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Alexander Häusser: "Noch alle Zeit"
Vatersuche in Norwegen

Der in Hamburg lebende Schriftsteller Alexander Häusser hat mit "Noch alle Zeit" seinen vierten Roman vorgelegt. Er ist ein Roadmovie, der nach Norwegen und in die deutsche Vergangenheit führt. Der Roman gibt Gelegenheit, einen leisen Autor der deutschen Gegenwartsliteratur zu entdecken.

Von Peter Henning |
Ein Haus in Vindafjord.
Alexander Häussers Roman führt zu den dunklen Flecken und Leerstellen in unseren Biographien (Imago /Imagebroker)
"Geschichte, und was sie im Leben Einzelner anrichte" sei das Thema all seiner Bücher, hat der in Hamburg lebende Schriftsteller Alexander Häusser einmal gesagt. "Ich schreibe über das Verfehlte und Erschwerte der Menschen miteinander. Über Sprachlosigkeit, und also über das, worüber nicht gesprochen wird – und worüber man sprechen sollte."
In seinem 1994 veröffentlichten Debütroman "Memory" demonstrierte der 1960 in Reutlingen geborene Schriftsteller die latente Verknüpfung von Erinnerung und Dichtung, indem er von einem jungen Mann erzählte, der an einem rätselhaften Müdigkeits-Syndrom leidet – und erst im beharrlichen Durchleuchten der eigenen Familiengeschichte langsam wieder zu sich kommt - und seine verlorene Sprache wieder findet.
Nahtstellen der Geschichte
Auch in seinem an diese Geschichte anschließenden zweiten Roman "Zeppelin" waren es die Nahtstellen zwischen privater und offizieller Geschichte, die er geschickt freizulegen verstand. Ausgehend von der Frage, welche Rolle der eigene Großvater und Zeppelinbauer Robert Silcher beim Absturz der legendären "Hindenburg" in Lakehurst 1937 spielte, gelang Häusser seinerzeit ein komplexes Verwirrspiel aus Fakten und Fiktionen – verdichtet in einem Roman über Schweigen und vorsätzliches Vergessen. Sein neuer, nunmehr vierter Roman "Noch alle Zeit" schließt – thematisch betrachtet – bruchlos daran an. Häusser umkreist darin - ähnlich wie in seinem Roman "Karnstedt verschwindet" – erneut ausgehend von der eigenen, literarisch überformten Biographie – einmal mehr das "...worüber nicht gesprochen wird – und worüber man eigentlich sprechen sollte."
Die Spur führt nach Norwegen
Auch Edvard Mellmann, der Protagonist des Romans, ist auf seine Weise das Opfer eines lange nicht zur Sprache gekommenen Familiengeheimnisses. Denn das plötzliche Verschwinden seines Vaters, der einst über norddeutsche Trödelmärkte zog, um Brauchbares aufzutreiben, das sich mit Gewinn weiterve rkaufen lässt, blieb bis zum Tod der Mutter ein Thema, über das nicht gesprochen wurde, nicht gesprochen werden durfte. Doch als Edvard, der sich als Klavierlehrer über Wasser hält, in ihrem Nachlass ein auf seinen Namen geführtes Sparbuch findet, auf das von Norwegen aus jahrzehntelang Geld für ihn eingezahlt wurden, gibt es für ihn kein Halten mehr - und er macht sich auf den Weg nach Oslo, auf die Suche nach seinem Vater.:
"Er aß das letzte belegte Brot, die Gurkenscheiben, das hartgekochte Ei und zwei Müsliriegel und warf die leere Tüte in den Abfalleimer. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. 'Leben heißt kämpfen und wagen', sagte Edvards Vater. Er war nur ein Trödler, aber immer auf der Suche, ob sich etwas lohnte. Bis er eines Tages nicht mehr zurückkehrte, der Transporter nicht mehr auf dem Hof stand, die Motorhaube warm, die Windschutzscheibe mit einem Fliegenfilm verklebt. Am Abend nicht, nicht am nächsten Tag. Und auch nicht in einer Woche.
