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Alfred Müller-Armack und das deutsche Wirtschaftswunder

Alfred Müller-Arm war Wirtschaftswissenschaftler und wäre in der kommenden Woche 110 Jahre alt geworden: Er ist der geistige Vater der sozialen Marktwirtschaft. Wie aktuell die damaligen Überlegungen von Alfred Müller-Armack auch heute noch sind, dieser Frage gehen aktuell Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler nach, gerade auch mit Blick auf die immer noch schwelende Wirtschafts- und Finanzkrise.

Von Anja Arp |
    Wirtschaftswunder Deutschland: Die Wirtschaft boomt, die Löhne steigen und Arbeitszeiten werden kürzer. Der Arbeitsmarkt ist sogar so offen, dass Hunderttausende von Gastarbeitern ins Land geholt werden. Ein Grund für das Wirtschaftswunder ist eine deutsche Nachkriegserfindung: Die soziale Marktwirtschaft. Viele denken Ludwig Erhard sei der Vater der Idee. Doch der eigentliche Vordenker war der Wirtschaftswissenschaftler Alfred Müller-Armack. In seinem Buch "Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft" hat er sie als Gegenentwurf entwickelt: Als dritten Weg zwischen Kapitalismus pur und sozialistischer Planwirtschaft. Frank Schulz-Nieswandt, Professor an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln:

    "Müller-Armack ist eine Variante eines, sagen wir mal, sozialverantwortlich ausgerichteten, ethisch durchdachten Kapitalismus, der sozusagen Vor- und Nachteile auch versucht, zu vereinen."

    Die soziale Marktwirtschaft beschert Deutschland Jahrzehnte lang zufriedene Bürger. Als Deutsches Modell weltweit berühmt - verknüpft sie Wirtschaft mit Sozialpolitik. Alfred Müller-Armack beschreibt seinen wirtschaftstheoretischen Ansatz so:

    Ich möchte sie als Formel bezeichnen, die versucht die Ideale der Gerechtigkeit, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wachstums in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen. Sie bedarf der Weiterführung der Vervollkommnung und auch der kritischen Sichtung.

    Alfred Müller-Armack hat in mehreren Städten Wirtschaftswissenschaften und Philosophie studiert und promovierte 1923 in Köln. Er war Freund, Weggefährte und langjähriger Mitarbeiter von Ludwig Erhard. In ihm fand die Idee der sozialen Marktwirtschaft einen wichtigen Anhänger. Nach Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und jahrelanger Nazi-Herrschaft wollten beide eine positive neue Wirtschafts- und Gesellschaftsidee für die Zukunft installieren.

    "Das war eine Befreiung aus Lebensmittelkarten, Planwirtschaft, die jeden Schritt vorgeschrieben hatte. Und es war ein mutiger Sprung aus dieser Befehlswirtschaft in eine Wirtschaft, in der die Verbraucher das letzte Wort haben."

    Der CDU-Politiker Norbert Blüm, lange Jahre Bundesarbeitsminister, hat den wahren Vater der sozialen Marktwirtschaft noch persönlich kennen gelernt:

    "Und zwar als ein Professor, Politiker, der zuhören konnte, der nachdenklich war. Der auf neue Argumente nicht abwehrend, sondern nachdenklich reagiert hat."

    Gedanklich sind die beiden CDU-Politiker Norbert Blüm und Alfred Müller-Armack der katholischen Soziallehre verpflichtet:

    "Er hat sich gegen die Verwirtschaftlichung des Lebens gewehrt. Sondern eher umgekehrt, die soziale Marktwirtschaft als Ordnung innerhalb eines größeren Kulturgebildes gesehen. Also eine gebändigte soziale Marktwirtschaft. Und sein großer Traum, über den er auch geschrieben hat, eine zweite Phase der sozialen Marktwirtschaft. In der, wie er sagt, die gesellschaftlichen Umwelt eine größere Bedeutung erhält. Unter gesellschaftlicher Umwelt hat er keineswegs nur die Ökologie gesehen sondern Bildung, eine Gesellschaftsordnung, die mehr Selbstständigkeit erlaubt."

    Der Zigarren-Raucher Ludwig Erhard machte das Deutsche Wirtschaftswunder politisch möglich, obwohl er selbst diesen Begriff nicht mochte. Erhard führte die Währungsreform gegen den Willen der Besatzungsmächte ein. Sein Motto: Wohlstand für alle.

