Als 13-jähriger, so Alexander Kluge im Juli in einem Interview für die Süddeutsche Zeitung, erlebte er das Kriegsende in Halberstadt: Nach der Einnahme durch die Amerikaner und Engländer zog die Rote Armee ein. Es war ein "Zivilisationsschnitt", wie Kluge sich erinnert: keine Jeeps, kein Kaugummi mehr, die Russen kamen mit Pferd und Wagen. Sie beanspruchten keine Villen, sondern besetzten einen Häuserblock, den sie als Erstes rosarot anstrichen! Ihr Verschiedensein war offenbar ebenso prägend für den zukünftigen Filmemacher und Schriftsteller wie die naive Liebe seiner in der DDR aufgewachsenen Schwester zu allem Russischen, mit der sie ihren Familienangehörigen auf die Nerven ging. Für Alexander Kluge wurde Russland zum "Vaterland der Besonderheiten".
Bücher über Russland gibt es zuhauf: zur Geschichte, zu Kunst und Literatur, Memoiren und Erlebnisberichte von Opfern des Gulag ebenso wie von einstigen Russlandkorrespondenten. Allen gemeinsam ist die Versicherung: So war es, so ist es! Und das ist hiermit wissenschaftlich belegt oder durch eigenes Erleben beglaubigt.
Genie der Assoziation
Mit seinem "Russland-Kontainer" wählt Alexander Kluge einen ganz anderen Weg. Er versammelt Fundstücke, die ihm etwas über Russland erzählt haben – und überlässt es dem Leser und Betrachter des mitgelieferten Bilderfundus, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. Kluge arrangiert aber nicht nur Vorgefundenes, er bietet sein Material in literarischer Transformation an und erweist sich einmal mehr als Genie der Assoziation, als Meister der Metapher. Jedes der kurzen Kapitel lässt sich als abgeschlossene Prosa-Miniatur lesen. Wer empfänglich ist für Prägnanz und eine reiche, genuine Sprache, die ohne Klischees und verbale Fertigbauteile auskommt, wird an diesem Buch seine Freude haben.
Was zunächst befremdlich wirkt in diesem russischen Kaleidoskop sind die persönlichen Einsprengsel in Wort und Bild. So zeigen die beiden ersten Illustrationen Alexander Kluge am Tisch, an seinem "Russland-Kontainer" arbeitend, sowie den Filmemacher Kluge, mit der Hand in den Eingeweiden seiner 35 Millimeter Arriflex Kamera.
Ob der "Russland-Kontainer" auch ein Buch über Kluge sei, fragte der Moderator der Sendung Studio LCB Ende Juli den aus München zugeschalteten Autor:
"Das ist ganz gewiss ein Buch über mich! Insofern ich mich über nichts so wundere, wie über dieses große Nachbarland, das viel zu groß ist für mich. Es ist einmal von einem russischen Poetiker gesagt worden: "Russland muss man mit ‚Sie’ ansprechen." Man muss mit einem gewissen Respekt vor dieser Weite des Landes erst mal anfangen. Deshalb befestige ich mich da vorne, damit ich nicht ganz verschwinde, habe aber [...] auch eine gewisse Demut vor den Dingen, von denen ich da erzähle."
"Ich weiß, dass ich nichts weiß." Dazu bekennt sich Alexander Kluge in einer Art Vorrede. Den Dramatiker Heiner Müller zitierend, erklärt er Russland als "großes Rätsel", als "Wunderkammer" im Osten. Als Wunderkammer, als Galerie aus Text und Bild, die den Leser zum Flanieren einlädt, hat Alexander Kluge auch seinen "Russland-Kontainer" angelegt. Indem er von einem fremden Land erzähle, so schreibt er, hoffe er, seinem eigenen näherzukommen.
Was zunächst abwegig klingt, löst sich für den Leser wunderbarerweise gleich zu Beginn der Lektüre ein: Bei Kluge tritt uns Russland als ein Land entgegen, das einst von großen Zukunftshoffnungen getragen wurde – mit aller Verlockung, allem Schrecken, der daraus resultierte. Und schon drängt sich dem Leser die Frage nach dem Zukunftspotential, nach dem Schwung der Zuversicht unserer deutschen Gegenwart auf.
