Wir leben in flüchtigen Zeiten. Nichts scheint mehr an einen Ort gebunden, Beziehungen sind temporär, alles ist ständig im Übergang. Nicht selten haben wir das Gefühl ziellos dahinzutreiben. So geht es auch dem Filmemacher Konstantin Stein. Er steckt in einer Sinnkrise. Er ist 43 Jahre alt und lebt getrennt von der Mutter seines zwölfjährigen Sohns Theo. Er kommt beruflich nicht so recht voran. Er arbeitet sein Leben in der Psychotherapie auf. Und seine Eltern werden langsam alt.
"Vor etwa zehn Jahren hatte sein Vater angefangen, Dinge zu sehen, die niemand anders sah. Manchmal erschienen blonde Mädchen im Wald, manchmal fand unter einem dunklen Fenster ein Fußballspiel statt, das nur er wahrnehmen konnte. Vor etwa fünf Jahren begann er sich zu verfahren. Der Verkehr schien ihn zu überfordern (…) In vielen Familienrunden schaltete er ab. Sein Kinn sackte, sein Mund stand offen, sein Blick wurde trübe."
Claus Stein, zu DDR-Zeiten ein angesehener Tierfilmer, leidet an Demenz. Seine Frau Maria will ihn in ein Pflegeheim in Prenzlauer Berg geben, in dem schon ihre Mutter Elena die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hat. Konstantin ist davon wie vor den Kopf gestoßen. Die Urzelle seiner Existenz, die Eltern, treibt es auseinander. Die gemeinsame Geschichte verblasst im Kopf seines Vaters.
Weltbürger wider Willen
Konstantin kommt gerade vom Schwarzen Meer, wo er für ein Drehbuch recherchiert hat. Er begleitet den serbischen Tennisspieler Bogdan, der wie Novak Djokovic als Kind aus Belgrad floh. Aber während Djokovic schließlich Nummer eins der Tennis-Weltrangliste wurde, blieb Bogdan ein ewiges Talent. Doch er führte ein bewegtes Leben. Für ein Tennisstipendium ging er an ein US-College, studierte Literaturwissenschaften, schrieb zwei Romane, die nie erschienen sind, heiratete eine jüdische Bibliothekarin aus Odessa und zog nach Berlin, um russischen Oligarchen Tennisunterricht zu geben.
Ein Flüchtling und ein, wie Konstantin sagt, "Weltbürger wider Willen", in dessen Geschichte sich die Geschichte unserer Zeit spiegelt. Aber der Filmemacher scheint in Bogdans Biografie noch etwas anderes zu suchen. Eine existenzielle Wahrheit. Aber er findet sie nicht. Er überlegt, ob nicht die Demenz seines Vaters ein besseres Filmthema wäre. Seine Mutter hat sein Hadern bemerkt, und als er sie besucht, empfängt sie ihn mit ein paar an die Wand gehefteten alten Landkarten und Familienfotos, die sie auf einem Tapetentisch drapiert hat.
",Ich habe den Eindruck, dass du dein Thema nicht findest‘, sagte seine Mutter. ,Oh‘, sagte er. ,Ja‘, sagte sie. ,Ich will jetzt nicht deine Filmographie herunterleiern, wenn man denn von Filmographie sprechen kann. Du weißt ja, wovon ich rede. Ich habe gedacht, ich liefere dir ein Thema, was dich mehr angeht als das Leben irgendeines kroatischen Tennisspielers.‘ ,Er ist Serbe‘, sagte er. ,Es ist unsere Familiengeschichte‘, sagte sie. ,Unsere?‘, fragte er. Konstantin dachte an den Film über seinen Vater, den er vor einer halben Stunde geplant hatte. ,Meine, und damit ja auch deine‘, sagte sie."
Die Geschichte der eigenen Familie mütterlicherseits erzählen
Konstantin Stein erscheint in diesem Roman als das Alter Ego des Autors und Spiegel-Journalisten Alexander Osang, der in "Die Leben der Elena Silber" mit den Mittel der Fiktion die Geschichte seiner eigenen Familie mütterlicherseits erzählt. Von Kapitel zu Kapitel springt er zwischen Historie und Gegenwart, die sich im Laufe des Romans immer weiter aufeinander zubewegen und verschränken.
Denn Konstantin Stein macht sich, wenn auch zunächst widerwillig, tatsächlich daran, dem bewegten Leben seiner Vorfahren nachzuspüren. Und bald wird deutlich, dass seine Großmutter Elena Silber, ebenso wie der Tennisspieler Bogdan, eine "Weltbürgerin wider Willen" war. Wenn auch in einer anderen Welt und einer anderen Zeit.
Sie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts als Jelena Krasnow in Gorbatow geboren, der etwa 400 Kilometer östlich von Moskau am Fluss Oka gelegenen kleinsten Stadt Russlands. Ihr Leben war eine einzige Flucht – zunächst floh sie vor den Soldaten des Zaren, die ihren Vater Viktor, einen Kommunisten, ermordeten. Dann vor ihrem Stiefvater, der sie missbrauchte. Ihm entkam sie durch die Liaison mit einem deutschen Textilingenieur, der auf Einladung Lenins die industrielle Massenproduktion vorantreiben sollte.
