Auf dem EU-Sondergipfel in Brüssel sind die Kernthemen fast alle außenpolitischer Natur. Es geht um den Gasstreit zwischen der Türkei und Zypern, in dem Zypern von der EU nun Sanktionen gegen die Türkei fordert - sonst will das Land Sanktionen gegen Belarus nicht zustimmen. Genau über die wird in Brüssel auch gesprochen, sowie über den Konflikt in Bergkarabach.
Einen Konsens zu finden, ist zurzeit schwierig, denn viele Mitgliedsländer wollen nur sehr ungern auf ihre nationalstaatliche Kernkompetenz verzichten. Zudem gilt bei außenpolitischen Entscheidungen das Einstimmigkeitsprinzip, was eine Konsensfindung nicht erleichtert.
Der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff plädiert darum für ein Mehrstimmigkeitsrecht und hält es für elementar wichtig, dass die EU in diesem Bereich handlungsfähiger wird. Er befürchtet in der Zukunft einen Großkonflikt zwischen den USA und China und in dem müsse "Europa seine eigenen Interessen, seine Werte, seine Art zu leben schützen und verteidigen".
Jörg Münchenberg: Herr Lambsdorff, fangen wir mit dem zentralen Thema gleich an: die aufgeschobenen Sanktionen gegen Belarus, weil Zypern im Gegenzug Sanktionen gegen die Türkei haben will wegen des Gasstreits. Klassisches europäisches Erpressungsmanöver, eigentlich nichts Ungewöhnliches. Warum tut sich die EU jetzt trotzdem so schwer, hier einen Kompromiss zu finden?
Alexander Graf Lambsdorff: Ich kann Ihnen das nicht genau sagen. Aber eines ist klar: Das, was Zypern da tut, ist natürlich die Verknüpfung von zwei Großthemen miteinander in einer Art und Weise, die geeignet ist, wirklich erstens die Europäische Union zu lähmen – das haben wir eben schon im Vorbericht gehört -, und zweitens die Frage nach der Zukunft der europäischen Außenpolitik insgesamt aufzuwerfen. Sie haben eben Charles Michel zitiert, der sagte, einige Mitgliedsstaaten könnten sich eventuell nicht mehr wichtig fühlen, wenn wir das Einstimmigkeitsprinzip aufgäben in der Europäischen Union. Das Problem ist aber, dass jeder Mitgliedsstaat, auch Zypern, ein Veto hat und es dann so nutzen kann, wie wir das gerade sehen. Was Zypern hier antreibt, ist, glaube ich, eine harte Haltung gegenüber der Türkei zum einen; zum anderen ein subjektives Bedrohungsgefühl, vielleicht auch objektiv gerechtfertigt, durch die türkischen Manöver im östlichen Mittelmeer. Aber dahinter liegt – und deswegen habe ich am Anfang gesagt, ganz genau kann ich es Ihnen nicht sagen – vermutlich auch eine sehr enge Beziehung zu Russland, die vielleicht eine Rolle spielt. Das ist ein bisschen Spekulation, aber wir wissen, dass Zypern diese Beziehungen zu Russland immer auch in schwierigen Zeiten sehr offen gehalten hat für russisches Geld und für russische Touristen.
"Verhältnis zur Türkei ist ein völlig anderes als das zu Belarus"
Münchenberg: Auf das Einstimmigkeitsprinzip kommen wir gleich noch mal zu sprechen. Bleiben wir kurz bei dem Fall Zypern. Die Zyprioten sagen ja, die Türkei hat die Bohrschiffe zwar vor der griechischen Küste abgezogen, nicht aber vor der eigenen. Warum soll man jetzt gegenüber Belarus konsequent sein, was Sanktionen betrifft, aber nicht gegenüber der Türkei? Da hat doch Zypern doch eigentlich auch einen nachvollziehbaren Standpunkt.
Graf Lambsdorff: Das ist ein klassisches Argument, das Sie in außenpolitischen Diskussionen immer wieder hören. Es werden zwei Fälle miteinander gleichgesetzt, die im Kern aber ungleich sind. Die Situation, die Herausforderung durch Belarus, auch die Verhältnisse zu Belarus sind völlig andere als die Situation der Herausforderung und das Verhältnis der Europäischen Union zur Türkei. Man kann die Türkei mit Fug und Recht kritisieren und Sie wissen aus der Zeit in Brüssel, ich habe das im Namen meiner Liberalen-Fraktion damals auch immer wieder getan. Aber dass das Verhältnis der Europäischen Union zur Türkei ein völlig anderes ist als das zu Belarus, das liegt auf der Hand, und deswegen ist dieser Anspruch Zyperns, beide exakt gleich zu behandeln, einfach der Versuch, Äpfel und Birnen hier miteinander zu vergleichen, und das kann nicht funktionieren.