    "Ich beabsichtige mit den gleichen Mittel der Wirtschaftspolitik weiterhin die soziale Ausrichtung unserer Marktwirtschaft unter Beweis zu stellen."

    1952 betraut Ludwig Erhard seinen Freund Müller-Armack mit der Leitung der einflussreichen Grundsatzabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums.

    "Er war auch einer derjenigen, die nach den Jahren des großen Wirtschaftswunders das Ungenügen einer rein am Wettbewerb und Markt orientierten Verständnis der sozialen Marktwirtschaft, den Menschen, den Homos Sapiens zu reduzieren auf Homos Ökonomikus - das ist ein Vergewaltigung des Menschen."

    Kritiker, die zum Beispiel an das unbegrenzte freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte glauben, halten Sozialpolitik dagegen eher für die Archilesferse einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik.

    "Müller-Armack war aber stärker interventionistisch, hat also mehr argumentiert, dass der Staat auch eingreifen muss. Und er gehört sicherlich eher zu den Richtungen, die fundiert haben, dass wir Sozialpolitik, soziale Ordnungspolitik, Sozialrecht usw. als eine Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung benötigen. Und insofern war er sicherlich prägend über die Parteien hinweg. Es gibt ja sehr stark sozialdemokratische Kreise in der Christdemokratie, Sozialdemokratie - ausscheren tut natürlich die liberale Partei. Aber ich denke, Müller-Armack gehörte zu den positiven Argumentationen: Sozialpolitik gehört zu einer stabilen Marktwirtschaft dazu."

    Die Idee der sozialen Marktwirtschaft wird in Politik und Wissenschaft nach wie vor diskutiert. Dabei geht es vor allem um die Zukunft des Sozialstaats. Prof. Frank Schulz-Nieswandt, der heute an der selben Fakultät lehrt, wie einst sein berühmter Kollege, sieht sich durchaus in der Tradition von Müller-Armack:

    "Natürlich bin ich im Detail vielfach Kritiker. Wir könnten oft mit dem Geld intelligenter umgehen als wir es tun. Ich gehöre aber nicht zu diesen dramatischen Autoren, die bis hin Sozialstaat als Tatort, Missbrauchsdebatten, das so übertrieben darstellen. Aber wir haben in vielen Bereichen natürlich Modernisierungsbedarf."

    Und den hat Alfred Müller-Armack selbst bereits in den späten 50er Jahren gesehen. Er bemerkte skeptisch:

    Die heutige gesellschaftliche Lage in der Welt ist gekennzeichnet durch eine soziale Auflösung. Durch die Gespaltenheit sowohl des Individuums, wie der Gesellschaft. Der Einzelne wird in dem Maße, in dem er sein Recht und seine Verpflichtung gegenüber seiner Gruppe nicht mehr empfindet, Ansprüche gegenüber der Allgemeinheit und gegenüber anderen Gruppen, um so stärker geltend machen.

    Das Wirtschaftswunder ist noch auf vollen Touren, da stört Müller-Armack schon die satte Zufriedenheit der Nierentisch-Generation. Sein Forderungen klingen noch heute aktuell: Mehr Investitionen in Bildung und Wissenschaft. Und er sorgte sich schon damals um die europäische Integration, den Umweltschutz und die immer schwieriger werdende Situation in den Entwicklungsländern.

    Und dann war es auf einmal tatsächlich vorbei mit der satten Zufriedenheit. 1967 gab es bereits 400.000 Arbeitslose. Ein Jahr zuvor hatte die Kohle- und Stahlkrise Kanzler Ludwig Erhard hinweggefegt und die große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger heraufbeschworen. War die soziale Marktwirtschaft nur etwas für sorglose gute Jahre und nichts für Krisenzeiten? Frank Schulz-Nieswandt:
    "Ja, im gewissen Sinne ist das natürlich richtig. Zum großen Teil ist Sozialpolitik Umverteilung von Ressourcen, die man aus den Sozialprodukten nimmt. Und insofern, glaube ich, war es Helmut Schmidt, der gesagt hat, man darf die Kuh nicht schlachten, die man melken will. Eine Sozialpolitik hängt immer am Tropf sozusagen der wirtschaftlichen Entwicklung. Wachstum ist eine Voraussetzung für Sozialpolitik. Aber die Sozialpolitik muss aus sich selbst heraus ihre Ziele definieren."

    So ist heute der moderne Sozialstaat gefragt, wo zu Beginn des Kapitalismus - wenn überhaupt - der Unternehmer gefragt war. Bestimmte Risiken des Lebens, wie Unfall, Krankheit und Armut sind durch die Sozialpolitik in die Gesellschaft verlagert worden.