Keine Katzen in der Raumkapsel
Wenn ein Autor "vom Hölzchen aufs Stöckchen" kommt, kann die Lektüre manchmal anstrengend werden. Nicht, wenn ein so gelehrter Künstler wie Alexander Kluge am Werk ist. Seine assoziativen Arrangements von Texten und Bildern haben etwas Schlagendes: Vom Traum von den Sternen, von der sowjetischen Raumfahrt kommt er auf die Tiere, die man in der Sowjetunion ins All schoss: wir erfahren von der raschen Auffassungsgabe der für diesen Zweck getesteten Katzen, die sich im praktischen Einsatz aber kapriziös den gestellten Aufgaben verweigerten. Nach einem Schwenk zu den Tieren im Zirkus und seiner persönlichen Faszination für alles Zirzensische landet Kluge beim Design der Inneneinrichtung einer sowjetischen Raumkapsel. Nach etlichen weiteren Schlenkern findet die Reihe ihren vorläufigen Abschluss im tristen Foto einer sogenannten "Frankfurter Küche". Die Bildunterschrift informiert, der Architekt, für dessen Siedlung in Frankfurt diese Küche Mitte der 1920er Jahre entworfen wurde, habe auch in der frühen Sowjetunion Wohn- und Industriezentren gebaut – und die wiederum seien Vorbild für Neubauten in Stalingrad gewesen. Sie sehen, wie weit Alexander Kluge den Bogen spannt. Aber damit nicht genug: Es folgt der Hinweis, der funktionale Schlauch der "Frankfurter Küche" sei nicht russland-tauglich gewesen – denn er habe keine Möglichkeit zum Palavern um einen Küchentisch herum geboten, schließlich gehöre in Russland das Reden zur Funktion!
Vom Kosmos zur Frankfurter Küche
Schon betrachtet man diese Einbauküche, damals eine Errungenschaft, mit anderem Blick: War dieses Küchenmodell wirklich ein Fortschritt gegenüber der alten Wohnküche? So praktisch es einerseits gewesen sein mag, hier wurde die Hausfrau – Küchenarbeit war und ist in der Regel Frauenarbeit – von der Familie isoliert und in einen Raum von der Größe einer Gefängniszelle verbannt. Weibliches Multitasking – beim Kochen das Baby trösten, die Hausaufgaben der Größeren beaufsichtigen – ein Ding der Unmöglichkeit in diesem Koch-Gefängnis!
Das ist das Schöne und Ungewöhnliche an Alexander Kluges "Russland-Kontainer" – er ist ein unglaublich animierendes Werk. Immer wieder bringt es einen dazu, den Faden weiterzuspinnen, am Textil dieses Text-und Bild-Teppichs weiterzuweben. Oder darüber nachzudenken, was man selbst in seinen eigenen "Russland-Kontainer" hineinpacken würde. Das liegt an der offenen Form, die Alexander Kluge gewählt hat. Sie entspricht seinem Respekt vor dem großen Land im Osten:
"Es ist sehr, sehr seltsam, wie widerständig dieses Land gegenüber jedem Eindringling ist. Das hat Napoleon erlebt, das haben auch die Deutschen nach 1941 kräftig erleben können. Und dieses große Rätsel, das mir persönlich so fern liegt wie der Mond – da muss ich einerseits schon ein bisschen den Hut abziehen, ich darf mich nicht auf das Autorendenkmal setzen, sondern ich bin so wie die Gebrüder Grimm, die sammeln erstmal die Sprache, dann sammeln sie die Märchen – und so ist für mich das Poetische eigentlich Sammeln, sozusagen was ein Gärtner von selbst tut, und nicht der Dompteur, der Löwenbändiger, der sich dahinstellt und gestaltet. Im Zirkus kommt das auch vor und es ist mir auch nicht fremd, aber ich würde es nicht machen bei einem so strengen, so strikt fremden Land wie Russland für einen Mitteldeutschen."
Verknüpfung der Buchstaben
Manchmal überspannt der Autor den Bogen, und dem Leser fällt es schwer, ihm in die schwindelerregenden Höhen – oder sollte man "Tiefen" sagen? – seiner von Gelehrsamkeit befeuerten Assoziationsketten zu folgen. Mühsam zu erkennen und zu verstehen sind die Seiten mit den acht und mehr Bildern, jedes nicht größer als eine Sondermarke der Bundespost! Was man da sieht, muss man im 30seitigen Anhang nachschlagen, der seinerseits wieder mit neuem Bildmaterial und neuen Mäandern aufwartet. Da gibt es sogar QR-Codes, die einen in die russische Oper oder einen russischen Film entführen. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte Alexander Kluge, damit könne man aus der "linearen Verknüpfung" der Buchstaben "hinabsteigen in den Brunnen, in die Vertikale" – darauf sei er sehr stolz.
Wunderbar und spannend zu lesen sind die zu Unrecht in den Anhang verbannten Erkundungen russischer Wortfelder aus der Feder der Übersetzerin Rosemarie Tietze. Sie führen dem Leser anschaulich vor Augen, wie unterschiedlich die in die deutsche und die russische Sprache eingeschmolzenen Erfahrungen sind – und wie herausfordernd es sein muss, den weiten Horizont russischer Begriffe wie "Freiheit" oder "Raum" ins Deutsche hinüberzuretten.
Alexander Kluge: "Russland-Kontainer"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 444 Seiten. 34 Euro.
Suhrkamp Verlag, Berlin. 444 Seiten. 34 Euro.