Der Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, 500 Milliarden für das Corona-Erholungsporogramm und den mehrjährigen Finanzrahmen bereitzustellen, sei notwendig gewesen, sagte der Alexander Graf Lambsdorff, Europapolitiker und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag, im Dlf. Doch dieser und das vorgeschlagene Paket der EU-Kommission mit 750 Milliarden Euro hätten viele Fragen offengelassen, sodass eine schnelle Einigung von vornherein nicht absehbar gewesen sei. Nun gehe es darum, die Kriterien für die Hilfsgelder so auszuverhandeln, dass alle 27 Mitgliedsstaaten zustimmen könnten.
Eines der wichtigsten Kriterien beim Corona-Hilfsfonds müsse sein, "das Gesundheitssystem wieder auf Vordermann zu bringen", sagte Graf Lambsdorff – vor allen Dingen in den am härtesten von der Pandemie betroffen Ländern Italien und Spanien. Zudem müsse Europa aus dieser Krise wirtschaftlich auch wieder herauswachsen. Wir stünden vor einem Herbst der Unternehmenspleiten, der Arbeitsplatzverluste und einer Wirtschafts- und Sozialkrise. "Da sind Wachstumsimpulse wirklich zentral, da geht es darum, dass in digitale Infrastruktur investiert wird, Umwandlung der Energieerzeugung im Sinne des Klimaschutzes unterstützt wird, Forschungsprojekte gefördert werden", so der FDP-Politiker, der auf eine langjährige Erfahrung im EU-Parlament zurückblickt.
Alexander Graf Lambsdorff weist auf mehrere Interessenkonflikte hin: Einen Nord-Süd-Gegensatz gebe es hinsichtlich der Frage, wie hoch der Anteil von Zuschüssen beziehungsweise der von Krediten sein soll. In der West-Ost-Achse gebe es das Problem der Rechtsstaatlichkeit: Der Westen wolle, dass die Auszahlung von Mitteln daran gebunden sei. Einen weiteren Gegensatz sieht er zwischen kleinen und großen Ländern: Bei der Wahl zum neuen Eurogruppenchef hätten sich die kleineren Länder zusammengetan und gegen die von den großen Ländern favorisierte spanische Kandidatin gewählt. Nun müsse also hart verhandelt werden – aber das gehöre in Europa dazu.
Das Interview im Wortlaut:
Stephan Detjen: Was entnehmen Sie den Nachrichten, die Sie von hier erreichen? Sehen Sie das als ein gutes Zeichen, weil immer noch geredet wird, oder als ein schlechtes, beunruhigendes Zeichen, weil man einfach nicht zusammenkommt?
Alexander Graf Lambsdorff: Ich sehe es eigentlich eher als ein gutes Zeichen, denn der Aufschlag, den die Kanzlerin und Präsident Macron gemacht haben in Berlin und Paris mit dem 500-Milliarden-Paket und dann das Paket der Kommission mit 750 Milliarden, diese beiden ließen so viele Fragen offen, dass vollkommen klar war, dass eine schnelle Einigung nicht erreichbar sein würde. Das ist in Brüssel so. Es geht um riesige Summen. Es geht um mehrere Jahre und wir haben jetzt durch die Corona-Pandemie noch eine Sondersituation dazu bekommen. Also, dass jetzt hier die Mitgliedstaaten versuchen, etwas auszuverhandeln, das dem Ganzen mehr Kontur verleiht, als es in den ursprünglichen Vorschlägen drin war, das halte ich für normal. Insofern, ich sehe da kein schlechtes Zeichen.
"Wichtig, dass Berlin und Paris endlich wieder man an einem Strang gezogen haben"
Detjen: Es klang jetzt fast so, als würden Sie diesen deutsch-französischen Kompromissvorschlag eher als ein Problem denn als einen Beitrag zur Lösung sehen. Ich habe gestern einen Kommentar geschrieben und gesagt, gerade dieser deutsch-französische Vorschlag sei eine der ganz wichtigen Voraussetzungen dafür gewesen, dass diese Verhandlungsdynamik überhaupt so in Gang kommen konnte. Lag ich da mit meinem Kommentar falsch?