    "Mit dieser sozialen Marktwirtschaft sind so Sachen verbunden wie Mitbestimmung. Wir haben die Montanmitbestimmung, also die paritätische Mitbestimmung in dieser Gründerzeiten der sozialen Marktwirtschaft durchgesetzt. Die gute alte Rentenversicherung ist ein Kind der Marktwirtschaft. Der Sozialstaat mit Rechten und Pflichten der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Tarifpartnerschaft, eine Selbstständigkeit der Lohnfindung, die nicht vom Staat diktiert wird. Das hat uns wohltuend unterschieden von der DDR und hat uns großen wirtschaftlichen Erfolg gebracht."''

    Der Begriff "soziale Marktwirtschaft" wird nach wie vor in der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft diskutiert. Auch wenn sie natürlich die Rahmenbedingungen vollkommen verändert haben.

    ""Sie ist aktuell in der Diskussion aber mehr in Bezug auf die Frage, ob sie als Idee eigentlich noch eine große Rolle spielt. Zwar wird der Begriff der sozialen Marktwirtschaft immer noch von allen verwendet, aber doch in einer sehr anderen Bedeutung. Weil viele der strukturellen Voraussetzungen, die notwendig waren, um diese Idee am Leben zu erhalten, heute so nicht mehr gegeben sind."

    An sich ist die soziale Marktwirtschaft ein deutsches Konstrukt, das in der besonderen Nachkriegssituation entstanden ist, erklärt Prof. Britta Rehder, Politologin an der Ruhr-Universität Bochum:

    "Diese Idee basierte auf starken Verbänden. Also sowohl auf der Arbeitgeberseite als auch auf der gewerkschaftlichen Seite, die gemeinsam die Wirtschaft auch steuern können durch eine entsprechende Tarifpolitik. Hier sehen wir eben auch, dass auf beiden Seiten die Verbände erodieren. Und das dritte Element war, das spielt im parteipolitischen Raum eine große Rolle, dass die soziale Marktwirtschaft, ja, sich einerseits so aus sozialdemokratischen Ideen speiste, aber eben auch aus der katholischen Soziallehre. Und von daher eben immer von der CDU auch mitgetragen wurde. Und das ist einfach ein soziales und auch kognitives Milieu, das heute nicht mehr so eine große Rolle spielt. Eben auch in der CDU nicht mehr."

    Ein Baustein der sozialen Marktwirtschaft ist der soziale Frieden. Dazu gehört zum Beispiel der vergleichsweise sanfte Umgang der Tarifpartner und ihre Tarifautonomie. Jahrzehnte lang galt der soziale Frieden - oft auch als Rheinischer Kapitalismus bezeichnet - als wichtiger Produktionsfaktor. Um diesen Faktor beurteilen zu können, zählen Sozialwissenschaftler vor allem die Streiktage in einem Land.

    "Und die Zahl der Streiktage in Deutschland ist nach wie vor im internationalen Vergleich ziemlich niedrig. Trotzdem nehmen die Streiks zu. Weil wir auf der einen Seite das Phänomen der Berufsgewerkschaften haben, die in eine starke Konkurrenz gehen zu den DGB-Gewerkschaften. Und versuchen, für ihre relativ kleinen Gruppen hohe Lohnabschlüsse zu erzielen durch ein aktives Streikvolumen. Auf der anderen Seite streiken aber auch die DGB-Gewerkschaften mehr oder häufiger. Eben auch, weil sich Arbeitgeber partiell zumindest aus der sozialen Partnerschaft verabschieden. Und man dann versucht, mit einer erhöhten Streikaktivität die zurückzuholen, um sie zu erinnern an die positiven Seiten des deutschen Modells."

    Der rheinische Kapitalismus hat als Begriff ausgedient. Auch die Idee der runden Tische scheint überholt. In vielen Teil ist der Verteilungskampf schärfer geworden - etwa durch Globalisierung und Privatisierung, durch das Aushebeln von Flächentarifverträgen und durch die hohe Arbeitslosigkeit. Es gibt immer mehr Menschen, die quasi aus der Gesellschaft rausfallen: Frank Schulz-Nieswandt:

    "Es gibt sicherlich eine zunehmende Gruppe der Gesellschaft, die dauerhaft ausgegrenzt ist. Das hat sehr viel mit Bildung zu tun und mit vielen sozialen Kompetenzen. Das hat zugenommen in allen Gesellschaften seit Mitte der 70-er-Jahre. Dann forciert 80er- und 90-er-Jahre"

