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Alexander Kluge - Teil 2
Liebe ist hart wie Beton

Nur auf den Verstand würde ich mich nicht verlassen, sagte der Filmemacher und Autor Alexander Kluge im Dlf. Sondern es brauche auch das Erzählen. Sonst würden wir weder uns selbst noch unser Jahrhundert verstehen. Doch damit Aufklärung wirken könne, müsse sie "eine gewisse Masse haben".

Alexander Kluge im Gespräch mit Jan Drees |
    Alexander Kluge steht neben seiner Filmkamera und erklärt ihre Funktionsweise.
    Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge plädierte im Dlf für das Erzählen von Geschichten, in denen es um "das praktische Glück" geht (dpa picture alliance/ Roland Weihrauch)
    Jan Drees: Erinnern Sie sich an Momente, in denen Ihr Körper Ihnen gesagt hat, das möchte ich jetzt nicht, obwohl Ihr Verstand etwas ganz anderes oder Ihr Herz etwas anderes zu sagen meinte?
    Alexander Kluge: Ich kann da sehr viele Beispiele aufzählen. Ich kann aber auch Geschichten darüber erzählen. Da gibt es einen Piloten, einen US-Piloten im Irak, der greift ein Haus an, in dem eine Hochzeitsgesellschaft sich befindet, weil er meint, dort sitzen Rebellen. Und sein automatisches Geschoss, das ist sein Jagdflugzeug, mit Bomben versehen, fliegt darauf zu. In dem Moment löst sich bei ihm im After – und er macht in seine Flugzeugkombination. Schämt sich. Er kann sie ja nicht wechseln während des Flugs, und muss nach Hause kommen und sagen, ich hab mir in die Hose gemacht.
    Dieser Schrecken, dieses Schamgefühl führt dazu, dass er die Maschine verreißt, und die Hochzeitsgesellschaft ist gerettet. Da war der Darm klüger als der Kopf. Ich könnte so etwas jetzt in kleiner Münze aus meinem Leben erzählen, wobei ich natürlich kein Pilot bin und nicht in so dramatischen Verhältnissen lebe. Aber es ist wichtig zu beobachten, wie reich eigentlich ein Mensch oder überhaupt Lebewesen sind. Und das ist der Anker gegen das Unheimliche.
    "Es ist etwas in mir, welches erzählt"
    Drees: Wie trainiert man Fiktionsfähigkeit? Wie schafft man es, so wie Sie auf so unterschiedliche Arten und Weisen die Anschauung immer wieder neu zum Begriff zu erheben?
    Kluge: Also - Erzählen. Fiktion ist das ja nicht. Aber nehmen Sie mal an, mein Kindermädchen hat mir Geschichten erzählt am Abend, die haben mich berührt. Bin eingeschlafen. Ohne das, die Geschichte, konnte ich schwer einschlafen. Meine Mutter erzählt am laufenden Band, mein Vater liebt Opern und ist Arzt und erzählt auch. Ganz anders als meine Mutter. Diese Stimmen sind ja in mir. Ich muss da gar nicht viel mich konzentrieren, sondern ich muss nur diesen Stimmen zuhören und sie zulassen. Ich darf sie nicht mit Sinnzwang zumüllen. Ich darf sie aber auch nicht sozusagen oberflächlich behandeln. Die wollen gehört werden. Und eigentlich erzähle nicht ich, sondern es ist etwas in mir, welches erzählt. Und darauf muss man hinhören. Das ist wiederum relativ. Nur auf den Verstand würde ich mich nicht verlassen. Sehen Sie, es gibt viel Verstandestätigkeit im Jahr 1932, zu meiner Geburtszeit, und die hat 1933 nicht verhindert. Das genügt also allein nicht. Sondern es ist etwas in der Gesellschaft zusätzlich nötig und im Individuum zusätzlich nötig. Das nennen wir erzählen.
    Der Luhmann zum Beispiel gilt als sehr sachlich. Ich hab einmal mit ihm ein zweistündiges Gespräch geführt, so wie wir hier reden. Das hat jetzt die Leute entzückt, weil ich es ganz und ohne Bild in Wien aufgeführt habe. Das ging über Liebe als Passion. Da ist dieser Systematiker und erzählt. Und ausgedacht hat er sich dieses Buch in Frankfurt 1968, inmitten der Protestbewegung, als er den Lehrstuhl von Adorno – er wird immer als Gegner der Kritischen Theorie gehandelt, aber nein, er vertritt den Lehrstuhl von Adorno mit dem Thema Liebe als Passion. Mitten im studentischen Protest, die doch das entsetzlich finden und irgendwie unverständlich finden, dass man sich mit Liebe als Passion befasst, wenn es doch eigentlich um Vietnam und den Klassenkampf gehen soll. Sie merken, da liegt die Erzählung.
