Ich versuche, die deutsche Frage als Ausdruck einer weltpolitischen Strategieentwicklung und -veränderung darzustellen, und komme von daher zu dem Schluss, dass die amerikanische Politik ein großes Interesse daran haben musste, die deutsche Frage und damit auch die westdeutsche Politik und Regierung ins Zentrum ihrer neuen Strategie zu stellen. Denn wenn man Gorbatschow beim Wort nehmen wollte mit seinem europäischen Haus, dann hätte das bedeutet, dass sich der sowjetische Einfluss - damals existierte die Sowjetunion noch - nach Westen ausgedehnt hätte, und es gab viele politische Strömungen in Westeuropa, die sich für diese Politik Gorbatschows stark machten.
Aus zahlreichen Dokumenten schält sich für Alexander von Plato das geopolitische Ergebnis heraus: Die deutsche Vereinigung hat die amerikanische Dominanz in Europa erhöht. Gründe dafür waren zum einen die neue Europastrategie Amerikas, die bereits Anfang 1989 auf ein vereinigtes Deutschland als zentralen Punkt setzte; zum zweiten die französische Verzögerungstaktik, die ein europäisches Sicherheitssystem bevorzugte, damit aber weithin isoliert war; zum dritten die den Deutschen gegenüber strikte Verweigerungshaltung Margaret Thatchers; schließlich die unausgewogene Strategie Gorbatschows, deren politische Hilflosigkeit - aus sowjetischer Sicht - in einer Niederlage endete.
Es gab eine Deckung der Interessen: die Regierung Kohl wollte die Wiedervereinigung aus allgemeinen nationalen, eher traditionellen Gründen, die amerikanische wollte sie, um ihre Dominanz in Europa zu erhalten oder sogar auszudehnen. Und dieser Interessenzusammenfall war letztlich die Voraussetzung für die positive Entwicklung dieser Politik, wenn man sie als positiv sieht.
Es ist ein durchaus kritisches, um nicht zu sagen: zwiespältiges Fazit, das Alexander von Plato zieht: Deutschland ist zwar vereint, aber ein sicherheitspolitisches Gesamtkonzept für Europa steht nach wie vor aus. Der Autor kommt zu dieser Beurteilung, indem er den westlichen Dokumenten die geheimen Moskauer Protokolle gegenüberstellt. Zwar existiert für diese Protokolle weiterhin eine Sperrfrist, aber Alexander von Plato durfte die Kreml-Papiere trotzdem einsehen, als vermutlich erster ausländischer Historiker. Die dadurch möglich gewordene Zusammenschau der Mitschriften ein und desselben Treffens aus westlicher und östlicher Sicht offenbart, wie sehr auch scheinbar "objektive" Akten von der jeweiligen subjektiven Interessenlagen der protokollierenden Regierung abhängig sind. Natürlich weiß jeder Historiker, wie sehr Zeitzeugen von ihrer subjektiven Sicht geleitet sind. Von Plato, der aus der Mentalitätsforschung herkommt, war deshalb skeptisch, was Prominenteninterviews wohl bringen würden. Doch nun zeigte sich: gegenüber den Akten, deren Akzentuierung ebenfalls interessengeleitet ist, ohne dass dies zunächst deutlich wird, zeigen die Befragungen der Prominenten viel deutlicher, wo die wirklichen Widersprüche liegen. Die Schlussfolgerung von Platos:
Ich habe über die Interviews mindestens so viel gelernt wie über die Akten.
In Deutschland wird die Bedeutung der amerikanischen Politik für die Wiedervereinigung oft heruntergespielt. Merkwürdigerweise verzichten die Amerikaner großzügig auf die Führungsrolle: Haben sie sich so eindeutig durchgesetzt, dass sie ihre Interessen nicht mehr betonen müssen?
