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Alexander von Humboldt
Der digitale Nachlass eines Universalgelehrten

Er reiste nach England, Russland und Amerika: Alexander von Humboldt. Unterwegs führte er Reisetagebuch - und darin beweist er, dass er über Flora, Fauna und Menschen, aber ebenso auch über Geografie berichten konnte. Jetzt werden Teile seiner Schriften Stück für Stück erschlossen und digital publiziert.

Von Andreas Beckmann |
    Cover "Das Buch der Begegnungen" von Alexander von Humboldt / im Hintergrund ein Bild Humboldts
    "Das Buch der Begegnungen" - eine analoge Auswahl aus Alexander von Humboldts Reisetagebüchern (Verlagsgruppe Random House)
    "Die Nacht vom 3ten zum 4ten ward sehr unruhig zugebracht. Wir glaubten, die letzte Nacht auf europäischem Boden zu schlafen. Wenn der Wind sich änderte, sollten wir früh um 8 Uhr absegeln."
    Alexander von Humboldt war immer nervös, wenn er auf große Fahrt ging. Selbst noch 1799, vor seiner legendären Amerikanischen Forschungsreise. Ganz besonders aber neun Jahre zuvor, als er zwanzigjährig zu seiner ersten Expedition nach England aufbrach. Sie wurde zur seiner Initiation als Forscher, berichtet der Literaturwissenschaftler Tobias Kraft, der die "Arbeitsstelle Alexander von Humboldt auf Reisen – Wissenschaft aus der Bewegung" an der BBAW leitet.
    "Vielleicht mit das Wichtigste ist die Begegnung mit dem Meer. Auch einer marinen Kultur, die zu der Zeit längst eine Weltreisen-, eine Eroberungskultur war. Dafür ist die Englandreise ein ganz entscheidender Moment, in dem Humboldt klar wird, das ist meine Zukunft."
    Schon auf der England-Fahrt hatte Humboldt Tagebuch schreiben wollen, er kam dann aber kaum dazu. In der Kladde, die er extra mitgenommen hatte, blieben die meisten Seiten leer. Und damit er als Forscher farblos. Ganz anders als im Briefwechsel mit dem Zoologen Christian Gottfried Ehrenberg, mit dem Humboldt 1829, fast 40 Jahre später, seine letzte große Forschungsreise nach Sibirien unternommen hatte, erzählt die Archivarin Anette Wendt.
    "Das ist ganz, ganz klar eine Schüler-Lehrer-Beziehung. Ehrenberg ist zwar wirklich eine Koryphäe auf seinem Gebiet in seiner Zeit, aber der ist 26 Jahre jünger und sieht Humboldt immer als den riesengroßen Forscher an und dankt ihm jedes Mal."
    Humboldts Netzwerke
    Denn Humboldt hatte mit Gutachten die Karriere des jungen Ehrenberg entscheidend gefördert. Das hinderte ihn aber nie daran, mit Ehrenberg stets auf Augenhöhe zu kommunizieren.
    "Ich würde sagen, in dem Briefwechsel wird von Humboldts Seite aus eine großzügige Nähe hergestellt. Er spricht ihn an, mein sibirischer Reisekumpan, also er lässt sich nicht herab, klingt auch nie irgendwie belehrend."
    "Ich gehe morgen, um meinem Bruder Ihre scharfsinnigen Betrachtungen über den Verkehr zwischen Menschen und Affen vorzulesen. Wollten Sie, theurer (sic) Freund, mir für ihn auf ein Paar Tage Ihr Wörterbuch von Shakespeare leihen? Freundschaftlichst, Ihr AHumboldt"
    "Er war definitiv ein Netzwerker. Sein Lebenswerk, der Kosmos, wäre nie entstanden, wenn er nicht ein Netzwerk aus Forschern gehabt hätte."
    Humboldts Zweifel
    Humboldt war sich seiner Ausnahmestellung durchaus bewusst. Doch genauso klar war ihm, dass wissenschaftliche Höchstleistungen auch schon vor 200 Jahren nur im Team möglich waren.