Graf Lambsdorff: Nein, Herr Detjen, Sie lagen überhaupt nicht falsch. Es war richtig und es war überfällig, dass Deutschland und Frankreich, dass Berlin und Paris endlich wieder mal an einen Strang gezogen haben. Emmanuel Macron wartet ja noch immer auf eine Antwort aus Berlin auf seine große Sorbonne-Rede mit einem wirklichen Plan für die Zukunft Europas. Diese Antwort gibt es ja bis heute nicht, und dass es dann mal gelungen ist, sich zusammenzuraufen und zu sagen, wir haben einen so schweren Wirtschaftseinbruch, Europa muss was tun und Deutschland und Frankreich gehen gemeinsam voran, das war sicher richtig, aber das Programm selber oder der Plan selber ist eben relativ unkonturiert, setzt in erster Linie auf Zuschüsse, also auf Subventionen, die nicht wiederholbar sind. Die Kriterien waren ziemlich unklar. Es war unklar, warum diese Zahl, also 500 Milliarden, die Kommission hat ja dann noch mal 250 Milliarden draufgesattelt, also, all das war nicht klar und insofern es ist beides richtig. Ihr Kommentar ist insofern richtig, als dass es dieses Vorschlages bedurfte, aber es ist auch richtig, dass das Ganze ausverhandelt werden muss mit den anderen Staaten. Vergessen wir bitte eines nicht, wir haben 27 Mitgliedstaaten, und die müssen alle zustimmen am Ende, und da reicht es nicht, wenn Deutschland und Frankreich etwas tun. Das ist Voraussetzung, aber das ist nicht ausreichend.
"Mark Rutte in die Rolle des Buhmanns gedrängt"
Detjen: Einer der Mitgliedstaaten, wo die Hürden besonders hoch sind, weil auch die Mehrheit des Regierungschefs im Parlament, das ja dann auch ratifizieren muss, besonders knapp ist, sind die Niederlande. Der Ministerpräsident der Niederlanden, Mark Rutte, Ihr Parteifreund im Liberalen Parteienverband ALDE in Europa, wird hier als einer der Hauptblockierer bisher wahrgenommen. Wo sagen Sie, folgt er da rein niederländischen Interessen, dem innenpolitischen Kalkül, da die knappe Mehrheit mobilisieren zu müssen, und wo würden auch Sie sagen, da hat er den richtigen Punkt getroffen?
Graf Lambsdorff: Na, ich glaube, dass Mark Rutte hier ein bisschen in die Rolle des Buhmanns gedrängt wird von denjenigen, die sich große Hoffnungen auf viele, viele Zuschüsse aus diesem Paket machen, aber was er tut, ist, dass er hart verhandelt, und zwar aus einer durchaus niederländischen Perspektive, die aber der deutschen gar nicht so fremd ist. Also, die Niederländer sind bekannt für den sparsamen Umgang mit Steuergeldern. Übrigens Mark Rutte persönlich ist ein Beispiel an Sparsamkeit und nun ist es in einer solchen Wirtschaftskrise mit Sparsamkeit nicht getan. Das weiß jeder. Man muss jetzt Impulse setzen, aber dann kommt es Rutte eben in erster Linie auf die Qualität an, und er will eben nicht irgendwelche Prestigeprojekte von Lokalpolitikern in anderen Ländern fördern, sondern er möchte darauf achten, dass die Programme, die vorgelegt werden aus den Mitgliedstaaten, dass die wirklich gründlich geprüft werden und dass dann darüber abgestimmt wird. Die Einstimmigkeit, damit hatte er die Verhandlungen begonnen, die ist inzwischen vom Tisch, aber es gibt eine Mehrheitsentscheidung, die ist erforderlich im Rat der Wirtschafts- und Finanzminister, und in Einzelfällen kann auch ein einzelnes Land mal sagen, hier wollen wir noch genauer hingucken. Das ist das, was Ihre Kollegen der schreibenden Zunft die Supernotbremse genannt haben, also mit anderen Worten, ich sage mal, eine Hürde, die da zu nehmen ist, und die wird eine Wirkung haben. Das ist mir besonders wichtig, dass man das versteht. Es wird vermutlich selten zum Einsatz der Supernotbremse kommen, aber wenn die Mitgliedstaaten Programme auflegen, designen sozusagen, und Maßnahmen planen, dann werden sie im Hinterkopf haben, dass es diese Supernotbremse gibt und werden deswegen von vornherein darauf achten, dass es wirklich wettbewerbsfähigkeitsfördernde Maßnahmen sind, wirtschaftsbelebende Maßnahmen sind und nicht eben diese eben schon genannten Prestigeprojekte.