    Drees: "Liebe als Passion", ein Buch, in dem es den schönen Satz gibt: "Lieben bedeutet, dem anderen die Möglichkeit zu geben, etwas Gutes zu tun dadurch, dass er ist, wie er ist."
    Kluge: Sehen Sie, das ist eine wunderbare und poetische Formulierung. Das ist übrigens das Interessante, dass das eigentlich Wissenschaftliche und Exakte etwas Poetisches ist, genauso wie Poesie theoriefähig ist. Dass es nicht etwa sozusagen so ist, dass man über Blätter im Herbst und so weiter dichten muss, sondern man kann eben über Gedanken auch formulieren. Und das ist das Schöne, dass das Poetische vom Besonderen ausgeht. Es sucht die Begriffe nicht im Allgemeinen, oben im Himmel, sondern auf Erden, in den Löchern, wo die Maulwürfe sitzen, da liegt das Besondere. Und das kann nur das Poetische.
    Kluge: Adorno wollte mir die Literatur abgewöhnen
    Drees: Luhmann beschreibt in "Liebe als Passion", möglicherweise philologisch nicht ganz korrekt, wie unsere Idee von Liebe in die Welt gekommen ist. Er beschreibt beispielsweise, dass die französischen Liebesromane nicht die Lebenswirklichkeit der Liebenden damals abgebildet haben, sondern Frauen, die diese Romane lasen, wollten auf einmal auch so geliebt werden wie die in den Romanen. Deshalb wurde gewarnt vor den Frauen, die lesen.
    Kluge: Das ist doch interessant. Und das ist jetzt Hoffnungsliteratur, wenn Sie so wollen, Erwartungsliteratur. Normalerweise würde man sagen, hier sind die französischen Philosophen, Derrida, Deleuze, Guattari, dort ist Luhmann und Parsons und die Systematiker, und dort ist Habermas, Adorno und die kritische Theorie, und Benjamin liegt irgendwo dazwischen. Und unsere Aufgabe in unserem 21. Jahrhundert ist eigentlich, diese alle zusammenzuführen.
    In nährstoffarmen Meeren nährt sich das Leben auf Korallenriffen. Und wie vielfältig und gegensätzlich ist das, was auf so einem Korallenriff zusammenlebt. Ein Heringsschwarm, das ist bei Neufundland, wo die Meere reich sind an Nahrung. Da kann man sich sozusagen eine Masse leisten. Wo es eher arm vor sich geht wie in unserem 21. Jahrhundert, in der Silicon-Wüste, da kann sie nur Oasen auf das Besondere gründen und auf die Zusammenarbeit. Deswegen bin ich zum Beispiel als Kuppler tätig, zusammen mit Lerner und anderen, diese ganzen Schulen unterirdisch durch Tunnel zu verbinden, und das sind poetische Tunnel.
    Drees: Adorno war für Sie auch ein Kuppler. Er hat Sie mit Fritz Lang bekannt gemacht, wenn ich das richtig gelesen habe.
    Kluge: Das hat er. Er wollte mir die Literatur abgewöhnen. Er fand mich einen sehr guten Juristen, brauchbar. Warum macht der so einen Unsinn wie Literatur, die doch nach Proust, sagt Adorno, abgeschlossen ist. Das ist überflüssig. Deswegen hat er mich dahingeschickt, mehr zum Abgewöhnen, damit ich wieder als Jurist zurückkomme. Das war nicht Kuppelei, sondern das war List. Ich hab allerdings bei Fritz Lang, den ich sehr respektiere und bewundere, gelernt, dass man den Autorenfilm braucht. Nicht, dass man den Studiofilm weitertreiben soll in den großen Ateliers, nicht die Filmkunst sozusagen, sondern die Beobachtungsfähigkeit des Films. Das ist meine Republik. Davon bin ich Patriot.