Lambsdorff: Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind "totgeritten"
Münchenberg: Dann kommen wir mal auf die Türkei zu sprechen, ein schwieriger Partner. Das haben Sie gesagt. Es gibt ja zahlreiche außenpolitische Konflikte, verbale Scharmützel, auch zwischen der Nato und der Türkei, der Rechtsstaat steht ja massiv unter Druck, Aktivisten werden willkürlich verhaftet. Trotzdem: Warum ist das Land dann offiziell noch immer Beitrittskandidat?
Graf Lambsdorff: Das ist eine gute Frage, Herr Münchenberg. Ich habe namens der Freien Demokraten, auch namens der europäischen Liberalen über Jahre im Europäischen Parlament als Berichterstatter für die Türkei auch in Gesprächen mit türkischen Freunden gesagt, es wird keinen Beitritt geben. Frankreich ist streng dagegen. Es gibt in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union keine Mehrheit in der Bevölkerung. Es gibt keine demokratische Unterstützung dafür. Es wäre viel sinnvoller, anstatt einen wirklich inzwischen totgerittenen Beitrittsprozess mühsam am Leben zu erhalten, diesen zu beenden und Verhandlungen aufzunehmen über einen Nachbarschafts-, einen Grundlagenvertrag, in dem man genau ausbuchstabiert, wo man kooperiert und wo das nicht geht.
"Union möchte Verhandlungen fortsetzen und lehnt Beitritt ab"
Münchenberg: Herr Lambsdorff, lassen Sie mich da kurz einhaken. Auch die Türkei wiederum hat ja bislang ihr Beitrittsgesuch nicht zurückgezogen. Steckt hinter der Vorsicht der Europäer nicht am Ende doch die Sorge, dass die Türkei dann bei einem klaren Schnitt in Sachen Beitritt den Flüchtlingspakt auch kappen könnte?
Graf Lambsdorff: Ja, das ist ein aktuelles Thema, das wir seit einigen Jahren haben. Aber die Frage des Türkei-Beitritts geht ja schon viel weiter zurück, und dieser Beitritt war im Grunde von vornherein ein Manöver, das sehr stark von Washington befördert worden ist, sehr stark von London befördert worden ist, inzwischen ja keine Hauptstadt mehr, die der Europäischen Union angehört. Ich glaube deswegen, es wäre wirklich sinnvoll, es anders zu tun.
Warum ist das bisher nicht geschehen? – Es gibt einzelne Mitgliedsstaaten, die die Verhandlungen aufrecht erhalten wollen. Es gibt bei uns in Deutschland eine lebhafte Debatte darüber mit klaren Positionen eigentlich nur bei den Grünen und bei uns. Die Grünen klar weiter für den Beitritt, wir als Freie Demokraten klar dagegen. Die Union möchte die Verhandlungen fortsetzen und lehnt den Beitritt ab. Das ist schwer zu erklären, wie man zu einer solchen Position kommen kann, aber sie ist vielleicht in gewisser Weise repräsentativ für diese, ich will es mal "Schizophrenie" nennen, was die Haltung der Europäischen Union zur Türkei angeht.
Lambsdorff: Rückkehr zum Mehrstimmigkeitsprinzip sinnvoll
Münchenberg: Würde es vielleicht helfen, das Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik aufzugeben und zum Mehrstimmigkeitsprinzip zu gehen, um hier auch mehr Bewegung wieder in die europäische Außenpolitik und vielleicht auch mehr Schlagkraft zu bringen?
Graf Lambsdorff: Definitiv ja. Das ist vollkommen klar. Wir sehen es im Fall Zypern jetzt gerade. Wir sehen es auch darin, dass es nicht gelingen kann, hier die Verhandlungen mit der Türkei zu überführen in anders geartete Verhandlungen. Wir sehen es bei einer Reihe von anderen Fragen, wenn beispielsweise Ungarn Resolutionen der Europäischen Union blockiert, mit denen Menschenrechtsverletzungen in China kritisiert werden sollen. Wir haben die Situation gehabt, dass die Populisten in Italien regiert haben und eine Verurteilung der Verhältnisse in Venezuela blockiert haben. Das sind alles Dinge, die uns als Europäer schwach erscheinen lassen, und ich will das hier deutlich sagen: Das ist nicht Kleinkram, das ist nicht institutionelle Glasperlenspielerei, sondern wir leben im 21. Jahrhundert, in dem wir vermutlich auf einen Großkonflikt zwischen den USA und China hinauslaufen, in dem Europa seine eigenen Interessen, seine Werte, seine Art zu leben schützen und verteidigen muss. Deswegen ist die Frage der außenpolitischen Handlungsfähigkeit eine wirklich ganz zentrale für unsere Zukunft.