    "Er hat sich ja auch für alles interessiert. Und wo er sich nicht mehr auskannte, wusste er, wen er fragen musste."
    Der Mensch Alexander von Humboldt wird auch in den Tagebüchern seiner fünfjährigen Amerikareise sichtbar, freut sich die Mathematik- Historikerin Ulrike Leitner, die diese Berichte für die digitale Edition aufbereitet hat.
    "Das war für mich überraschend, dass man auch solche Passagen fand, wo Humboldt über seine Ängste auf dem Meere schreibt, Piraterie und Krieg zwischen Spanien oder England und Frankreich war ja doch immer ein großes Thema. Man war immer ängstlich, wenn man von Ferne ein Segel sah, aus welcher Ecke das nun kam."
    Trotz einiger brenzliger Begegnungen erreichte Humboldt wohlbehalten den damals spanischen Teil des Kontinents, also Mittel- und Südamerika.
    "Er wusste ja nicht, ob er wieder zurückkommt. Das hat er auch irgendwann mal gesagt. Und dass er eben die Freunde vermisst hat, die Familie, seinen Bruder. Da gibt es manchmal so melancholische Äußerungen in den Tagebüchern."
    Humboldts Neugier
    Vor allem aber zeigen die Tagebücher den Universalgelehrten, der über Flora, Fauna und Menschen ebenso berichtet wie über Klima und Geografie. Dabei wechselt er beständig zwischen dem Deutschen und dem Französischen, fällt aber auch manchmal ins Spanische. Zwischendrin schildert er die Pflanzenwelt auf Lateinisch, wie es damals üblich war. Ulrike Leitner nennt die Amerikanischen Tagebücher Kunstwerke.
    "Manche sind stilistisch überhaupt nicht ausgefeilt, manche sind wirklich nur ganz knappe Notizen, aber manche sind wirklich ganz schöne, ausgefeilte Texte, die publikationsreif sind. Wenn man das sieht, wie die gestaltet sind von Humboldt, mit Zeichnungen dazwischen, dann kann man die durchaus auch als Kunstwerke ansehen."
    Nicht nur die Form ist beeindruckend, auch der Inhalt.
    "Man ist wirklich erstaunt, was Humboldt für ein Hintergrundwissen mit sich genommen hat. Wie die Instrumente funktionieren, den Stand der Astronomie in der Zeit, mathematische Methoden, hat er alles. Das ist relativ neu, das zu wissen. Auch seine botanischen Kenntnisse."
    Humboldts Amerika-Tagebücher sind aber nicht nur wissenschaftshistorisch interessant. Seine Ergebnisse fließen bis heute in aktuelle Forschungsvorhaben mit ein.
    Humboldts Aktualität
    "Es hat heute eine große Relevanz wieder durch die Bio-Diversitätsforschung, zum Beispiel auch klimatische Veränderungen. Er hat ja auch die Schneehöhen gemessen überall und der Vergleich zu heute und die Veränderungen der Landschaft und die Pflanzengeografie, also der historische Vergleich zu heute ist natürlich enorm wichtig."
    Die Tagebücher sind auch für Historiker eine wertvolle Quelle, denn Humboldt interessierte sich stets auch für die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die an jenen Orten herrschten, die er besuchte. Und er ist einer der wenigen Lateinamerika-Reisenden jener Zeit, die es verstanden, ihre Unabhängigkeit zu wahren, ergänzt Tobias Kraft von der "Arbeitsstelle Alexander von Humboldt auf Reisen".