"Wir stehen vor einem Herbst der Unternehmenspleiten"
Detjen: Man muss das vielleicht noch mal erklären, weil es ja wirklich sehr kompliziert ist. Da geht es um diese Corona-Hilfen, diesem großen Hilfsfonds, der da aufgelegt werden soll und um die Frage: Muss der Rat da zustimmen? Oder kann er eben auch auf Anrufung einzelner Mitglieder dann noch mal involviert werden? Der Begriff Bremse, Notbremse, dann Supernotbremse, glaube ich, stammte aus den Kompromissvorschlägen, die der Ratspräsident Charles Michel jetzt wieder über die Nacht hin erarbeitet hat. Diese Kriterien, über die wir da sprechen, wie definiert man überhaupt Bedürftigkeit von europäischen Ländern? Was würden Sie da sagen, was sind da die entscheidenden und was sind die richtigen Kriterien dafür?
Graf Lambsdorff: Na ja, also, ich glaube, eines muss man sagen, das ist eine Krise, die ja alle Mitgliedstaaten getroffen hat und alle auch unverschuldet getroffen hat, aber sie hat sie unterschiedlich hart getroffen und am härtesten hat sie Italien und Spanien getroffen. Das ist vollkommen klar, und deswegen ist eines der Kriterien, glaube ich, natürlich die, ich sage mal, Tauglichmachung des Gesundheitssystems. Wir sind durch diese Pandemie nicht durch. Sie geht weiter. Die Weltgesundheitsorganisation meldet ja jeden Tag neue hohe Zahlen. Das heißt, das Gesundheitssystem auf Vordermann zu bringen, ist ganz sicher eine der Maßnahmen, die man darunter fassen könnte, was dieser Corona-Rettungsfonds leisten soll. Andere Dinge, da geht es um die Möglichkeit, der Wirtschaft zu ermöglichen zu wachsen, denn eines ist klar, wir müssen als Europa insgesamt, das ist eine sehr liberale Perspektive, das will ich gerne zugestehen, aber ich glaube, es ist wirklich die richtige Perspektive, Europa muss aus dieser Krise wirtschaftlich auch wieder herauswachsen. Wir stehen ja vor einem Herbst der Unternehmenspleiten, der Arbeitsplatzverluste. Wir stehen vor einer Wirtschafts- und einer Sozialkrise und ich glaube, dass da Wachstumsimpulse wirklich zentral sind. Da geht es dann eben darum, dass in die digitale Infrastruktur investiert wird, dass die Umwandlung unserer Energieerzeugung im Sinne des Klimaschutzes unterstützt wird, dass Forschungsprojekte gefördert werden. Das sind alles Dinge, um die es hier geht. Das sind Kriterien, bei denen ich ziemlich sicher bin, das Mark Rutte und die Niederländer sie auch so sehen würden, eben wie gesagt nicht die Autobahnabfahrt, die sich ein Lokalpolitiker schon immer gewünscht hat, sondern solche Dinge, die wirklich nachhaltig wirken und nachhaltig die Wirtschaft nach vorne bringen können.
