Er ist Mitbegründer des deutschen Autorenkinos, Filmemacher, Schriftsteller, Dialogpartner und Verfasser von Essays, Büchern und poetischen Texten. Erstmals werden seine Filme nicht im Kino oder Fernsehen gezeigt, sondern im Essener Museum Folkwang. Anlässlich seines 85. Geburtstag hat Kuratorin Anna Fricke ihn eingeladen, sechs Räume zu gestalten
"Wir haben diesen Grundimpuls des sich Bedienens überall, Zusammenfügens und neu Zusammensetzens, das ist die Montage. Das ist das grundlegende Prinzip wie Kluge arbeitet."
Es handelt sich bei "Pluriversum" nicht um eine Retrospektive, sondern eine Ausstellung. Alle gezeigten Filme sind dafür in den letzten vier Monaten entstanden.
"Für mich ist es ein Erlebnis – zum ersten Mal mache ich sowas -, und finde eben, dass die Vereinigung der Kräfte, Paul Klee, das Bauhaus, Moholy-Nagy, und die Filmkunst, die von denen ganze Zeit getrennt lebte, ja, die gehören zusammen."
Das Kino im Kopf ist vielgesstaltig
Er hat in den Ausstellungsräumen Texte mit Objekten, Teleskope mit Fliegerbomben und Kunstwerken arrangiert. Auch Bilder aus dem Museum sind dazugestoßen. Aus allem zusammen montiert der Besucher seinen eigenen Film.
"Und das Kino im Kopf ist vielgestaltig. Das sind vier, fünf, sechs, acht Leinwände gleichzeitig. Die Ohren haben eine andere als die Augen. Die Fußsohlen haben ihre eigene. Das Zwerchfell lacht zwischendurch und ist unbezähmbar. Das heißt, im Grunde, die Filmgeschichte ist schon einmal vorbereitet und wir müssen sie lesen. Wir müssen die Schrift, die wir in uns herumtragen, an menschlicher Sinnlichkeit - ja -, die sollen wir lesen."
Alexander Kluge ist einer der produktivsten Intellektuellen Deutschlands aus dem Geiste der Kritischen Theorie. Sein künstlerisches Werk kreist um Fragen der Evolution, des Kosmos, des Krieges, der Arbeit, des Lebens und der Technik. Filme, Fotos, Texte, Künstler werden zu sprechenden oder schweigenden Dialogpartnern.
"Und dieses, das Poetische und das Praktische ist etwas ganz Lebendiges für uns alle. Ja! Und das sind meine Anführer."
Mutmacher und Sucher nach Auswegen
Im ersten Raum, der "Sternenkarte der Begriffe", liegt eine mit schwarzem Tuch gefüllte Glasflasche auf einem Podest. Darunter der Satz:
"In Seenot werfen Seeleute eine Flaschenpost ins Wasser: solche Hoffnung zeigt Mut. Oft schon haben Delfine solche Flaschen solange zur Oberfläche gestupst bis sie eine Hafenstadt erreichten."
Überhaupt ist Kluge ein Mutmacher.
"Also kulturkritisch bin ich ja eigentlich sehr viel weniger, weil ich ja immer Auswege suche. Ich suche ja nicht die Befestigung dessen, worunter wir leiden. Und wenn zum Beispiel Silicon Valley uns mit Algorithmen überzieht, die ich sehr bewundere, und uns praktisch zu Eingeborenen macht, ( ... ) und wenn das so ist, dann würde ich nur drüber nachdenken, über den Gegen-Algorithmus."
Im Museum Folkwang ist auch ein "Arbeitszimmer" aufgebaut. Geräte, Mischpulte, Zeitungsausschnitte, Bücher, Bilder veranschaulichen seine Arbeitsweise. Kluge ist nicht nur ein öffentlicher Denker, er bedenkt auch Öffentlichkeit. "Eigensinn", "Bodenhaftung", "Entfremdung" und "Öffentlichkeit" sind Schlüsselbegriffe, die an den Wänden kleben.
"Mit Gegenöffentlichkeit meine ich das, was ausgelassen wird in der klassischen Öffentlichkeit, das müssen wir außerdem noch mobilisieren. Dann allerdings sind wir "content". Dann haben wir eine der drei großen Karten: Plattform, Technik und Content. Alle drei kann man nicht besitzen, sagen auch die Silicon - Leute. Und wir sind in Europa abonniert auf die Inhalte. Denn an Erfahrung sind wir reicher."
Immer wieder Bilder von der Arbeit
Und immer wieder gibt es Bilder von der Arbeit. Menschen in der heutigen Industrie 4.0. Der Raum versammelt darüber hinaus irritierende Objekte wie Hebammenwerkzeug, eine Lupe oder ein Fernrohr. Sie künden von Lebensmomenten.
"Was wir sind? Wir sind Eigentümer unserer Lebenszeit. Die Eigenschaften von uns, unseren Vorfahren, die wir ererbt haben, sind moralisch nicht besonders. Und da ist das Gefäß, in dem wir leben unsere Lebenszeit. Und die ist eine Währung. Deswegen heißt ein Saal hier 'Lebenszeit als Währung'."
Während der Ausstellungsdauer wird er mit Georg Baselitz, Helge Schneider, Hannelore Hoger und anderen tätig sein. Diese Ausstellung bietet - um es mit einem Buchtitel von Alexander Kluge zu sagen, eine "Chronik der Gefühle", die nicht kalt lässt. Selten ist das filmische und literarische Werk eines geistigen Monteurs, eines intellektuellen Klempners, so geistreich und sinnlich präsentiert worden.
"Ich würd´ mich als 16-Jährigen genauso sehen wie jetzt. Und in mir spricht jemand, der nicht sehr alt ist."