    "Aus dem Drama raus, wieder in die wirkliche Beobachtung"
    Drees: Und dann haben Sie Papas Kino für tot erklärt. Nicht ganz allein …
    Kluge: Na ja, das war hochmütig. Aber das haben wir von den Franzosen übernommen. Gucken Sie mal, die haben zwei Jahre vorher uns alles vorgemacht, Godard, Truffaut und so weiter, die großen französischen Autorenfilmer, und wir haben das fleißig nachgemacht. Haben allerdings, im Gegensatz zu dem nach acht Jahren gewissermaßen abbrechenden Aufbruch der Franzosen, 20 Jahre durchgehalten, bis zu Fassbinders Tod. Und ich würde behaupten, dass ich immer noch durchhalte, denn das, was ich mache, ist Autorenfilm, und das mache ich neben dem Bücherschreiben, weil ich sehe da keinen Unterschied. Beides ist Autorentätigkeit.
    Drees: Es ist kein Unterschied. Das ist interessant, weil Sie sich ja auch medientheoretisch …
    Kluge: Ja, das Metier ist völlig verschieden. Ich schreibe nie gleichzeitig ein Buch und mache einen Film. Das würde ich niemals machen. Und wenn ich über eine Geschichte von mir einen Film mache, werden Sie es nicht wiedererkennen. Also meinetwegen "Anita G.", das ist eine Geschichte. Und daraus ist "Abschied von gestern" entstanden, der Film. Aber ich habe von der Erzählung nur zwei Absätze übernommen und verfilmt. Das reicht. Der Film ist ein vollkommen anderes Metier als das Buch. Aber die Haltung, die man einnimmt, sich nämlich im Vaterland des Besonderen aktiv zu halten und zu sagen, ich erzähle jedes ganz genau als Geschichte, und nicht als Begriff in abstrakter Weise. Das ist in beiden Medien gleich. Deswegen würde ich mich auch nicht so furchtbar verführen lassen vom Drama im Film. Man muss irgendwann mal aus dem Drama auch raus, wieder in die wirkliche Beobachtung. Das Drama, die Handlung, das Sprechtheater. Das heißt, mit dem Tonfilm ist die eigentliche Freiheit in der Filmgeschichte unterbrochen worden und gewissermaßen ein Stück Theaterkunst da reingerutscht. Das kann man wieder unterbrechen. Daran bin ich fleißig tätig.
    Drees: Im frühen Fernsehen wurden Theaterstücke abgefilmt, und im Radio, selbst im Deutschlandfunk, wurde bis 1989 sogar noch Zeitung vorgelesen.
    Kluge: Aber Radio kann was ganz anderes. Und die Mündlichkeit, die ist etwas, was in unserem Jahrhundert ganz lebenswichtig ist. Wir glauben ja – Digitalität ist ja eine Form der Schriftlichkeit. Der Mensch wird nicht schriftlich geboren. Und digital – ich hab noch kein Kind gesehen, dass im Mutterleib digital auftrat. Das heißt, es gibt mündliche, persönliche, auf Berührung, Taktilität beruhende Tätigkeiten in unserer Gegenwart so wie in der Stammesgesellschaft vor 40.000 Jahren. Da sind Kontinuitäten, die sind gewaltig, und das sind auch große Anker, Rettungsanker. Sodass also die Moderne zwei Gesichter hat. Sie mag Fortschritt bringen, aber sie hat auch Anker und Glücksengel in der Vergangenheit. Das heißt, die Nachhut ist genauso modern wie die Vorhut. Das ist in der Poetik ein ganz wichtiger Punkt.
    Goethe als toller Erzähler "abseits von Abitursinteresse"
    Drees: Deshalb ist es möglicherweise sinnvoll, sich auch nach wie vor mit alten Texten zu beschäftigen, mit älterer Literatur, weil man dort etwas findet, was die Zeitgenossen Goethes beispielsweise gar nicht finden konnten im Goethe.
    Kluge: Ich lese Goethe ganz anders. Und wenn ich es mit Ben Lerners Augen mache, kommen da neue Geschichten heraus. Nehmen Sie "Die Wahlverwandtschaften". Das ist eine der klügsten Novellen von Goethe, wo er beschreibt, dass nach den Wahlverwandtschaften, also der Art, Liebesverhältnisse anzuknüpfen, die Chemie zwischen Menschen in Gang zu bringen, wenn das dazu führt, dass das Kind dort im See unrettbar ertrinkt, dann können die beiden Liebenden nur im Jenseits zusammenkommen. Das ist die feine Gesellschaft, die sich nach den Romanvorschriften verliebt und verhält.