"Ich glaube, durch den Brexit hat sich einiges verändert"
Detjen: Sie haben eben gesagt, Graf Lambsdorff, dass Deutschland da eigentlich immer eine gemeinsame Haltung mit den Niederlanden und Ihren liberalen Parteifreunden dort eingenommen hat. Ich habe manchmal den Eindruck, das ist schon fast europäische Geschichte aus den Zeiten der Euro- und der Finanzkrise. Da standen Deutschland, die Niederlande in der Tat auf der Seite derjenigen, die auf Haushaltsdisziplin gedrängt haben. Heute Morgen hat Mark Rutte erzählt, dass es gestern eine Situation gab beim Gipfel, wo Emmanuel Macron und Angela Merkel bei einem gemeinsamen Treffen, bei einem Seitentreffen mit Rutte, den Tisch verlassen hätten. Was hat sich da verändert?
Graf Lambsdorff: Na, ich glaube, dass sich durch den Brexit einiges verändert hat. Mark Rutte steht ja nicht alleine da. Er ist der Anführer einer Gruppe von Ländern, das sind die sogenannten Sparsamen Fünf. Das sind inzwischen fünf, weil Finnland auch hinzugekommen ist und diese Sparsamen Fünf wollen das Volumen der Zuschüsse und das Volumen der Kredite in ihrem Verhältnis verändern. Das heißt, die Sparsamen Fünf wollen, dass es weniger Zuschüsse gibt und mehr Kredite, und zwar haben die Skandinavier, interessanterweise alles drei sozialdemokratisch geführte Regierungen, sogar vorgeschlagen, das Niveau der Zuschüsse um über 50 Prozent zu reduzieren, und das war der Punkt, wo Frau Merkel und Herr Macron gesagt haben, da sehen sie keine Erfolgsaussichten und wohl das Gespräch dann verlassen haben. Das habe ich auch gehört, aber ich glaube, man darf eines nicht vergessen. Die Niederlande und Deutschland sind exzellente Partner, und wenn sich diese beiden Programme, also das Corona-Erholungsprogramm und der mehrjährige Finanzrahmen, qualitativ verbessern, wirtschaftspolitisch besser aufgestellt sind, dann wird, das muss man deutlich sagen, die Bundeskanzlerin es auch leichter haben, ihre eigene Fraktion im Deutschen Bundestag hinter sich zu bringen, hinter dem Programm zu versammeln. Denn auch aus der Union hört man ja Stimmen, die nicht damit einverstanden sind, dass das Geld einfach in Form von Subventionen und Zuschüssen für immer verloren ist.
Gruppenbildungen nach dem Brexit
Detjen: Sie haben das eben angedeutet, der Brexit ist ein entscheidendes Moment. Das sind jetzt die ersten Finanzverhandlungen, die der Europäische Rat führt, ohne dass Großbritannien mit dabei ist.
Graf Lambsdorff: Ja.
Detjen: Das verändert die Stellung Deutschlands im Kräfteparallelogramm der Europäischen Union. Schildern Sie uns noch mal aus Ihrer Sicht, wie sich dieser Brexit in dieser konkreten Situation jetzt auswirkt.
Graf Lambsdorff: Nun, Großbritannien ist ja ein Land, das für Freihandel steht, für Marktwirtschaft steht, für Wettbewerb, für freien Wettbewerb steht, und es hat leider die Europäische Union verlassen und die Länder, die diesem Denken nahe sind, und in erster Linie sind es die Niederlande, aber auch das, was man die Hanse nennt, also eine Gruppe von nordischen Ländern, die sich den Niederlanden da angeschlossen haben, Irland gehört übrigens auch dazu, die genau diese Art von Wirtschaft in der Europäischen Union für stark und für richtig halten, empirisch kann man das auch belegen. Also, diese Länder sind im Schnitt erheblich erfolgreicher als die Länder des Südens. Von daher glaube ich, dass Mark Rutte jetzt mit diesen skandinavischen Freunden, aber interessanterweise eben auch mit Sebastian Kurz aus Österreich, diesen Ausfall Großbritanniens kompensiert. Während Deutschland sich durch diesen 500-Milliarden-Vorschlag in Richtung Frankreich bewegt hat, gehen diese fünf Länder hin und sagen, wir ersetzen Großbritannien mit seinem marktwirtschaftlichen Ansatz jetzt in den Verhandlungen in der Europäischen Union. Nur so ist ja zu erklären, dass der Regierungschef eines ja vergleichsweisen kleinen Landes wie die Niederlande eine so prominente Stellung bei diesem Rat hat.