Das ist eine interessante Frage, warum werden die Amerikaner, also die Politik Bushs, in Europa oder in Deutschland ein bisschen hintangestellt? Das liegt auf der Hand. Es reduziert die eigenen Meriten, wenn man sagen muss, das Ganze ist nur unter dem Schild und im Sinne der Interessen, auch der Interessen der Amerikaner, entstanden. Das leuchtet ein, dass man das nicht gerne getont. Ich glaube, dahinter steckt noch ein bisschen mehr: die Widersprüche zwischen europäischen Staaten erst einmal untereinander, dann aber auch gegenüber den USA, sind ja in diesen letzten zehn Jahren durchaus gewachsen oder kamen jedenfalls deutlich zum Vorschein. In so einer Situation stellt man sich selbst nicht gerne als jemand dar, der die amerikanischen Interessen zumindest mitvertreten hat.
Für einen nationalen Wiedervereinigungsmythos in Deutschland eignet sich die amerikanische Strategie nicht - jedenfalls deutlich weniger als eine Bürgerbewegung mit dem Ruf "Wir sind das Volk" und ein Bundeskanzler, der das historische "window of opportunity" nutzte. Kritisch sieht von Plato auch den angeblichen "Meistertaktiker" Gorbatschow. Das mehrfache Wechseln seiner Strategie erklärt der Autor damit, nicht einmal einem "Herkules der Weltgeschichte hätte es gelingen können", die innersowjetischen wie internationalen Problem auch nur ansatzweise zu lösen.
Ich frage mich natürlich, warum hat Gorbatschow seine Theorie vom europäischen Haus, die am Anfang nur ein schönes Bild war, nicht ernsthaft in eine politische Strategie münden lassen, und das hieß für die damalige Situation, warum ist er nicht oder zumindest nicht rechtzeitig zu einer Vorstellung eines europäischen Sicherheitssystems gekommen, was die Nachkriegsblöcke NATO und Warschauer Pakt ablöst und eine europäische Dominanz in der Sicherheitspolitik herstellt.
Wer nur hinter der jeweiligen Entwicklung hinterherhinkt, den bestraft das Leben, könnte man ironisch gegen Gorbatschow einwenden. Der kluge Spruch fällt auf seinen Urheber zurück. Dass Gorbatschow "mit offener Seele" auf Europa und Amerika zuging, wurde ihm nicht gedankt. Warum hat er nicht die für Kohl sicher unangenehme Frage gestellt: Wiedervereinigung ja, aber nur innerhalb eines europäischen Sicherheitssystems? Alexander von Plato arbeitet die Schwachstellen nicht nur Gorbatschows sehr deutlich heraus. Deutlich wird anhand der Quellenvergleiche auch die Hilflosigkeit Mitterrands und die Generationsblindheit Margaret Thatchers, die im Ernst ein Nachgeben gegenüber Kohl mit dem "Appeasement" Chamberlains 1938 in München verglich. von Plato folgert daraus:
Die Westeuropäer waren selber nicht reif für eine europäische Sicherheitsstruktur, weil sie in ihren eigenen Interessen, historischen Verhaftungen geblieben waren und nicht einer neuen Sicherheitsarchitektur auch nur annähernd folgen konnten - nur Mitterrand. Deshalb ist es auch so ungerecht, dass Mitterrand immer mit der Thatcher gleichgesetzt wird, weil er sich schließlich natürlich, als er merkte, dass mit den Russen nicht mehr viel zu holen war in dieser Richtung, nicht gegen seine westeuropäischen Freunde stellen konnte und nur noch verlangen konnte von Kohl, wir kriegen zumindest den Euro vorher. Dem hat Kohl zugestimmt, obwohl er behauptet, dass es nicht im Interesse der Deutschen war.
Alexander von Plato sieht - gut zehn Jahre danach - die Wiedervereinigung in einer neuen europäischen Perspektive: er setzt in kriminalistischer Kleinarbeit, wiewohl mit der Seriosität des Historikers, ein weltpolitisches Puzzle zusammen, das aus einer Menge unbekannter, zum Teil witziger Details besteht. Das Resultat ist eine hochspannende Studie, die die großen Linien machtpolitischer Strategien eindrucksvoll nachzuzeichnen versteht: ein herausragendes Buch.
Conrad Lay über Alexander von Plato: Die Vereinigung Deutschlands - Mythos und Wirklichkeit. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle. Veröffentlicht im Christoph Links Verlag Berlin, 300 Seiten für 19 Euro und 90 Cent.