    Und dann gibt es die beiden Nachbarskinder. Das ist eine kleine, versteckte Passage in demselben Stück bei Goethe. Da springt der Junge, der kommt aus einfachen Verhältnissen, dem Mädchen, das er liebt, ins Wasser nach, rettet es, und die werden glücklich. Die können im Diesseits sogar zusammenfinden. So was sind Goethe’sche Pointen, und die können wir hervorziehen. Und dann ist sozusagen der "Faust" siebenstündig bei Castorf noch mal so schön, weil Sie haben einen praktischen Goethe, Sie merken, was für ein toller Erzähler er ist, wenn man ihn nicht sozusagen mit Abitursinteresse betrachtet.
    "Es muss irgendeine Form von praktischem Glück geben"
    Drees: Jetzt sind wir bei den "Wahlverwandtschaften" von Goethe, sprachen zu Beginn darüber, dass der Tristan in "Schnee über Venedig" vorkommt. Ohne den Tristan wäre wiederum "Die Wahlverwandtschaften" gar nicht denkbar. "Die Wahlverwandtschaften" beziehen sich auf Tristan.
    Kluge: Richtig. Und wenn Sie jetzt davon ausgehen, dass in der Evolution Nachkommen erwünscht sind, dann würden Sie sagen, "Tristan und Isolde" genügt allein nicht. Denn die kriegen keine Kinder. Und Romeo und Julia haben auch keine Kinder gehabt. Es muss irgendeine Form von praktischem Glück geben, sagt meine Großmutter. Und schon fangen Sie an zu erzählen. Das heißt, Sie müssen dann auch Geschichten haben, wo dramatische Liebesgeschichten auch dazu führen, dass Kinder entstehen und glücklich werden und Erfahrung weitergeben. Und nicht, dass man im fünften Akt immer die Soprane ermordet, dass man gewissermaßen das Unglück der Liebe feiert.
    Meine Großmutter würde hier widersprechen als innere Stimme. Ich weiß ja, dass es so ist und dass Liebe sich in einem Labyrinth bewegt. Aber gleichzeitig, es gibt im Labyrinth Auswege, Ariadnefäden. Und die müssen wir suchen. Das nennt man "Die poetische Kraft der Theorie", und die gehört zur Poetik.
    Drees: Weil dann jemand kommen muss wie Walter Haug, der Mediävist, der einen schönen Aufsatz mal geschrieben hat über die sieben Liebesdiskurse des Tristan, in dem er beschreibt, wie durch die Fiktion Ideen in die Gesellschaft gebracht werden konnten, die man damals schlechterdings nicht aussprechen durfte, beispielsweise dass die Liebe zu einer Frau durchaus größer sein kann als die Ehre der Frau. Das war vorher anders. Das ist der erste Roman, der sich bei der Liebe auf eine Ich-Du-Beziehung umstellt und damit dann doch auch etwas Konstruktives hat.
    Kluge: Aber nehmen Sie zum Beispiel die Geschichte einer jungen Frau in der französischen Revolution. Ihr Mann ist eingekerkert, und sie weiß oder nimmt an oder ahnt, dass der Gefängnisdirektor, der der gegnerischen Fraktion angehört, ihren Mann morden wird. Sie verkleidet sich als Mann und bringt es fertig, im richtigen Moment zu intervenieren, ehe ihr Mann gemordet wird, und holt ihn aus dem Kerker. Das ist Leonore bei Beethoven. Und das ist einfach der Typ von Geschichte, den ich noch mehr liebe als die sehr verschlungene Geschichte eines Besatzers, der eine Frau seinem König als Beute bringt – das ist nicht mal Heiratsvermittlung, sondern das ist einfach Entführung.
    Daraufhin gibt sie ihm einen Liebestrank, und beide verschmelzen im Wahnsinn und sterben beide. Ob das sozusagen mein Idol ist im praktischen Leben, das bezweifle ich. Das wäre sozusagen – mein Vater würde sich da reinversetzen. Und meine Mutter und meine Großmutter würden sagen, ist nicht praktisch. Sie würden sagen, muss man noch mal neu erzählen. Wo ist der Ausweg? Und die Brangäne, das ist die Gefährtin von Isolde, die weiß Auswege.
    Drees: Sie haben dann ja dieses Problem, dass auf dem Schiff, auf der Überfahrt, Isolde ihre Jungfräulichkeit verliert. Und ab da wird es ja hochkomisch, weil sie dann überlegen, wie schaffen wir es denn, König Marke ja so zu täuschen, dass er es nicht bemerkt.