Aber weil es nicht sein konnte, dass der Tod so lange brauchte, war sich Edvard sicher, sein Vater würde wieder zurückkommen. Alles würde sich im Nachhinein als eine Verkettung von Zufällen und Missgeschicken erklären. Nicht zu fassen, wie das Leben manchmal spielte, würde Mama sagen. Kein Wunder, dass die Polizei bei ihren Ermittlungen keine Spuren von ihm fand, die Suche nach dem Transporter, die Befragung möglicher Zeugen ohne Ergebnis blieb. Er lebte ja noch.
Für seine Mutter aber war es mit jedem Tag, jeder Woche, jeden Monat ohne Lebenszeichen unwahrscheinlicher geworden, dass er zurückkehrte.
'Ich habe nur noch dich', sagte sie zu Edvard, als Eis die Rohre sprengte und die Heizung ausfiel, im ersten Winter ohne den Vater. Für sie begann eine neue Zeitrechnung, ohne dass die Zeit verstrich. Im Haus hing der Kalender von 1967, und sie dachten nicht daran, ihn abzunehmen."
Plötzlich Vorstand der Familie
Langsam, in Bildern von beeindruckender Präzision und Schönheit, beschreibt Häusser die Reise seines Helden ins ferne Norwegen. Eingeflochten werden betörende Erinnerungssequenzen an den jugendlichen Edvard von einst, dem quasi über Nacht die ihn überfordernde Rolle des Familienoberhaupts zuwuchs – alleine und schutzlos den Launen und Ängsten der Mutter ausgesetzt.
"Ich werde immer bei Mama bleiben" sagte Edvard und schämte sich ein wenig über die Wäsche, die zum Trocknen auf dem Ständer in der Badewanne hing, weil es Nylonstrümpfe und Hüfthalter waren, wie such die Frauen auf den glänzenden Katalogseiten trugen, die er abends im Bett ansah, eine Hand unter Decke. 'Du bist schließlich der Mann im Haus' sagte die Bombek und lachte. Und seine Mutter nickte."
An Deck der "Kong Haakon", die ihn nach Norwegen, und damit dem Geheimnis seines Vaters endlich näher bringen soll, trifft Edvard auf die Berliner Journalistin Alva, die – getrieben von der Idee, eine Fernseh-Reportage über "Magische Orte" zu produzieren – ebenfalls dorthin unterwegs ist.

"Eine Doku-Serie für Fernsehen. Es geht um magische Orte" sagte sie. "Sowas wollen die Leute sehen. Überall auf der Welt gibt es Orte, wo seltsame Dinge geschehen oder geschahen. Unerklärliche, übernatürliche Ereignisse, von denen erzählt wird. Aber das ist abgefrühstückt. Ich will unbekannte Orte zeigen, wie in Norwegen – Norwegen ist magisch."
Im Land der Fjorde
So kommen sich die beiden ungleich motivierten Spurensucher auf dem Weg nach Norwegen langsam näher - und bleiben doch jeder für sich gefangen in den Vorstellungen und Wünschen, die sie an ihre Reise in das Land der Fjorde knüpfen: Zwei Menschen, die – und das offenbart uns Häussers Roman auf wunderbar subtile Weise - Opfer ihrer Geschichte sind. Denn jeder versucht sich dabei auf seine Weise zu retten: Alva, die in Wahrheit Bianca heißt, und genau betrachtet vor ihrem Berliner Leben Reißaus genommen hat, in dem sie an ihrer Rolle als Mutter einer kleinen Tochter gescheitert zu sein glaubt – und stattdessen Zuflucht in ihrer sie weit weg von Berlin führenden Arbeit sucht. Ebenso Edvard, der glaubt, in Norwegen Antworten auf all jene Fragen zu finden, deren jahrzehntelange Nicht-Beantwortung ihn zu dem Mensch werden ließen, zu dem er ohne Vater wurde. Um endlich frei zu sein.
Zwei ungleiche Spurensucher
So jagen die beiden über die Schaulätze, finden Spuren und Hinweise, treffen auf Zeitzeugen wie den Historiker Lemskos, die seinen Vater gekannt haben – und ihm endlich in groben Umrissen die fehlenden Kapitel von dessen Lebensgeschichten liefern können. Und sogar den angeblichen Wohnort seines Vaters macht Edvard ausfindig. Als Alva einen Anruf aus Berlin erhält, in dem es heißt, ihre Tochter sein verschwunden, trennen sich ihre Wege. Alva fliegt zurück nach Deutschland, und Edvard geht die letzten Schritte auf norwegischem Boden alleine.