    Der Sozialstaat kann nicht alle Probleme lösen. In den 70er-Jahren dachten viele der Sozialstaat sei ein "Alleskönner". Inzwischen weiß man: auch der Sozialstaat stößt an seine Grenzen. Das zeigt nicht zuletzt die Debatte um Hartz IV. Haben wir uns von dem Gedanken des sozialen Ausgleichs und des Zusammenhalts verabschiedet?
    Britta Rehder:

    "Was zugenommen hat, ist so ein liberales Denken. Also so Guido Westerwelle bringt das ja immer auf diese Formel "Sozial ist, was Arbeit schafft." Das ist ja ein sehr liberales Denken. Und das hat einerseits zugenommen. Andererseits sehen wir aber auch, dass Hartz-IV nach wie vor sehr umstritten ist. Und vieles, was heute nicht mehr in der politischen Arena ausgetragen wird, wird ja heute vor den Sozialgerichten ausgetragen. Das ist ja im Grunde die Fortsetzung der politischen Auseinandersetzung mit anderen Mitteln. Von daher würde ich sagen, die Frage, ob wir uns davon verabschiedet haben oder was heute sozial heißt, ist nicht beantwortet. Sondern unterliegt nach wie vor der dauerhaften Auseinandersetzung."

    Im internationalen Vergleich ist eine Sozialleistungsquote von rund 30 Prozent normal. Deutschland befindet sich bei den Transferleistungen also im Mittelfeld erklärt Prof. Schulz-Nieswandt. Er ist überzeugt, dass hierzulande über die Notwendigkeit einer sozial abgefederten Gesellschaft Konsens besteht. Gestritten wird in seinen Augen im Detail.

    "Und wenn man da reingeht, ist es aber auch nicht so, dass irgendjemand die Wahrheit gepachtet hat. Also wenn sie mal nehmen, nehmen wir mal das Gesundheitswesen, Neugestaltung des Gesundheitswesens. Es gibt viele viele Fragen, auf die auch die Wissenschaft keine eindeutigen und perfekten Antworten liefert."

    Die Diskussion dreht sich vor allem um die Frage, wie weit soll der Staat eingreifen? Während Neoliberale an den Markt und seine Regel-Kraft glauben, setzen andere auf einen Staat der umverteilt. Für diese Gruppe ist die Idee der sozialen Marktwirtschaft deshalb nach wie vor aktuell. Britta Rehder:

    "Ich persönlich würde sagen, es ist immer noch aktuell. Weil eine große Gesellschaft ohne bestimmte soziale Ausgleichsmechanismen und soziale Umverteilung schlichtweg nicht funktionieren wird. Und wir sehen ja, dass viele der liberalen Programme grandios scheitern. Also ich meine gerade Hartz-IV ist ja ein schönes Beispiel. Damit treibt man die Leute jetzt alle vors Gericht. Dass das nun ein schönerer Mechanismus des Konfliktausgleichs ist, kann ich nicht erkennen."

    Kritiker halten die Idee der soziale Marktwirtschaft dennoch für ein Auslaufmodell. Norbert Blüm bestreitet das:

    "Wir müssen heute die soziale Marktwirtschaft in größeren Dimensionen umsetzen als dies Ludwig Erhard und Müller-Armack tun mussten. Damals hat das nationale Spielfeld ausgereicht. Heute müssen wir in größeren Dimensionen denken und handeln. Die erste Bewährungsprobe ist Europa. Da haben wir es leider nicht, bis jetzt nicht geschafft."

    Denn Europa, so der CDU-Politiker, ist weitgehend nur eine Wirtschaftseinheit und keine Ordnungseinheit, wie sich das Alfred Müller-Armack sicherlich gewünscht hätte.

    Und was würde der Wirtschaftswissenschaftler wohl heute angesichts von Hartz IV und Globalisierung weiter raten? Prof. Schulz Nieswandt spekuliert:

    "Ich wünschte bei seiner Anerkennung, die er hatte, dass er deutlich sagen würde: Wir dürfen in der Liberalisierung und in der Privatisierung der Lebensrisiken nicht zu weit gehen. Er würde aber wahrscheinlich als konservativer Christdemokrat sagen: Wir müssen aber darauf achten, dass wir die Anreize nicht falsch setzen. Dass die Menschen noch motiviert sind, zunächst mal ihre bürgerliche Existenz durch eigene Leistungen aufzubauen."