    Kluge: Da muss die arme Brangäne ran und stellvertretend im Dunkel der Nach herhalten und sich entjungfern lassen. Das ist aber witzig, und schauen Sie mal, der Witz als Ausweg. Das ist etwas, was mich fasziniert. Ein Stück Till Eulenspiegel, mitten im Drama. Das liebe ich.
    "Das 19. Jahrhundert auf den Prüfstand stellen"
    Drees: Man hat die unglaublich schweren Minnegesänge auf der einen Seite, und man hat Moritz von Craûn auf der anderen Seite.
    Kluge: Das ist alles ganz modern. Und eigentlich müssen wir etwas wiederholen, was Benjamin schon gemacht hat im "Passagen-Werk". Er hat da als Mensch von 1929 gesagt, wir verstehen unser Jahrhundert und uns selbst nicht, wenn wir nicht das 19. Jahrhundert auf den Prüfstand stellen und darstellen. Das Eisen, die Fotografie, die Revolution und was es gibt. Das hat er bewundernswert gemacht. Und ich sage Ihnen, wenn wir davon sozusagen das 80-fache gehabt hätten, hätten wir Hitler 1933 nicht gesehen als Kanzler. Das heißt, Aufklärung muss auch eine gewisse Masse haben. Und wir könnten heute zu mehreren diese Arbeit von Benjamin wiederaufnehmen. Er ist zu Unrecht gestorben, zu früh gestorben. Und wir können jetzt mit dem Blick vom 21. Jahrhundert die Erfahrung des 20. auf den Prüfstand stellen und genau das "Passagen-Werk" fortsetzen.
    Wenn das Humboldt-Forum so etwas tut, dann hat das einen Sinn. Wenn es nur Berlin-Tourismus fördert, hat es keinen Sinn. Und da ist zum Beispiel … Beim Humboldt-Forum können Sie ja sagen, der Stolz der Republik ist: 'Wir geben der Welt was.' Nicht, 'Wir berichten über uns.' Und das ist ein poetischer Auftrag, und der hat eben diesen Kern, Arbeiten, die liegengeblieben sind in der Geschichte, neu aufzugreifen. Sie nannten vorhin Goethe. Der hat es am wenigsten nötig. Aber bei Benjamin zum Beispiel ist es aktuell. Und damit kommen wir mithilfe von früheren Erzählungen dazu, die Jetztzeit überhaupt erzählbar zu machen.
    Erzählen "ist praktisch notwendig"
    Drees: Und stellen Sie sich vor, wie wunderschön das jetzt gerade war. Wir hätten nicht zusammengefunden heute, an diesem Tag, wenn es nicht einen Dichter gegeben hätte, Ben Lerner, der begeistert war von dem, was Sie gemacht haben, daraufhin geschrieben hat. Sie haben wiederum ihn gelesen –
    Kluge: … und beschrieben …
    Drees: ... auch mit ihm gesprochen. Sie haben "Tristan" mit reingebracht, über den Tristan kamen wir zu Goethe, wieder zurück zum Tristan, sind dann bei Benjamin, der wiederum über "Die Wahlverwandtschaften" einen wunderschönen Aufsatz geschrieben hat.
    Kluge: Das heißt, das alles, dies Erzählen, ist reich. Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste, und das ist sehr angenehm. Wie bei "Tausendundeiner Nacht". Und hält ein Stück Unheil möglicherweise in der Welt auf. Denn das Poetische ist nicht zu unterschätzen. Das ist keine luxurierende Tätigkeit und ist noch nicht mal bloß Kunst, sondern es ist praktisch notwendig. Das ist nämlich die Verbindung von Empfindung und Realität. Realität, das ist eine Sache, das beobachten wir mit Sinnen. Ob mein Kopf gegen eine Wand stößt, das werde ich merken, das sagen mir meine Sinne, das tut weh. Und auf der anderen Seite gibt es diese subjektive Seite, und die kann, das habe ich beobachtet in meinem Leben, zäh sein, konsistent sein und hart sein und entschlossen wie Beton. Also: Liebe lässt sich nicht betrügen.
    Alexander Kluge, Ben Lerner: "Schnee über Venedig"
    Mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbabbildungen von Gerhard Richter, Thomas Demand und R.H. Quaytman
    Spector Books, Leipzig. 300 Seiten, 28 Euro.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.