Neuer Gegensatz Klein gegen Groß
Detjen: Diese Gruppenbildung spiegelt ja eigentlich den alten Gegensatz, der Europa geprägt hat, in den früheren Krisen, nämlich als ein Nord-Süd-Gegensatz. Das haben Sie eben auch mit dem Hinweis auf die südlichen Länder noch mal angedeutet. Mein Eindruck hier ist, dass der prägende Gegensatz in Europa eigentlich gar nicht mehr Nord-Süd, sondern West-Ost ist.
Graf Lambsdorff: Es gibt mehrere Gegensätze. Der Nord-Süd-Gegensatz ist einer. Der Ost-West-Gegensatz ist besonders das Problem Rechtsstaatlichkeit. Also, wir wollen ja, genau wie das Europäische Parlament, auch, dass die Auszahlung von Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards gebunden wird. Das ist etwas, wogegen sich Ungarn und Polen ja aus verständlichen, aber falschen Gründen wehren. Es gibt einen weiteren Gegensatz, Herr Detjen, der vor zehn Tagen aufgebrochen ist. Das ist der Gegensatz klein gegen groß. Die Euro-Gruppe musste sich einen neuen Vorsitzenden wählen und alle großen Nationen haben die spanische Finanzministerin Calviño unterstützt und was passiert ist, ist, dass sich die Kleinen zusammengetan haben und den irischen Finanzminister Donohoe gewählt haben, und dieser Gegensatz, der zeigt sich in gewisser Weise jetzt auch bei diesem Rat. Ich bin in Kontakt mit unseren Parteifreunden in Finnland, die dort an der Regierung beteiligt sind, und die sagen uns ganz offen, wir fühlen uns von Deutschland nicht wahrgenommen und schon gar nicht für voll genommen. Das ist natürlich, ich sage mal, Europapolitik, wie sie eigentlich nicht sein sollte. Das haben Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl immer anders gemacht. Sie haben sich immer um die kleinen Länder gekümmert, und dieser Gegensatz spielt jetzt hier auch eine Rolle, denn die Sparsamen Fünf, das sind alles kleine Länder.
"Konzessionen zu Lasten des Gemeinschaftsinteresses"
Detjen: Wenn Sie das so schildern, da bilden sich eigentlich immer neue Fraktionierungen und Bruchlinien mitten durch Europa. Ist das ein beunruhigender Befund? Sind das Symptome eines Zerfallsprozesses?
Graf Lambsdorff: Das will ich nicht hoffen. Also, harte Verhandlungen gehören zur Europäischen Union dazu, aber mir macht eines Sorge, und da bin ich wirklich, ja, etwas nervös, und zwar ist das Folgendes: Wenn verhandelt wird, dann werden mal natürlich auch Konzessionen gemacht. Ein Land kriegt einen Zuschuss hier, einen Zuschuss dort. Das große Problem ist, dass, wenn der Rat verhandelt, also ausschließlich die Mitgliedstaaten, diese Zuschüsse, diese Konzessionen immer zu Lasten des echten Gemeinschaftsinteresses gehen, also des gemeinsamen europäischen Interesses, beispielsweise unsere Handlungsfähigkeit in der Außenpolitik oder ein verbesserter Grenzschutz oder die Forschungsförderung von der europäischen Ebene. Also, das sind alles Dinge, bei denen die Mitgliedstaaten gerne bereit sind zuzugreifen, wenn es darum geht, sich gegenseitig zufriedenzustellen, aber das gesamteuropäische Interesse, das kommt da etwas unter die Räder. Und deswegen glaube ich, dass wir nach diesem Gipfel angesichts der Fraktionierungen, die es zurzeit gibt, und angesichts aber auch dieses enorm komplizierten globalen Umfeldes, in dem sich die Europäische Union bewegt, da müssen wir noch mal ran. Da müssen wir neue Ideen entwickeln, wie man das vermeiden kann.