"Und jetzt? Zur Adresse Deine Vaters? Sie ist etwas außerhalb von Bergen" sagte Lemskos.Edvard blickte zum Timetable.
"Nein, es ist vorbei."
"Vorbei? Du willst die Suche beenden, kurz vor dem Ziel?
"Es spielt keine Rolle mehr. Ich weiß jetzt genug über meinen Vater."
Edvard drückte Lemskos Hand.
"Danke, Isak. Danke für alles!"
Hamburg Departure.' Es muss noch einen Platz geben, dachte er, es muss.'"
Ein Desillusionsroman
In privaten Konflikten, die zeigen, wie schwer es dem Einzelnen mitunter fällt, Geschichte ruhen zu lassen, spiegeln sich zwei Biographien, die aus ihrer Balance gestürzt sind. So suchen Häussers Figuren jede für sich verzweifelt nach Erklärungen für etwas, das sich – und das müssen sie halb schmerzhaft, halb befreiend erkennen - nicht abschließend erklären lässt, und darum zuletzt nicht einmal mehr die Fiktion von Geborgenheit zu produzieren vermag.
So lässt sich Häussers Buch auch als eine Art Desillusionsroman lesen, der uns – ähnlich wie etwa dereinst Peter Handkes "Der kurze Brief zum langen Abschied" – Charaktere im Spannungsfeld ihrer ihnen partiell abhanden gekommen Biographien entrollt.

Denn natürlich lassen sich die Hinweise und Bruchstücke, die Edvard am Ende seiner Recherche unter Alvas tätiger Mithilfe in Oslo und Bergen findet, nicht zu einer abschließenden Bewertung der Geschichte seines Vaters zusammenfügen. Sie bleibt die Geschichte des deutschen Soldaten Oskar Mellmann, der – wie viele andere auch - im Zuge des 2. Weltkriegs in Norwegen hängen blieb - und nach dessen Ende an der Seite einer Norwegerin ein neues Leben begann, so dass Edvard sich und seiner Freundin Elsie – wieder zuhause - eingestehen muss:
"Es wird nichts von meinem Vater übrigbleiben. Er ist tot. Weil er nicht für uns gelebt hat. Und doch hat er gelebt. Meine Mutter hatte recht und unrecht."
Ein Autor der Genauigkeit
Ein Buch, so schrieb Marcel Proust einmal, ist ein optisches Gerät, das der Autor dem Leser reicht, damit er sich selber klarer sehe. Und genau so funktioniert Alexander Häussers nunmehr vierter, großartiger Roman, in dem er uns mit Edvards Geschichte wie selbstverständlich zu uns selber führt: zu den dunklen Flecken und Leerstellen in unseren Biographien, und denen, die sie nicht selten erzeugten. Er tut es mit einer Geschichte über die Zweifel an den besten menschlichen Substanzen, nämlich den Gefühlen und unserer Fähigkeit zur Vernunft.
Alexander Häusser zählt zu jenen Autoren, die nicht nach Markt und Moden schielen. Seine Produktion vollzieht sich in der Regel quälend langsam, dauert – wie im vorliegenden Fall - mitunter acht Jahre und länger, und steht damit den Rhythmen der Branche, die von einem Autor alle zwei Jahre ein Buch einfordert, zuwider. Gleichwohl ist mit dem vorliegenden Roman ein ganz besonderer Autor neu und wieder zu entdecken. Einer vom Schlage der Christoph Meckel und Klaus Böldl – also der Großen Stillen im Land. Ein Schriftsteller, dessen Arbeiten konsequent versammeln was wirklich bedeutende Literatur ausmacht: Genauigkeit, Beharrlichkeit und die Weigerung, sich vorschnell zufrieden zu geben.
So ist "Noch alle Zeit" auch und vor allem ein Buch über uns: unseren Hang zur Verdrängung und unser gleichzeitiges Laborieren daran. Ein Roman über unser Verlangen nach Klarheit, an deren Ende bestenfalls die Einsicht steht, etwas mehr zu wissen, als vorher, was manchmal nicht wenig ist. Ein Buch dieser Jahre. Ein Findling. Kostbar und selten.
Alexander Häusser: "Noch alle Zeit"
Pendragon Verlag, Bielefeld.
278 Seiten, 24 Euro.