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Alexander Jorde
"Kranke Pflege"

Die Pflege in Deutschland hat mit gravierenden Problemen zu kämpfen. Ein junger Berufsanfänger schildert diese sowie seine Leidenschaft für den Beruf. Der 22-Jährige fordert zudem etwa eine gewerkschaftliche Organisation der Pflegekräfte.

Von Nikolaus Nützel |
Cover-Collage. Buchcover "Kranke Pflege" von Alexander Jorde, Tropen Verlag. Hintergrundbild: Zwei mit durchsichtiger Folie überzogene Krankenhausbetten stehen auf einem Krankenhausflur.
Alexander Jorde erklärt, was er an dem Beruf liebt, den auch seine Mutter schon gelernt hat: den Umgang mit Menschen. (Buchcover: Tropen Verlag, Hintergrund: dpa/Wolfram Kastl)
"Im Artikel 1 des Grundgesetzes steht, die Würde des Menschen ist unantastbar. Jetzt habe ich es in einem Jahr im Krankenhaus und Altenheim erlebt, dass diese Würde tagtäglich in Deutschland tausendfach verletzt wird."
Alexander Jorde hat am 11. September 2017 nur wenige Sätze gebraucht, um sich einen Namen in der deutschen Gesundheits- und Pflegepolitik zu machen. Er war gerade 21 Jahre alt, als er Bundeskanzlerin Merkel vor der Bundestagswahl in der Fernsehsendung "ARD-Wahlarena" mit seinen Schilderungen aus dem Pflegealltag in Bedrängnis brachte:
"Sie sind seit zwölf Jahren an der Regierung und haben in meinen Augen nicht viel für die Pflege getan."
Seit seinem ersten großen Auftritt hat Alexander Jorde in etlichen Talkshows und Fernsehsendungen über die Probleme der Pflege in Deutschland geredet, jetzt hat er auch ein Buch dazu veröffentlicht. Ein Buch, das zu lesen sich lohnt.
Es geht um Menschenleben
Es gibt einen Einblick in einen Bereich, von dem so gut wie alle sagen, dass er wichtig sei - aber wie es in der Pflege wirklich aussieht, wollen die meisten dann doch nicht ganz so genau wissen. Denn das Wort "Pflege" verbinden viele mit Leid und Missständen. Alexander Jorde verbindet das Wort "Pflege" schon seit dem Beginn seiner Ausbildung hingegen mit Verantwortung:
"Da geht es nicht nur um irgendwelche Namen und operierte Organe, sondern um ein echtes Menschenleben. Das Leben eines oder mehrerer Menschen hängt direkt von meinem Handeln ab."
Jorde erklärt, was er an dem Beruf liebt, den auch seine Mutter schon gelernt hat: den Umgang mit Menschen. Er schildert aber auch die vielen Probleme, in denen die Pflege in Deutschland steckt - etwa den Teufelskreis aus zu wenig Personal, Überforderung und Unzufriedenheit:
"Ein Risikofaktor für Burnout. Viele Pflegekräfte werden berufsunfähig oder steigen am Ende gar ganz aus dem Beruf aus. Der Personalmangel schafft sozusagen noch weiteren Personalmangel."
Pflege ist kein gewöhnlicher Wirtschaftszweig
Das Kernproblem sieht der junge Pfleger in der immer stärker marktwirtschaftlichen Ausrichtung des deutschen Sozialsystems. Er traut sich Fragen zu stellen, die viele nicht laut aussprechen. Etwa die Frage, ob es wirklich eine gute Idee ist, Gesundheit und Pflege als Wirtschaftszweig zu sehen wie jeden anderen auch:
"Auf der einen Seite wird behauptet, dass zu wenig Geld für Veränderungen, für Innovationen da ist, zu wenig, um etwas zu bewegen. Auf der anderen Seite verzeichnen Konzerne wie Helios, zu dem 110 Kliniken in Deutschland gehören, Millionenbeträge im dreistelligen Bereich als reinen Gewinn, und das jedes Jahr."
Die Hand einer Pflegerin haelt die Hand eines alten Mannes.
Der Autor stellt auch die Frage, ob es wirklich eine gute Idee ist, Gesundheit und Pflege als Wirtschaftszweig zu sehen wie jeden anderen auch. (imago stock&people)
Es ist bemerkenswert, wie viel Recherche in dem Sachbuch des jungen Pflegers Alexander Jorde steckt. Er seziert nicht nur das Pflege- und Gesundheitssystem in Deutschland. Er schreibt auch über innovative Ansätze aus Japan, den USA oder den Niederlanden. Er berichtet über die Pflege in Norwegen, wo er sich vor Ort darüber informiert hat, was dort anders und besser läuft. Jorde sichert seine Schilderungen mit knapp 180 Fußnoten ab.
Beitragsbemessungsgrenze ist nicht gerecht
Und er entwickelt konkrete Vorschläge, wie die Pflege in Deutschland verbessert werden könnte. Vor allem brauche es einfach mehr Geld, stellt er fest. Und er hat auch einen Vorschlag, wo dieses Geld herkommen könnte. Gutverdiener und Reiche müssten mehr ins Pflege- und Gesundheitssystem einzahlen, fordert er. Denn die Beitragsbemessungsgrenze, die heute gilt, führt dazu, dass der prozentuale Anteil vom Einkommen, den jemand für die Krankenversicherung aufwendet, umso geringer ist, je mehr jemand verdient.
"Es geht hier nicht um eine Neiddebatte. Es geht darum, dass wir auf der einen Seite immer wieder aufs Geld schielen und an jeder Stelle sparen und auf der anderen Seite diejenigen, die über sehr viel Geld verfügen, nicht einmal dazu bringen, ein Prozent dafür abzugeben - während die Reinigungskraft, der Busfahrer oder der Handwerker ungefähr ein Zehntel ihres Gehalts abgeben müssen."
Alexander Jorde richtet in seinem Buch aber nicht nur Forderungen an die Gesundheitspolitik. Er geht auch mit seinen Kolleginnen und Kollegen ins Gericht. Die seien viel zu oft bereit, die Löcher im System zu stopfen, etwa indem sie sich aus ihrer Freizeit holen lassen, wenn jemand krank wird.
Fachkräfte müssen sich organisieren
Pflegekräfte müssten sich viel stärker in Berufsorganisationen und Gewerkschaften engagieren, sagt Jorde.
"Ich fordere also, dass wir Pflegekräfte uns zusammenschließen. Dass wir dieses System gemeinsam an die Wand fahren lassen. Wir sind es nicht, die es aktiv an die Wand fahren. Wir sind nur diejenigen, die es bisher aufgehalten haben."
Dass die Pflegerinnen und Pfleger das System an die Wand fahren lassen sollten, ist eine Forderung, die aus dem insgesamt sachlichen Tonfall des Buches von Alexander Jorde heraussticht. Aber er macht klar, dass er sich mit der Politik der kleinen Schritte nicht abfinden will, die Kanzlerin Merkel in Aussicht gestellt hat, als sie in der Fernsehsendung "Wahlarena" auf die Fragen des jungen Pflegers antwortete:
"Ich hoffe, dass wenn wir uns in zwei Jahren wiedersehen würden, dass es dann etwas besser ist."
Inzwischen sind bereits eineinhalb Jahre vergangen. Alexander Jorde zitiert einen Satz von Albert Einstein, der zwar ein bisschen nach Kalenderblatt klingt - aber am Ende wohl doch schlicht und einfach wahr ist:
"Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind."
Alexander Jorde: "Kranke Pflege. Gemeinsam aus dem Notstand",
Tropen Verlag, 212 Seiten, 17 Euro.