Detjen: Aber dieser Befund, dass da auch es an gemeinsamen Interessen mangelt, der stellt sich doch ganz besonders mit Blick auf die osteuropäischen Länder. Wenn man sich das anschaut: Die Regierungschefs der Visegrád-Staaten, Orbán aus Ungarn, Morawiecki aus Polen, Babiš aus Tschechien, die erklären hier ja ziemlich unverhohlen, dass sie zwar viel Geld aus dem Corona-Hilfsfonds wollen, aber dass sie ansonsten von der gemeinsamen Agenda, die damit verbunden werden soll - Rechtsstaatlichkeit, Green Deal auch, Klimaschutz, Digitalstrategie - dass sie da eigentlich zu gar nichts verpflichtet werden wollen.
Graf Lambsdorff: Ja, der Kabarettist Werner Schneyder hat, glaube ich, mal gesagt, dass Europa aus Staaten besteht, die sich weigern, sich an das zu halten, was sie selber beschlossen haben und manchmal haben Äußerungen, das muss man leider so hart sagen, insbesondere aus Budapest und Warschau, einen Charakter, der den Kabarettisten Schneyder geradezu zu belegen scheint. Ich glaube, dass das noch ein Punkt ist für die heutigen Verhandlungen. Heute, am Sonntag, soll ja über das Thema Rechtsstaatlichkeit gesprochen werden. Charles Michel, der Ratspräsident, hat deutlich gemacht, dass er viele Ausgaben aus diesen beiden Töpfen, also sowohl Haushalt als auch insbesondere Corona, an Klima sozusagen binden will, dass die keine klimaschädlichen Auswirkungen haben, idealerweise sogar den Klimaschutz noch befördern. Das werden Gespräche sein, die heute laufen, insofern dass die Positionen der Visegrád-Staaten an der Stelle jetzt noch hart sind, überrascht mich nicht. Das Thema war noch nicht auf dem Tisch. Ich hoffe, dass sich das im Laufe des heutigen Verhandlungstages ändert.
"Es geht eigentlich um einen Aufbruch in eine digitale innovative Zukunft"
Die Mitgliedstaaten müssten beim EU-Gipfel ein klares Signal setzen, forderte Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, im Dlf: Dass Europa es schafft, gemeinsam und solidarisch aus der Coronakrise zu kommen. Letztlich gehe es nicht nur um den Wiederaufbau, sondern um die Zukunft der Union.
Die Mitgliedstaaten müssten beim EU-Gipfel ein klares Signal setzen, forderte Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, im Dlf: Dass Europa es schafft, gemeinsam und solidarisch aus der Coronakrise zu kommen. Letztlich gehe es nicht nur um den Wiederaufbau, sondern um die Zukunft der Union.
Ungarn keine "vollwertige Demokratie" mehr
Detjen: Eine dieser osteuropäischen Hardliner, wenn man das so nennen will, ist auch ein Parteifreund von Ihnen im Liberalen Parteienverband ALDE, nämlich der Ministerpräsident aus Tschechien, Babiš, der immer wieder mit dem Themen Filz als Großunternehmer und mit Korruption in Verbindung gebracht wird. Was verbindet Sie miteinander?
Graf Lambsdorff: Ja, die tschechische Parteienlandschaft, die innenpolitisch tschechische Parteienlandschaft ist hochkompliziert und er steht einer ganz jungen Bewegung vor, die heißt ANO, also Jahr, und ist ein Zusammenschluss von Politikern, die vielfach auch schon in anderen Parteien aktiv waren, aber die zum Teil auch neu dazugestoßen sind und die eigentlich, sagen wir mal, eine Politik verfolgen, was die Wirtschaftspolitik angeht, bei der wir völlig einverstanden sind. Die Sache mit den Vorwürfen, die ihm gemacht werden, da gibt es keine belastbaren Ergebnisse. Es gibt immer wieder Vorwürfe, aber er ist ein Großunternehmer. Er ist enorm erfolgreich. Er ist auch im deutschen Markt enorm erfolgreich mit Lebensmitteln und ist von daher natürlich auch Bezieher, ähnlich wie früher der Prince of Wales, von europäischen Subventionen. Daraus hat man ihm Vorwürfe gemacht. Ich kann die im Einzelnen nicht bewerten, aber was mir wichtig ist, ist Folgendes…
Detjen: Entschuldigung, wenn ich da einhake. Müssten Sie die nicht bewerten? Denn das sind ja Fragen, mit denen ist nicht nur die liberale Parteienfamilie konfrontiert, die christdemokratische Parteienfamilie in der Europäischen Volkspartei muss sich mit Viktor Orbán auseinandersetzen, hat ihn immerhin suspendiert von ihrer Mitgliedschaft. Also, da müssen doch auch mal klare Linien gezogen werden.