    "Natürlich, Humboldt ist ein europäischer Forschungsreisender. Und er ist ein Zeitzeuge, der nicht fern der Herrschaftsordnung seiner Zeit lebt. Es ist klar, dass er nur deshalb in die amerikanischen Kolonien reisen konnte, weil er vom spanischen König einen Reisepass bekommen hatte, der ihm diese Türen überhaupt erst geöffnet hat. Aber er reist nicht im Auftrag des Königs, nicht finanziert vom König. Durchaus unter dem Schutz, sonst hätte er nicht so reisen können, wie er es tat, aber das hat ihn nicht davon abgehalten, äußerst kritisch über die spanische Herrschaft zu berichten.
    Das zeigt sich besonders in seinem Kuba-Tagebuch, das lange als verschollen galt, inzwischen aber von der Berlin-Brandenburgischen Akademie wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde."
    Humboldts Kolonialismus-Kritik
    "Wo er sehr deutlich sich zur Sklaverei äußert und zum Sprengstoff, der für eine Gesellschaft darin liegt, ein solches Herrschafts- und Unrechtssystem aufrechterhalten zu wollen."
    "Ein gar nicht sehr wohlhabender Mann, schlug geißelte drei seiner Sklaven tot im Jahre 99. Man bemängelte das factum und er blieb ungestraft. Auch hat die Unthat (sic) seinem Rufe nicht geschadet. Was schadet hier dem Rufe? Jeder quält nach seiner Theorie!"
    "Er hat ja mit allen Gesellschaftsschichten zu tun, vom Vizekönig bis hinunter zum indigenen Sherpa, der ihn durch die Berghöhen begleitet. Er lebt auch mit all diesen Schichten zusammen, sowohl mit dem Vizekönig wochenlang, als auch am Orinoco in Indianer-, man würde heute sagen Reservaten, damals waren das Missionarssiedlungen."
    Schonungslos beschreibt Humboldt den brutalen Umgang mit der indigenen Bevölkerung. Dabei spart er auch nicht aus, wie er selber an deren Ausbeutung partizipiert, wenn er einheimische Bergführer und Lastenträger anheuert.
    "Der Sohn unseres Wirthes führte uns durch das wilde Gebüsch. Alle 20 Min. wollte er sich setzen. Es ist aber nicht Schwäche, oft nur Unbekanntschaft mit eigenen Kräften. Redet man dem Indianer zu, so läuft und trägt er trotzdem Europäer. Von seiner Gutmüthigkeit (sic) ist alles zu erlangen."
    Humboldts Erbe
    "Er denkt nicht kolonialistisch. Er erkennt ganz klar, wie der europäische Kolonialismus im Widerspruch zu seinen eigenen Idealen etwa der französischen Revolution steht, welche Zerstörung er anrichtet, welches gesellschaftliche Leid er befördert hat und wird in seinen Tagebüchern sehr deutlich, aber auch in seinen publizierten Schriften Jahrzehnte später."
    Als diese Schriften im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erschienen, waren einige der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege bereits im Gange, andere sogar schon abgeschlossen. Aber als Humboldt den Subkontinent bereiste, erlebte er noch die letzten Tage des spanischen Kolonialismus. Und er spürte das Brodeln in den Gesellschaften und die sich anbahnenden Aufstände. Folglich dürfte ihm klar gewesen sein, wie brisant seine Aufzeichnungen der Spanische Krone erscheinen mussten, meint Tobias Kraft.
    "Was sicher auch ein Grund dafür ist, dass er am Ende seiner Reise 1804 nicht etwa nach Spanien zurückkehrt, wo er in La Coruna 1799 losgefahren war, sondern nach Bordeaux fährt, nach Frankreich. Weil er wusste, dass seine Haut da sicherer ist, als wenn er sich in Spanien in die Gefahr begibt, dass man dort eventuell seine Texte, seine Manuskripte konfisziert hätte."
    Alexander von Humboldt konnte seine Schriften in Sicherheit bringen. Jetzt werden sie Stück für Stück von der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erschlossen und digital publiziert – zum ersten Mal vollständig und besser zugänglich als je zuvor.
    Der digitale Nachlass von Alexander von Humboldt findet sich, soweit bisher erschlossen, im Netz unter http://edition-humboldt.de