklärt. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Versicherung, dass viele der wie gesagt unwahren Behauptungen einfach nicht stimmen, die von der Kampagne aufgestellt worden sind, und dass man dann im November oder Dezember dazu kommt, innerbelgisch die Sache soweit klarzuziehen, dass der Rat vor Jahresende noch unterschreiben kann.
Schulz: Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.