Graf Lambsdorff: Ja, aber Herr Detjen, das tun wir ja auch. Wir haben ja gerade eine rumänische Mitgliedspartei ausgeschlossen, und bei Viktor Orbán reden wir von einer völlig anderen Qualität. Bei Viktor Orbán reden wir davon, dass die Freiheit der akademischen Lehre, dass die Pressefreiheit, dass die Unabhängigkeit der Justiz, dass sogar die Rolle des Parlaments jetzt in der Corona-Krise, dass all diese Dinge seit vielen Jahren massiv unter die Räder geraten sind. Wir können also in Ungarn inzwischen schon gar nicht von einer vollwertigen Demokratie reden, weil das System inzwischen so, so abgeändert worden ist, dass ein parteipolitischer Gegner von Viktor Orbán praktisch keine faire Chance mehr hat, an die Macht zu kommen. Das ist in Tschechien völlig anders. Die Vorwürfe sind im Raum. Ich will Ihnen da gar nicht widersprechen, nur ich kann beim besten Willen nicht bewerten, was an diesen Vorwürfen jetzt im Einzelnen dran ist. Da geht es um Subventionen, die in den vergangenen Jahren geflossen sind. Wie gesagt, er ist Großunternehmer. Er hatte ein Recht auf diese Subventionen. Die Frage ist, ob er das Recht auch noch hatte, als er politisch aktiv wurde. Wir werden das bewerten. Wir sind auch mit den Parteifreunden in Prag im Gespräch. Das sind alles Dinge, die sind schwierig, aber wir sind völlig da offen und stellen uns auch diesen Diskussionen.
"An Italiens Wohlergehen haben wir ein riesiges Interesse"
Detjen: Sie haben Italien schon eben erwähnt als ein Land, das besonders wirtschaftlich auch von der Corona-Krise getroffen wird. Italien, manche haben das ja gar nicht mehr im Bewusstsein, ist nach dem Brexit der drittgrößte Nettozahler immerhin jetzt in der Europäischen Union, aber wirtschaftlich eben schwer angeschlagen. Welche Sorgen machen Sie sich da? Wie groß sind Ihre Sorgen mit Blick auf Italien.
Graf Lambsdorff: Ich bin sehr froh, Herr Detjen, dass Sie das mal sagen, weil das wird in Deutschland so oft vergessen. Italien ist Nettozahler. Ich glaube, wenn man eine Umfrage machen würden, würden die meisten vermuten, dass es anders herum sei. Also, Italien hat gerade im Norden ja eine leistungsfähige Wirtschaft, aber die sind natürlich durch die Krise auch im Norden, wir erinnern uns an die schrecklichen Bilder aus Bergamo, enorm hart getroffen worden und ich glaube, dass Italien das Land ist, an dessen Wohlergehen wir ein riesiges Interesse haben. Wir verkaufen dorthin Produkte, wir beziehen von dort Produkte. Italien ist traditionell ein enger Freund, gleichzeitig nicht immer ein leichter Partner, und meine Sorge, dass die italienische Wirtschaft in so ernste Mitleidenschaft gerät, dass beispielsweise ein Matteo Salvini wieder Wahlerfolge feiern kann, die ist schon groß und deswegen sagen wir auch als Freie Demokraten, wir stehen zu diesem Hilfspaket, zu diesem Corona-Hilfspaket, auch wenn das viel Geld ist, auch wenn das viel Steuergeld ist. Wir stehen dazu, wir wollen nur eben das, was eben Mark Rutte und die Sparsamen Fünf auch wollen, wir wollen uns besser strukturieren und konturieren, damit nachhaltig investiert wird, denn am Ende des Tages ist auch das das Einzige, wovon Italien etwas haben wird, wie gesagt, nicht von Prestigeprojekten, sondern von nachhaltigem Wirtschaftswachstum.