"Der Deutsche hieß Robert F. Silber und sah nicht so aus, wie sich Jelena einen Deutschen vorgestellt hatte. Er hatte dunkle Haare, dunkle Augen und roch phantastisch. Er roch nach Süden, dachte Jelena. Der Mann schien einem Abenteuerroman entstiegen zu sein – ein Georgier eher oder ein Spanier – er war jünger und kleiner als der deutsche Ingenieur, den sie erwartet hatte. Er erschien in Begleitung von zwei Kofferträgern und einer Dolmetscherin aus Moskau, was seinen glamourösen Auftritt unterstrich."
Flucht mit Familienschmuck
Die beiden heirateten, und aus Jelena Krasnow wurde Elena Silber. Die Aktivitäten ihres Mannes blieben ihr lange verborgen. Die junge Familie zog es nach Moskau, dann über Leningrad nach Berlin und schließlich ins niederschlesische Sorau, wo Silbers Eltern eine Textilfabrik betrieben. Haushalt und Betreuung der fünf Töchter übernahmen Gefangene des Konzentrationslagers Christianstadt. Allmählich wird dem Leser klar, wie tief Robert F. Silber in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt war. Im Februar 1945 erreichte die sowjetische Armee Sorau, und er floh mit dem Familienschmuck nach Berlin.
"Robert war immer ein abwesender Vater gewesen. Die Mädchen waren daran gewöhnt. Aber als er zwei Monate nicht auftauchte, fragten sie nach ihm. Jelena hatte ihnen erzählt, ihr Vater sei ihnen nach Berlin vorgefahren. Sie brauchten eine Erzählung. Eine Perspektive. Eine Hoffnung. Jeder brauchte das. Sie hatte die Geschichte immer mehr ausgeschmückt. (…) Sie hatte nur die Phantasie, die Erinnerung und baute daraus eine Geschichte, in der sie leben konnten."
Elena Silber stand vor der Wahl: Sollte sie mit ihren Töchtern zurück in die russische Heimat gehen oder der hoffnungsvollen Geschichte folgen, die sie selbst gesponnen hatte, und ebenfalls nach Berlin aufbrechen? Sie ging Richtung Westen und ließ die Vergangenheit hinter sich. Das Schicksal und das dunkle Geheimnis ihres Mannes waren für sie und ihre Familie von da an kein Thema mehr.
Suchantrag beim Roten Kreuz
Ihr Enkel Konstantin Stein reist 70 Jahre später gen Osten, um genau dem nachzuspüren. Er besucht mit seinen Eltern Sorau und fährt mit seinem Cousin nach Gorbatow. Vergangenheit und Gegenwart, Biografie und Historie fallen zusammen. Osang zieht die Motive von abwesenden Vätern, pragmatischen und emotional kühlen Müttern sehr kunstvoll durch die Generationen. Konstantin nimmt Kontakt zu seinen Vorfahren auf und erkennt sich und sein Leben in ihnen.
"Als er aus Moskau nach Hause gekommen war, hatte im Briefkasten die Antwort auf seinen Suchantrag beim Roten Kreuz gelegen, den er vor zwei Monaten gestellt hatte. Es gab keine Informationen über den Verbleib von Robert Silber, auch nicht in den sowjetischen Archiven, die vor ein paar Jahren geöffnet worden waren. Konstantin hatte das Gefühl gehabt, die Todesnachricht eines nahen Verwandten erhalten zu haben."
"Die Leben der Elena Silber" ist ein überaus ambitionierter Roman, der nicht nur ein Panorama des 20. Jahrhunderts aufzieht, sondern auch vom Erzählen und Erinnern selbst handelt und sich inhaltlich und formal immer wieder auf die Klassiker der russischen Literatur bezieht. Vor allem ist es aber ein Buch über die Flucht als, wie es an einer Stelle heißt, "Lebenshaltung".
Karikaturen ihrer selbst?
Elena Silber flieht vor den Vertretern der jeweils herrschenden Ideologien, ihre Familie flieht vor der Vergangenheit, und Konstantin Stein flieht davor, Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen. Das zeigt sich auch in einem Wechsel der Erzählhaltung.
Während Osang die Historie dunkel, schwer und durch die vielen unausgefüllten Lücken in der Erzählung geheimnisvoll erscheinen lässt, schildert er die Gegenwart flapsig und leicht spöttelnd, sodass man den Eindruck bekommt, er nehme seine Figuren – allen voran den dementen Vater, die narzisstische Mutter und den neurotischen Konstantin – nicht so richtig ernst und zeige sie in einem ironischen Tonfall wie Karikaturen ihrer selbst. Aber vermutlich erzählt uns diese größte Schwäche dieses historisch prallen und unterhaltsamen Romans etwas über Osangs Blick auf die flüchtige Gegenwart.
Alexander Osang: "Die Leben der Elena Silber"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 24 Euro, 620 Seiten.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 24 Euro, 620 Seiten.