Münchenberg: Herr Lambsdorff, Sie haben Polen und Ungarn schon angesprochen. Die scheren sich herzlich wenig an der Kritik, wie sie mit dem Rechtsstaat und den freien Medien umgehen. Nun gab es gestern ja einen Kompromiss der deutschen Ratspräsidentschaft für einen Rechtsstaatsmechanismus. Da geht es um die Koppelung der Finanzmittel an die Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien. Jetzt hat Deutschland vorgeschlagen, dass nur in ganz ausgewählten Fällen Sanktionen möglich sind. Wie schätzen Sie diesen deutschen Vorschlag ein?
Graf Lambsdorff: Er hat den Namen Rechtsstaatsmechanismus jedenfalls nicht mehr verdient. Wenn man ihn noch so nennen würde, wäre das ein Etikettenschwindel. Das tut die Bundesregierung, hat sie auch gestern im Bundestag getan. Aber wenn man mal überlegt, was macht Rechtsstaat aus, die Unabhängigkeit der Gerichte, den Zugang für alle zum Rechtsweg und die Chance auf ein faires Verfahren, auch die Möglichkeit, das Handeln staatlicher Stellen vor Gericht überprüfen zu lassen, das macht den Rechtsstaat aus. Das ist alles gestrichen worden und ersetzt worden durch eine weiche Formulierung, bei der es hauptsächlich darum geht, ob ganz konkrete Zahlungen korrekt abgewickelt worden sind.
"Im Rat der Außenminister hatten Polen und Ungarn keine Mehrheit"
Münchenberg: Auf der anderen Seite, Herr Lambsdorff, drohen ja Ungarn und Polen damit, die Auszahlung von Corona-Hilfen zu blockieren, wenn man ihnen zu harsch ans Leder geht. Zwingt das nicht zum Kompromiss?
Graf Lambsdorff: Ich habe überhaupt nichts gegen Kompromisse, aber ein Kompromiss sollte doch den Kern dessen bewahren, worum es hier geht. Natürlich kann man an der einen oder anderen Stelle sich auch bewegen. Aber das Thema ist doch, dass wir zum einen die Situation haben, dass jedenfalls im Rat der Außenminister Polen und Ungarn keine Mehrheit hatten, überstimmt worden sind, und zum zweiten sich ja selbst ins eigene Fleisch schneiden würden. Denn Polen und Ungarn, so verrückt das klingt, sind die beiden größten Empfänger der Zahlungen aus dem EU-Haushalt. Wenn die wirklich hingingen und den EU-Haushalt blockierten, würden sie sich selber massiv schaden. Und vergessen wir eines nicht: Wenn es nicht gelingt, das zu beschließen, dann gilt, ähnlich wie im nationalen Recht, die Zwölftel-Regelung. Man würde weitermachen mit einer Regelung, dass pro Monat ein Zwölftel des Vorjahres-Budgets ausgegeben wird. Die Europäische Union kommt hier nicht zum totalen Stillstand, wenn es nicht gelingt, rechtzeitig hier diese Entscheidung zu treffen.
"Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft"
Münchenberg: Wir haben nicht mehr viel Zeit. Trotzdem noch zum Schluss die Frage: Die ständigen Verstöße in Ungarn und Polen gegen europäische Prinzipien, wie lange kann das die EU noch aushalten? Oder vielleicht zugespitzter gefragt: Könnte sie an dieser Frage auch zerbrechen?
Graf Lambsdorff: Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Sie muss auch eine Wertegemeinschaft sein. Das macht sie attraktiv. Ich habe es eben gesagt: Unsere europäische Art zu leben, ist ja wertegeprägt. Ich fand bemerkenswert, dass der niederländische liberale Premierminister Mark Rutte in seinem Parlament mal den Gedanken hatte, die Europäische Union notfalls neu zu gründen, ohne Ungarn und Polen. Das kann man sich nicht wünschen, aber man sieht, dass auch in anderen Ländern darüber nachgedacht wird, hier zum Teil auch deutliche Signale zu senden und vielleicht auch weitergehende Schritte ins Auge zu fassen, als wir das im Moment in den Institutionen tun können.
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