"Wir sind sehr gut durch diese Krise gekommen"
Detjen: Gesundheitssysteme haben Sie eben schon angesprochen, das ist natürlich die zentrale Lehre aus den Erfahrungen von Corona. Da soll jetzt auch Geld fließen. Gesundheitssysteme waren in den letzten Jahren in vielen Ländern unter hohem Spardruck. Auch liberale Parteien haben sich immer wieder für den Umbau von Gesundheitssystemen eingesetzt. Jetzt weht der Wind eigentlich aus einer anderen Richtung. Die Rolle des Staates im Sozialen, im Gesundheitssystem wird wieder neu geschätzt. Das ist eigentlich keine Konjunktur für klassische liberale Ideen, oder?
Graf Lambsdorff: Da würde ich Ihnen aber wirklich direkt widersprechen. Schauen Sie, wir haben in Deutschland ein gemischtes System aus privater Finanzierung und öffentlicher Finanzierung, und wir sind sehr gut durch diese Krise gekommen. Wenn Sie sich Großbritannien anschauen mit seinem vollständig staatlichen Gesundheitssystem, dann sehen Sie ein völlig anderes Bild. Also, ich glaube nicht, dass die Art der Finanzierung etwas damit zu tun hat, wie erfolgreich ein Gesundheitssystem ist, sondern es ist das Management, es ist der Qualitätsanspruch, es ist die Forschungsintensität, es ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung, auch im ländlichen Raum. Das sind alles Fragen, die eine Rolle spielen, aber die Art und Weise, wie ein Gesundheitssystem finanziert wird, ist kein direkter Indikator für seine Qualität. Ich glaube, das hat diese Krise besonders deutlich gemacht.
Detjen: Letzte Frage, Graf Lambsdorff, noch einmal mit Blick auf die Haushaltsverhandlung hier in Brüssel zur Zeit. Am Ende müssen dann auch nationale Parlamente noch mal zustimmen. Die Haushaltsregeln, die Eigenmittelbeschlüsse, die sogenannten Eigenmittelbeschlüsse müssen von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Wie groß sind die Hürden, die, wenn es hier mal zu einer Einigung in Brüssel kommt, dann da noch liegen, auch im Europäischen Parlament, das ja auch zustimmen muss?
Graf Lambsdorff: Ja, das Europäische Parlament wird insbesondere im Punkt der Rechtsstaatlichkeit sehr genau prüfen, denn das ist eine der Kernforderungen aus der Resolution des Europäischen Parlaments gewesen, dass eine Zustimmung eben nur dann erfolgen wird, wenn eine hinreichende Gewähr dafür gegeben ist, dass die rechtsstaatlichen Kriterien eingehalten werden. Was die nationalen Parlamente angeht, so ist das ein Teil der Erklärung für das, was wir da an Geschenken, Rabatten und Konzessionen zurzeit sehen in Brüssel. Da wird es sehr stark auf die jeweiligen Regierungsmehrheiten ankommen. Ich glaube, dass beispielsweise in den Niederlanden Mark Rutte gar nicht so große Schwierigkeiten hat, weil die Mitte-Links-Opposition dort auch bereit sein wird, zuzustimmen. Wie das in den anderen Ländern sich abspielen wird, das sind 27, das würde jetzt zu weit führen. Im einen oder anderen mag es Probleme geben, aber ich rechne eigentlich damit, dass wenn es eine Einigung gibt, die größte Hürde das Europäische Parlament ist, wenn es nicht gelingt, die Rechtsstaatlichkeit so zu verankern, wie es aus liberaler, aber auch aus europäischer Sicht wirklich zwingend ist.